Lesen Sie den Bibeltext beobachtend – Die erste Phase der Exegese [Teil 5]

Von Thomas Powilleit

Homiletik, Predigt
Oktober 19, 2018

Wer Augen hat, der analysiere

Rou­ti­nier­te Ver­kün­di­ger haben ihre Rou­ti­ne bei der Vor­be­rei­tung einer Pre­digt oft über Jah­re erar­bei­tet und opti­miert. Im letz­ten Bei­trag habe ich dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass ein sys­te­ma­ti­scher und zeit­lich begrenz­ter Ablauf die Effi­zi­enz stei­gert. Es lohnt sich immer wie­der zu fra­gen, was mache ich genau und war­um mache ich es auf die­se Wei­se. Nach vier ein­füh­ren­den Beiträgen

  1. Ret­tet die Predigt
  2. Pre­di­ger, bleib bei der Bibel
  3. So fin­den Sie den rich­ti­gen Pre­digt­text für den nächs­ten Sonntag
  4. Im Anlauf zur Aus­le­gung – so gehen Sie die Pre­digt­vor­be­rei­tung rich­tig an

tau­chen wir jetzt in die kon­kre­te Pre­digt­vor­be­rei­tung ein.

Die Predigtvorbereitung hat zwei Phasen

Eine Pre­digt­vor­be­rei­tung besteht aus zwei gro­ßen Pha­sen. Zuerst ver­sucht man so vie­le Fak­ten wie mög­lich über den Bibel­text zu sam­meln, über den man pre­digt. Erst in einer wei­te­ren Pha­se beschäf­tigt man sich inten­si­ver mit den Zuhö­rern. Der Pre­di­ger hat also immer das Wort und die Zuhö­rer im Blick. Des­halb muss er das, was er als Ver­kün­di­ger in der ers­ten Pha­se über den Text erfah­ren hat, so auf­be­rei­ten, dass die Bot­schaft in den All­tag der Zuhö­rer spre­chen kann.

Got­tes Wort will den Zuhö­rern hel­fen, ihr Leben zu ver­än­dern. Dabei ist klar: Wenn Gott die Wor­te des Ver­kün­di­gers nicht durch sei­nen Geist ins Leben der Zuhö­rer reden lässt, ist alles Pre­di­gen umsonst. Der Unter­schied zwi­schen einer Pre­digt, die berührt und einer, die es nicht tut, liegt vor allem am Wir­ken des Hei­li­gen Geis­tes.1

Phase 1 – Exegese

In die­sem Blog­bei­trag beschäf­ti­gen wir uns zunächst mit der ers­ten Pha­se der Pre­digt­vor­be­rei­tung. Die­se Pha­se heißt Exege­se. Das erklär­te Ziel einer Exege­se ist, die ursprüng­li­che Absicht des Autors wie­der­zu­ge­ben. Man könn­te auch sagen: In der Exege­se bemüht sich der Ver­kün­di­ger, Got­tes Gedan­ken nach zu den­ken. Dazu beschäf­tigt er sich mit den Fak­ten, mit den Argu­men­ten oder Bege­ben­hei­ten, die im Text selbst stehen.

Bibel­tex­te sind ver­gleich­bar mit Geset­zes­tex­ten. Die­se kön­nen auch nicht irgend­wie aus­ge­legt wer­den. Ver­schie­de­ne Juris­ten wer­den eine gro­ße Schnitt­men­ge haben, wenn es um die Fra­ge geht, was die ursprüng­li­che Absicht des Tex­tes ist. Zum Bei­spiel gibt § 1312 BGB vor:

Der Stan­des­be­am­te soll bei der Ehe­schlie­ßung die Ehe­schlie­ßen­den ein­zeln befra­gen, ob sie die Ehe mit­ein­an­der ein­ge­hen wol­len, und, nach­dem die Ehe­schlie­ßen­den die­se Fra­ge bejaht haben, aus­spre­chen, dass sie nun­mehr kraft Geset­zes recht­mä­ßig ver­bun­de­ne Ehe­leu­te sind. Die Ehe­schlie­ßung kann in Gegen­wart von einem oder zwei Zeu­gen erfol­gen, sofern die Ehe­schlie­ßen­den dies wünschen.

