Rezension: Das Evangelium nach Markus (ThHK)

Von Veronika Burz-Tropper

Exegese, Kommentar, Markusevangelium, ThHK
Vor 2 Wochen

Das Mar­kus­evan­ge­li­um ist das kür­zes­te Evan­ge­li­um in der Bibel. Es wird zwar weni­ger häu­fig als die ande­ren Evan­ge­li­en aus­ge­legt und auch weni­ger in Theo­lo­gie, Lit­ur­gie, Kunst, Lite­ra­tur und Musik rezi­piert, gilt aber als das ältes­te. Das mach­te es zu einer wich­ti­gen Quel­le für Mat­thä­us und Lukas und auch Johan­nes dürf­te sein eige­nes Evan­ge­li­um nicht unab­hän­gig von Mar­kus ver­fasst haben. Die vor­lie­gen­de Rezen­si­on 1 befasst sich mit dem Kom­men­tar von Tho­mas Söding zum Mar­kus­evan­ge­li­um, der in der Rei­he „Theo­lo­gi­scher Hand­kom­men­tar zum Neu­en Tes­ta­ment” erschien.

Lese­zeit: ca. 10 Minuten

Über den Autor

Tho­mas Söding ist eme­ri­tier­ter katho­li­scher Neu­tes­ta­ment­ler der Ruhr-Uni­ver­si­tät Bochum und war von 2004 bis 2014 Mit­glied der Inter­na­tio­na­len Theo­lo­gi­schen Kom­mis­si­on im Vati­kan. Er ist Bera­ter der Glau­bens­kom­mis­si­on der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz und war bis 2023 Kon­sul­tor des Päpst­li­chen Rates (heu­te: Dik­as­te­ri­ums) für die Neue­van­ge­li­sie­rung. Tho­mas Söding ist stän­di­ger Gast im Kam­mer­netz­werk der EKD und Vize­prä­si­dent des Zen­tral­ko­mi­tees deut­scher Katho­li­ken und des Syn­oda­len Weges. Er ist theo­lo­gi­scher Exper­te der Welt­syn­ode der katho­li­schen Kir­che 2021–2024.

Im Vor­wort zu sei­nem Kom­men­tar hält er ein­gangs fest: 

Das Mar­kus­evan­ge­li­um war mei­ne ers­te gro­ße Lie­be. Die Arbeit am Kom­men­tar hat sie nicht erkal­ten las­sen, son­dern ver­tieft.“ (S. v). 

Mit die­sem per­sön­li­chen State­ment gibt Tho­mas Söding sein lang­jäh­ri­ges, bereits mit der in Müns­ter ent­stan­de­nen Dis­ser­ta­ti­on (Glau­be bei Mar­kus: Glau­be an das Evan­ge­li­um, Gebets­glau­be und Wun­der­glau­be im Kon­text der mar­k­in­i­schen Basi­lei­a­theo­lo­gie und Chris­to­lo­gie, SBB 12, Stutt­gart: Katho­li­sches Bibel­werk 21987) begin­nen­des exege­ti­sches Inter­es­se am ältes­ten Evan­ge­li­um zu erken­nen. Neben der Dis­ser­ta­ti­on sind u. a. die fol­gen­den Wer­ke zu nen­nen: Der Evan­ge­list als Theo­lo­ge: Stu­di­en zum Mar­kus­evan­ge­li­um, SBS 163, Stutt­gart: Katho­li­sches Bibel­werk 1995 sowie Exege­se und Pre­digt. Das Mar­kus-Evan­ge­li­um: Anre­gun­gen zum Lese­jahr B, Würz­burg: Ech­ter 2002. Es scheint daher sehr nahe­lie­gend, ihm die Kom­men­tie­rung des ältes­ten Evan­ge­li­ums im renom­mier­ten Theo­lo­gi­schen Hand­kom­men­tar zum Neu­en Tes­ta­ment anzuvertrauen.

Der Aufbau des Markusevangeliums

Dem gän­gi­gen Kom­men­tar­auf­bau fol­gend bie­tet Söding ein­gangs eine ein­füh­ren­de gut struk­tu­rier­te Ein­lei­tung, die sich zunächst mit den lite­ra­ri­schen Aspek­ten, wie Auf­bau, Gat­tung etc., beschäf­tigt (S. 1–5) und sodann die klas­si­schen ein­lei­tungs­wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen (S. 6–9) behan­delt und mög­li­che Quel­len des Mar­kus­evan­ge­li­ums erör­tert (S. 9–12). Die Ein­lei­tung abschlie­ßend wer­den gegen­wär­ti­ge Per­spek­ti­ven der Deu­tung des Mar­kus­evan­ge­li­ums gebo­ten sowie Södings eige­ner inter­pre­ta­to­ri­scher Zugang erläu­tert (S. 12–18).

Den Auf­bau des ältes­ten Evan­ge­li­ums erklärt Söding vor­wie­gend nach geo­gra­fi­schen Gesichts­punk­ten, die auch Zeit­fak­to­ren berück­sich­ti­gen. Södings glie­dert wie folgt:

Mk 1,1

Über­schrift

Mk 1,2–15

Ein­füh­rung

Mk 1,16–4,34

Jesu Wir­ken in und um Kapharnaum

Mk 4,35–8,26

Jesu Wir­ken in Gali­läa und dar­über hinaus

Mk 8,27–10,52

Jesu Weg nach Jerusalem

Mk 11–13

Jesu Wir­ken in Jerusalem

Mk 14–16

Jesu Pas­si­on und Auferstehung

Nach Über­schrift (1,1) und pro­gram­ma­ti­scher Ein­lei­tung (1,2–15) sieht Söding also eine Struk­tur von fünf Haupt­tei­len. For­schungs­ge­schicht­lich bemer­kens­wert ist die Zäsur vor Mk 4,35, begrün­det mit der Aus­wei­tung des Wir­kens Jesu inner­halb Gali­lä­as und dar­über hin­aus. Meist wird ein ers­ter Haupt­teil zum vor­wie­gend gali­läi­schen Wir­ken bis 8,26 angesetzt.

War Markus der Autor des Markusevangeliums?

Nach Söding wur­de das Mar­kus­evan­ge­li­um anonym ver­fasst, die Zuschrei­bung an einen Mar­kus ist zwar alt (dafür wird auf die Evan­ge­li­en­über­schrif­ten ver­wie­sen), jedoch sekundär:

Die inscrip­tio ‚(Evan­ge­li­um) nach Mar­kus‘ zeigt an, dass das Buch des Evan­ge­lis­ten nicht mit dem ‚Evan­ge­li­um Jesu Chris­ti‘ iden­tisch ist, das im Titel (Mk 1,1) ange­kün­digt wird. Es ist viel­mehr die Ver­ge­gen­wär­ti­gung die­ses Evan­ge­li­ums in Form einer Erzäh­lung. Damit wird es zur his­to­ri­schen Quel­le (unter anti­ken Bedin­gun­gen) und zum theo­lo­gi­schen Grund­do­ku­ment (unter urchrist­li­chen Vorzeichen)“(S. 6)

Die alt­kirch­li­che Tra­di­ti­on von Mar­kus als Petrus­be­glei­ter – allen vor­an das Zeug­nis des Papi­as – dien­te der apos­to­li­schen Ver­an­ke­rung des Buches und wur­de aus 1 Petr 5,13 her­aus­ent­wi­ckelt. Als Ver­fas­ser nimmt Söding einen hel­le­nis­ti­schen Juden­chris­ten an, „weil er in der Lage ist, sach­ge­recht über Judai­ca zu infor­mie­ren, rich­tig zu über­set­zen und die Schrift­re­fle­xi­on poin­tiert zu plat­zie­ren“. (S. 7) Söding weist aller­dings auch auf Infor­ma­tio­nen des Evan­ge­lis­ten aus dem engs­ten Umkreis Jesu hin, wenn er fest­stellt: „Mar­kus hat Zugang zu alten Jesus­tra­di­tio­nen gehabt, auch sol­chen aus dem Zwöl­fer­kreis und von Petrus. Die­se Spur liegt der Tra­di­ti­on zugrun­de, die sie neu arran­giert hat.“ (S. 7)