Jeder Jurist erkennt sofort: Bei­de Ehe­leu­te müs­sen öffent­lich gefragt wer­den, ob sie ein­an­der hei­ra­ten wol­len. Wenn sie wol­len, kön­nen sie Trau­zeu­gen zu die­sem Ver­spre­chen ein­la­den. Aber es gibt in die­sem Text auch Din­ge, die man ver­schie­den hand­ha­ben kann. Die Wor­te, mit denen man das Paar um ein Ehe­ver­spre­chen bit­tet und der atmo­sphä­ri­sche Rah­men wer­den im Gesetz nicht fest­ge­legt. Die kann jeder Stan­des­be­am­te selbst bestimmen.

Auch Bibel­tex­te kann man nicht belie­big aus­le­gen. Ver­schie­de­ne Ver­kün­di­ger wer­den bei dem­sel­ben Text zu ähn­li­chen Ergeb­nis­sen kom­men wenn es um die ursprüng­li­che Absicht des Tex­tes und die grund­sätz­li­che Anwen­dung geht. Aber abhän­gig von der spe­zi­el­len Zuhö­rer­grup­pe kön­nen wei­te­re Anwen­dun­gen des Tex­tes teil­wei­se ver­schie­den sein. Ein Bibel­text hat also eine Absicht und Bedeu­tung, kann aber auf ver­schie­dens­te Situa­tio­nen ange­wen­det werden.

Die Gefahr, nur zu sehen und nicht zu beobachten

Für jeden, der schon län­ger pre­digt, ist das eine Bin­sen­weis­heit, dass der Text eine Absicht und Bedeu­tung hat, aber ver­schie­den ange­wen­det wer­den kann. Doch es bleibt eine Her­aus­for­de­rung, so lan­ge wie mög­lich beim Text selbst zu blei­ben und sich nicht zu schnell mit den eige­nen Schluss­fol­ge­run­gen und Inter­pre­ta­tio­nen zu beschäf­ti­gen. Mir gefällt ein Ver­gleich von David Helm2. Er nennt das „Hin­ein­le­sen“ (auch Eise­ge­se genannt) der eige­nen Gedan­ken in den Text „Impres­sio­nis­ti­sches Predigen“.

Der Impres­sio­nis­mus ist eine Kunst­rich­tung, die Bil­der her­vor­bringt, in der die Ein­drü­cke von der Wirk­lich­keit ent­schei­den­der sind, als die Wirk­lich­keit selbst. Die Bil­der mögen gut aus­se­hen, doch wo der rea­lis­ti­sche Maler zehn­mal hin­ge­schaut und einen Strich gemalt hat, schaut der impres­sio­nis­ti­sche Maler ein­mal hin und malt zehn Stri­che, die aber die Wirk­lich­keit verzerren.

Monet nann­te den Son­nen­auf­gang von Le Hav­res „Impres­si­on“. Die­ses Wort haben Kri­ti­ker benutzt, um die­se Art von Bil­der impres­sio­nis­ti­sche Bil­der zu nennen.

Impression, Sonnenaufgang (Claude Monet)

Hier sind vor allem Ein­drü­cke wie­der­ge­ge­ben, auch wenn sie nicht ganz der Rea­li­tät ent­spre­chen. Des­halb durf­ten die Wer­ke von Monet auch nicht im „Salle de Paris” aus­ge­stellt wer­den, da sie die Wirk­lich­keit nicht so getreu wie­der­ga­ben wie die Wer­ke des Realismus

Exegese statt Eisegese

Im Blick auf den Bibel­text müs­sen wir Rea­lis­ten und kei­ne Impres­sio­nis­ten sein. Als Pre­di­ger sind wir dazu beru­fen, Got­tes Wort zu pre­di­gen, und nicht nur unse­re Ein­drü­cke über den Text wiederzugeben.

Um ein ande­res Bild zu gebrau­chen: Wie Kri­mi­nal­be­am­te ihren Tat­ort beob­ach­ten, so müs­sen wir als Ver­kün­di­ger unse­ren Text genau beob­ach­ten. Das kön­nen wir nur durch inten­si­ves Lesen. Tref­fend hat Howard Hendricks gezeigt, dass Sehen nicht das Glei­che ist, wie Beobachten.

Um das deut­lich zu machen stellt Hendricks Fra­gen wie:

  • Wie vie­le Trep­pen­stu­fen hat das Gebäu­de, dass du regel­mä­ßig betrittst?
  • Wie vie­le Ver­kehrs­am­peln gibt es auf dem Weg zu dei­ner Arbeit?
  • Beschrei­be alle Merk­ma­le auf der Rück­sei­te eines 10 Euro Scheines.