Zielgruppe des Markusevangeliums

Das anony­me Werk des hel­le­nis­ti­schen Juden Mar­kus wen­det sich an eine vor­wie­gend, aber nicht aus­schließ­lich hei­den­christ­li­che Gemein­de, die Ori­en­tie­rung sucht, mis­sio­na­risch tätig ist und deren Kon­flik­te mit dem pha­ri­säi­schen Juden­tum in der Dar­stel­lung jüdi­scher Eli­ten deut­li­che Spu­ren hin­ter­las­sen haben. Geschrie­ben wur­de das Werk wäh­rend des jüdisch-römi­schen Krie­ges in den Jah­ren 66–70. Für Söding war des­sen Ende früh abseh­bar, sodass Mk 13 nicht – wie sonst häu­fig in der Mar­kus- bzw. Evan­ge­li­en­for­schung gene­rell der Fall – in unmit­tel­ba­re Nähe zur Zer­stö­rung des Jeru­sa­le­mer Tem­pels im Som­mer des Jah­res 70 gerückt wer­den muss.

Abfassungsort

Da Rom als tra­di­tio­nell ver­tre­te­ner Abfas­sungs­ort an die Papiasno­tiz gebun­den bleibt, die­se jedoch nicht als his­to­risch trag­fä­hig ange­se­hen wer­den kann, plä­diert Söding (mit vie­len ande­ren in der Mar­kus­for­schung, die in den Osten ten­die­ren anstatt zur Haupt­stadt) für „ein[en] Ort in grö­ße­rer Nähe zu Gali­läa, im Osten des Impe­ri­ums, etwa Syri­en oder doch eher Alex­an­dri­en“ (S. 9). War­um gera­de Alex­an­dri­en als beson­ders wahr­schein­lich ein­ge­stuft wird, lässt Söding – außer durch den Ver­weis auf die Alte Kir­che – lei­der unbegründet.

Quellen des Markusevangeliums

Was die vom Autor Mar­kus ver­wen­de­ten Tra­di­tio­nen betrifft, kann man nach Söding davon aus­ge­hen, dass die­ser neben Ein­zel­tra­di­tio­nen wahr­schein­lich einen alten Pas­si­ons­be­richt sowie Samm­lun­gen von Streit­ge­sprä­chen (Mk 2,1–3,6) und Para­beln (Mk 4,3–8.26–29.30–32) sowie die End­zeit­re­de vor­lie­gen hat­te. Die­se Grund­la­gen hat er zu einer span­nungs­vol­len Ein­heit von Tra­di­tio­nen des öffent­li­chen Wir­kens und des ohn­mäch­ti­gen Lei­dens Jesu ver­bun­den. In Form einer dra­ma­ti­schen Erzäh­lung ent­wi­ckelt der ers­te Evan­ge­list so eine theo­lo­gi­sche Deu­tung Jesu, die als „Schu­le des Glau­bens“ (17) zur Nach­fol­ge ruft.

Interpretatorische Zugänge zum Markusevangelium

Vor der eigent­li­chen Aus­le­gung des Tex­tes bie­tet die Ein­lei­tung noch einen äußerst instruk­ti­ven Über­blick über gegen­wär­ti­ge inter­pre­ta­to­ri­sche Zugän­ge zum Mar­kus­evan­ge­li­um, denen sich auch Söding selbst im Bekennt­nis zur Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät beim Arbei­ten als Exeget ver­pflich­tet sieht: 

Heu­te gilt es, Tra­di­tio­nen und Redak­tio­nen stär­ker als Ein­heit zu sehen, im Evan­ge­li­um als Erzäh­lung eine genui­ne Form der Theo­lo­gie zu sehen und nicht nur die Inten­ti­on des Autors, son­dern auch die Rezep­ti­on der Lese­ge­mein­den und den Sinn des Tex­tes selbst zu eru­ie­ren.“ (S. 12)