Man könn­te hin­zu­fü­gen: Wel­che Socken hat dein(e) Freund(in) getra­gen, als du ihn oder sie das letz­te Mal gese­hen hast?3 Das sind Din­ge, die wir schon oft gese­hen haben, aber genau beob­ach­tet haben wir sie nicht.

Lesen ist der Schlüssel, um genau zu beobachten

Für einen Ver­kün­di­ger reicht es nicht aus, den Bibel­text nur ober­fläch­lich zu erfas­sen. Es geht dar­um, ihn inten­siv zu beob­ach­ten, um die Fra­ge zu beant­wor­ten: Was steht tat­säch­lich da? Und um her­aus­zu­fin­den: Was woll­te der Autor den ursprüng­li­chen Emp­fän­gern sagen?

Um Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen zu bekom­men, soll­te man sich den Pre­digt­text wie­der und wie­der aus einer wort­ge­treu­en Über­set­zung laut vor­le­sen. Was man zusätz­lich noch hört, prägt sich ein­fach bes­ser ein. Mit die­sem ers­ten Schritt der Vor­be­rei­tung macht man sich auf die Suche nach wich­ti­gen Details, die die Tür zur Pre­digt öff­nen kön­nen. Dabei ist es wich­tig, Gott dar­um zu bit­ten, dass ER die Augen für die­se Details im Text öff­net. Ein hilf­rei­ches Gebet ist Ps 119,18: „Öff­ne mei­ne Augen, damit ich schaue die Wun­der in dei­nem Gesetz“.

Das inten­si­ve Lesen eines Tex­tes kann gar nicht oft genug betont wer­den. Der Herr Jesus selbst for­dert sei­ne Zuhö­rer her­aus, bibli­sche Tex­te genau zu lesen (Lk 10,26). Pau­lus gibt Timo­theus den Rat, die Schrift vor­zu­le­sen (1Tim4,13). Von Adolf Schlat­ter, dem bekann­ten Bibel­leh­rer weiß man, dass er sei­ne Ant­wort auf theo­lo­gi­sche Fra­gen sei­ner Stu­den­ten oft mit dem Satz ein­lei­te­te: „Mei­ne Her­ren, sie kön­nen nicht lesen …“.

Ich las von Bibel­schul­leh­rern, die ihren Schü­lern den Auf­trag gaben, auf der Grund­la­ge von ein paar Bibel­ver­sen mög­lichst vie­le Fra­gen zu stel­len. Das kann eine hilf­rei­che Übung sein, auf­grund von zehn Ver­sen aus dem Römer­brief fünf­zig Fra­gen über die­sen Text­ab­schnitt zu for­mu­lie­ren. Dabei reicht es völ­lig aus, zunächst ein­fach nur zu beob­ach­ten und Fra­gen zu stel­len ohne zu ver­su­chen, sofort Ant­wor­ten zu finden.

Fragen stellen, um den Bibeltext zu beobachten

Um kon­kre­te Fra­gen an den Text zu stel­len, braucht man nur eine ver­trau­te Über­set­zung in LOGOS auf­zu­ru­fen, und mit einem Rechts­klick das Kon­text­me­nü öffnen.

Dort wählt man aus „Eine Notiz in … anle­gen“. So kann man alle Fra­gen die man hat, über­sicht­lich erfassen.

Notitzen in Logos aufschreiben

Wer lie­ber noch mit Papier arbei­tet, kann den Bibel­text kopie­ren und sei­ne Fra­gen direkt neben den Text schrei­ben. Wich­tig ist nur, dass man die auf­kom­men­den Fra­gen doku­men­tiert, um sie spä­ter bear­bei­ten zu können.

Fragen, die weiterhelfen können

Hendricks gibt sei­nen Lesern sechs Fra­gen an die Hand, die hel­fen, einen Text gut zu beob­ach­ten.4 Die­se Fra­gen sind:

  • WER sind die Men­schen im Text? Wie han­delt die­se Per­son? Was wird über sie gesagt?
  • WAS pas­siert im Text? Was ver­sucht der Schrei­ber sei­nen Lesern mitzuteilen?
  • WO geschieht die Hand­lung und wo kom­men die Men­schen her, um die es geht?
  • WANN fin­det die Hand­lung statt oder in wel­cher Rei­hen­fol­ge – wel­ches Ereig­nis war vor­her, wel­ches wird noch kommen?
  • WARUM steht die­se Aus­sa­ge im Text? Die­se Fra­ge unter­sucht den Text mehr als jede ande­re und gibt die Mög­lich­keit, neue Ein­sich­ten zu bekommen.
  • WOZU steht die­se Aus­sa­ge im Text? Wel­che Absicht ver­folgt Gott damit in mei­nem Leben? Die­se Fra­ge for­dert mich her­aus, zu handeln.