Einer zu stark poin­tier­ten poli­ti­schen (apo­lo­ge­tisch oder sub­ver­siv akzen­tu­ier­ten) wie sozi­al­ge­schicht­li­chen Deu­tung des ältes­ten Evan­ge­li­ums erteilt Söding eine deut­li­che Absa­ge („pro­ble­ma­tisch“, S. 13). Sei­ne Skep­sis beruht vor allem auf dem Ver­ständ­nis von Mk 10,41–45 einer­seits und Mk 12,13–17 ande­rer­seits (13.433; die Legio X Fre­ten­sis war „nie in der Deka­po­lis sta­tio­niert“, 151 Anm. 229). Unter­stri­chen wird ein­mal mehr die Glau­bens­di­men­si­on der mar­k­in­i­schen Jesusdarstellung: 

Das Mar­kus­evan­ge­li­um ist zeit­sen­si­bel und anspie­lungs­reich, aber nicht im Sinn einer Kir­che als Kon­trast­ge­sell­schaft, son­dern als ‚Haus des Gebe­tes‘ (Mk 11,17; Jes 56,7), das mit­ten in der Welt Got­tes- und Nächs­ten­lie­be ver­eint (Mk 12,28–34).“ (S. 14)

Christologie als Zentrum der narrativen Theologie im Markusevangelium

Im Zen­trum der nar­ra­ti­ven Theo­lo­gie, die das ältes­te Evan­ge­li­um bie­tet, sieht Söding durch­aus zu Recht die Chris­to­lo­gie, der Blick auf sie bil­det daher den Can­tus fir­mus sei­nes Kom­men­tars. Ein­drück­lich wird auf S. 16 festgehalten:

In Form einer dra­ma­ti­schen Erzäh­lung ent­wi­ckelt Mar­kus eine fun­da­men­ta­le theo­lo­gi­sche Deu­tung der Per­son, des Wir­kens, des Lei­dens und der Auf­er­ste­hung Jesu. Er zeigt einer­seits, dass der voll­mäch­ti­ge Wun­der­tä­ter und Leh­rer Jesus nur von sei­nem Tod und sei­ner Auf­er­we­ckung her ver­stan­den und geglaubt wer­den kann, weil er von Anfang an in jener Unbe­dingt­heit der Hin­ga­be sei­nen Dienst der Ver­kün­di­gung leis­tet (Mk 10,45), die er in sei­ner Pas­si­on besie­gelt, und weil er von Anfang an in jener Unbe­dingt­heit der Lie­be Got­tes lebt (Mk 1,11), die sich in der Sen­dung (Mk 12,1–12) und Auf­er­we­ckung des Soh­nes (Mk 9,31; 10,32ff.) letzt­gül­tig ereig­net. Ande­rer­seits zeigt Mar­kus, dass Jesus kei­nen ande­ren Tod als den des in die Welt gesand­ten Got­tes­soh­nes stirbt, auf dass aus dem Bösen das Bes­te fol­ge (Mk 12,1–12); des­halb ist die Ver­kün­di­gung des Todes und der Auf­er­we­ckung Jesu blei­bend dar­auf ange­wie­sen, immer wie­der Jesus in Erin­ne­rung zu rufen, den Boten der Basi­leia. Die chris­to­lo­gi­sche Grund­span­nung der Tra­di­tio­nen, die Mar­kus auf­ge­nom­men hat, wird im Evan­ge­li­um nicht abge­baut, son­dern auf­ge­baut, weil sich die Voll­macht von der Ohn­macht Jesu her erklärt, die sei­ne Hin­ga­be prägt, so wie sich auch sei­ne Auf­er­ste­hung aus sei­ner irdi­schen Sen­dung erklärt. Dafür ist die Theo­zen­trik der Basi­leia wesent­lich. In der Lie­be Got­tes geht Jesus sei­nen Weg und stirbt sei­nen Tod; in der Lie­be zu sei­nem Sohn weckt Gott ihn von den Toten auf, wie er ihn gesandt hat, um die Nähe sei­nes Rei­ches zu verkünden.”

Mit den fol­gen­den Sät­zen beschließt Söding sei­ne Einleitung:

Mar­kus schreibt sein Evan­ge­li­um in der Her­me­neu­tik des Glau­bens, die er mit sei­ner Gemein­de teilt und auf Jesus selbst zurück­führt. Er unter­streicht das Ver­sa­gen der Jün­ger nicht, um Macht­kämp­fe in der jun­gen Kir­che aus­zu­lö­sen oder zu ent­schei­den, son­dern um die per­ma­nen­te Anfech­tung, Schwä­che und Ohn­macht der Men­schen, die an Jesus glau­ben, in ein Wech­sel­ver­hält­nis zur Macht und zum Dienst Jesu zu stel­len, dem sie sich anver­trau­en dür­fen. Mar­kus erin­nert an das Ver­sa­gen der Jün­ger, weil es der stän­di­ge Weg­be­glei­ter der Gläu­bi­gen durch alle Zeit hin­durch sein wird – ohne dass in den mensch­li­chen Schwä­chen und Sün­den das Evan­ge­li­um selbst kraft­los wür­de. Stark ist viel­mehr Gott, der mit Jesus einen ‚Anfang‘ macht (Mk 1,1), den der auf­er­stan­de­ne Jesus Chris­tus selbst immer wie­der ver­ge­gen­wär­tigt.” (S. 18)

Södings Auslegung des Markusevangeliums

Der umfang­rei­che Teil zur eigent­li­chen Text­aus­le­gung (S. 19–467) glie­dert den Text des ältes­ten Evan­ge­li­ums in ent­spre­chen­de Erzähl­ein­hei­ten. Die Peri­ko­pen, die zunächst in deut­scher Über­set­zung wie­der­ge­ge­ben wer­den, wer­den in der Regel in einem Drei­schritt von Glie­de­rung, Ein­zel­ex­ege­se und his­to­ri­scher Rück­fra­ge inter­pre­tiert. Kom­po­si­ti­ons­bö­gen wer­den u. a. zu Mk 1,21–39; 2,1–3,6; 4,1–34, 6,45–8,10 etc. geson­dert thematisiert. 

Beson­ders hilf­reich und als sehr ver­dienst­voll erweist sich, dass Söding in einer ers­ten Anmer­kung rele­van­te Spe­zi­al­li­te­ra­tur auf­lis­tet. Hier­bei han­delt es sich um eine Art Lite­ra­tur­be­richt in sehr kom­pak­ter und gelun­ge­ner Form, da die biblio­gra­phi­schen Anga­ben häu­fig mit kur­zen Hin­wei­sen zu deren Inhalt bzw. der in ihnen ver­tre­te­nen Posi­ti­on ver­se­hen wer­den. Beach­tens­wert ist, dass neben deut­scher und eng­li­scher auch fran­zö­si­sche, ita­lie­ni­sche, spa­ni­sche und nie­der­län­di­sche Lite­ra­tur ein­be­zo­gen wor­den ist.

Auf text­kri­ti­sche Dis­kus­sio­nen ver­zich­tet Söding zum größ­ten Teil. Er ver­weist auf die inzwi­schen zum Mar­kus­evan­ge­li­um vor­lie­gen­de Edi­tio Cri­ti­ca Mai­or von 2021 und legt die­se sei­ner Aus­le­gung zugrun­de. Aus­nah­men bie­ten viel­dis­ku­tier­te Ein­zel­fäl­le: Bei „Sohn Got­tes“ in Mk 1,1 votiert Söding etwa für die Lang­fas­sung. Nur der „Sekun­dä­re Mar­kus­schluss“ erfährt eine text­kri­tisch aus­führ­li­che­re Behand­lung und wird wie all­ge­mein üblich als nach­mar­k­in­i­sch ein­ge­stuft. Bemer­kens­wert ist, dass Söding für die unter­schied­li­chen Aus­for­mu­lie­run­gen sogar Ana­ly­se und Aus­le­gung bie­tet. Der als kano­nisch gel­ten­de „Län­ge­re Mar­kus­schluss“ (Mk 16,9–20) 