Um sei­nen Blick für Auf­fäl­lig­kei­ten zu schär­fen, kann man im Text nach fol­gen­den Din­gen Aus­schau halten:

  • Was wird betont? (z.B. wenn die­sem Gedan­ken oder Ereig­nis viel Platz in dem Text ein­ge­räumt wird)
  • Was wird wie­der­holt? (z.B. wenn ein Wort immer wie­der gebraucht oder ein Ort stän­dig genannt wird)
  • Was ist ver­bun­den? (Wenn Din­ge in einem Zusam­men­hang oder in einer Wech­sel­be­zie­hung stehen)
  • Was ist ähn­lich oder ver­schie­den? (Die­se Din­ge sind an Signal­wör­tern wie „wie“ oder „aber“ zu erkennen)
  • Was ist lebens­nah? (Wo sind Situa­tio­nen sehr ver­gleich­bar mit unse­rem Alltag?)

Den Bibeltext erleben

Letzt­lich ist das Ziel die­ser Fra­gen, sich die geschil­der­te Situa­ti­on bes­ser vor­stel­len zu kön­nen und sie gedank­lich mit­zu­er­le­ben. Mit dem inne­ren Auge zum Bei­spiel zu sehen, wie die Jün­ger, von der Angst gepackt, glaub­ten, sie gehen mit ihrem Boot unter. Oder, das ver­brann­te Opfer­fleisch auf dem Altar in der eige­nen Vor­stel­lung zu rie­chen. Oder, die höh­ni­schen Wor­te des Goli­ath zu hören.

Um es zu üben, sich in Situa­tio­nen hin­ein­zu­den­ken, kann es auch hilf­reich sein, den Text mit der “gro­ßen Hör­bi­bel” zu hören. Dort sind dra­ma­tur­gi­sche Ele­men­te ein­ge­baut, die den Hörer sehr gut in man­che Situa­tio­nen hin­ein­neh­men und sie so dem Ver­kün­di­ger selbst ver­ständ­li­cher machen.

Wer gut Eng­lisch kann, könn­te auch auf die dra­ma­tur­gi­sche ESV Über­set­zung bei www​.bible​.is zurückgreifen.

Wer den Text gedank­lich mit­er­lebt hat, wird einen Blick für die Details bekom­men, die oft über­se­hen wer­den und dar­über pre­di­gen kön­nen. Um eine Ahnung davon zu bekom­men, wie das in der Pra­xis aus­se­hen kann, emp­feh­le ich Pre­di­gen über Tex­te aus den Evan­ge­li­en von Theo Leh­mann anzuhören.

Die­ser Pfar­rer kann sei­ne Zuhö­rer mit in die Situa­tio­nen hin­ein­neh­men, weil er sie zuvor gedank­lich selbst erlebt hat. Das ist das Ergeb­nis davon, wenn man Bibel­tex­te beob­ach­tend liest und sich in die geschil­der­te Situa­ti­on oder Argu­men­ta­ti­on hin­ein denkt. Pre­dig­ten von Theo Leh­mann gibt es z.B. hier.


1. Timo­they Kel­ler, Prea­ching, Viking, New York, 2015, S. 11.

2. David Helm, Die Aus­le­gungs­pre­digt, Beta­ni­en Ver­lag, Wald­ems, 2018, S. 16ff.

3. Howard G. Hendricks, Bibel­le­sen mit Gewinn, Christ­li­che Ver­lags­ge­sell­schaft, Dil­len­burg, 2017 (7.Auflage), S. 56.

4. Howard G. Hendricks, Bibel­le­sen mit Gewinn, Christ­li­che Ver­lags­ge­sell­schaft, Dil­len­burg, 2017 (7.Auflage), S. 153ff.


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Thomas Powilleit

Über den Autor

Thomas Powilleit ist Pastor der evangelischen Freikirche „Evangelium für Alle“ in Stuttgart (www.efa-stuttgart.de). Neben seinen Aufgaben dort ist er überörtlich vor allen Dingen im Rahmen des gleichnamigen Netzwerkes „Evangelium für Alle“ zu Seminaren und ausgewählten Einzelveranstaltungen unterwegs.

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