ist sekun­där, aber kein Fremd­kör­per, son­dern – anders als der kür­ze­re Anhang – eine stim­mi­ge Fort­schrei­bung des Mar­kus­evan­ge­li­ums, sofern es in den Kanon der ande­ren Evan­ge­li­en ein­ge­passt wird.“ (S. 463)

In der Kom­men­tie­rung begeg­nen manch­mal Hin­wei­se zur (teil­wei­se pro­ble­ma­ti­schen) Rezep­ti­ons­ge­schich­te in den ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen (bei­spiels­wei­se S. 83 in Bezug auf die Fas­ten­fra­ge; S. 101 in Bezug auf die Hl. Fami­lie, S. 342f in Bezug auf die Fra­ge „was Got­tes ist“.). Erfreu­lich sind Stel­lung­nah­men gegen anti­jü­di­sche Ver­wer­tung (z. B. bei der Fas­ten­fra­ge S. 83f. zum Ver­ständ­nis von 8,38 S. 249).

Der Schwerpunkt des Markuskommentars: Die bibeltheologische Perspektive

Wie schon deut­lich wur­de, ist und bleibt für Södings Mar­kus­kom­men­tar die (bibel-)theologische Per­spek­ti­ve prä­gend. Das wird bereits auf den ers­ten Sei­ten, die die Ein­lei­tungs­fra­gen behan­deln, deut­lich: Wenn bei­spiels­wei­se Auf­bau oder Gat­tung behan­delt wer­den, geht es weni­ger um die lite­ra­risch-for­ma­len Aspek­te selbst als viel­mehr dar­um, das Ver­kün­di­gungs­an­lie­gen des ältes­ten Evan­ge­lis­ten zu skiz­zie­ren. So wird z. B. die gat­tungs­mä­ßi­ge Nähe von Evan­ge­li­um und anti­ker Bio­gra­fie benannt und das ältes­te Evan­ge­li­um ganz zurecht hier ein­ge­ord­net. Anhand der zugleich erkenn­ba­ren Dif­fe­ren­zen zwi­schen bei­den Gat­tun­gen wird jedoch kei­ne eigent­li­che Dis­kus­si­on zur Gat­tungs­fra­ge geführt, viel­mehr wer­den Grund­zü­ge der mar­k­in­i­schen Chris­to­lo­gie dargestellt. 

Södings Anlie­gen, die „Schu­le des Glau­bens“ auf heu­te hin zu ver­ste­hen, ist durch und durch spür­bar. Und auch wenn man das Stich­wort „kano­nisch“ nur am (hin­te­ren) Buch­de­ckel neben „his­to­risch-kri­tisch“ liest, so durch­dringt die­se spe­zi­el­le Her­me­neu­tik doch deut­lich wahr­nehm­bar den gesam­ten Kom­men­tar. Söding ver­eint in der für einen Kom­men­tar typi­schen ver­s­wei­sen Ein­zel­kom­men­tie­rung auf eige­ne Art phi­lo­lo­gisch wie his­to­risch-kri­tisch prä­zi­se gear­bei­te­te Ana­ly­sen mit einer ins Bibel­theo­lo­gi­sche füh­ren­den Deu­tung. Die­se Deu­tun­gen über­schrei­ten den mar­k­in­i­schen Hori­zont dabei auch immer wie­der, da Ver­wei­se auf ande­re neu­tes­ta­ment­li­che Schrif­ten häu­fig nicht einer tra­di­ti­ons­ge­schicht­li­chen Prä­zi­sie­rung des ältes­ten Evan­ge­li­ums die­nen, son­dern die­ses in den theo­lo­gi­schen Gesamt­ho­ri­zont des (spä­ter ent­stan­de­nen und kano­ni­sier­ten) Neu­en Tes­ta­ments einbinden.

Der „Heils­dienst“ (76) bzw. die „Heils­sen­dung Jesu“ (101) beinhal­tet Sün­den­ver­ge­bung wie äuße­re Hei­lung „in Vor­weg­nah­me der escha­to­lo­gi­schen Voll­endung und damit als Aus­druck der Nähe Got­tes, die im Glau­ben erfasst wird“ (6). Zur Heils­sen­dung gehört es, dass Jesus als Sohn Got­tes sich nicht selbst in den Mit­tel­punkt stellt, son­dern den Weg des Die­nens geht (225, zu Mk 8,11–13), dass er „auf Gewalt nicht mit Gegen­ge­walt reagiert, son­dern das Lei­den zwar nicht sucht, aber annimmt“ (441, zu Mk 15,29–32). Jesus hat von der Syro­phö­ni­zi­e­rin „gelernt“ (213).

Ein Beispiel: Die Tauferzählung im Markusevangelium

Ein ein­drück­li­ches Bei­spiel für Södings theo­lo­gi­sche Aus­le­gung bie­tet bereits die Exege­se der weni­gen Ver­se der Tauf­er­zäh­lung (Mk 1,9–11). Auf das „‚Du‘ Got­tes ant­wor­tet Jesus in Geth­se­ma­ne mit dem ‚Abba‘ sei­nes Gebe­tes“ (S. 31f.), und die­ses „Du bist“ der Him­mels­stim­me „ist weni­ger eine Pro­kla­ma­ti­on als eine Iden­ti­fi­ka­ti­on“ (S. 32). Die Schrift­an­spie­lun­gen der Him­mels­stim­me (Ps 2,7; Jes 42,1) stel­len „star­ke“ und „schwa­che“ Chris­to­lo­gie nebeneinander. 

Stär­ke und Schwä­che aber sind kei­ne Gegen­sät­ze, son­dern Ent­spre­chun­gen, weil Jesus als Die­ner der Herr ist (Mk 10,41–45) und durch rei­ne Hin­ga­be die Men­schen für die Got­tes­herr­schaft gewinnt.“ (S. 32) 

Und so birgt auch die Tau­fe selbst ein Mys­te­ri­um in sich: „Im Unter- und Auf­tau­chen aus dem Was­ser zeich­nen sich Tod und Auf­er­ste­hung Jesu vor: als Heils­ge­sche­hen für alle, zu denen Jesus gesandt ist.“ (S. 33) Hier und an weni­gen ande­ren Stel­len (z. B. im Kon­text der Ver­klä­rungs­sze­ne S. 256) lässt sich eine theo­lo­gi­sche Eise­ge­se anstel­le einer Exege­se erkennen.

Historische „Haftpunkte” im Markusevangelium

Die his­to­ri­sche Rück­fra­ge nicht hin­sicht­lich der Details, aber hin­sicht­lich eines Gesamt­bil­des eines Über­lie­fe­rungs­zu­ges wird meist mit gro­ßer Zuver­sicht beant­wor­tet: Die Spei­sungs­er­zäh­lun­gen gel­ten als „Ver­dich­tung“ (222; zu die­sem Stich­wort in sol­chem Zusam­men­hang vgl. auch 139) einer Pra­xis Jesu, Juden wie Nicht­ju­den in Gast­mäh­lern mit sich zu ver­bin­den. Nicht sel­ten begeg­net die Cha­rak­te­ri­sie­rung, bestimm­te Stel­len spie­gel­ten „zwar nicht urei­ge­ne Wor­te, aber typi­sche Moti­ve Jesu […] die der Evan­ge­list auf­ge­nom­men und zu einer neu­en Ein­heit kom­po­niert hat“ (251; vgl. 276 u. ö.). So gilt auch: 

Alle Men­schen­sohn­wor­te sind nach­ös­ter­lich; aber alle fan­gen Refle­xe der Ver­kün­di­gung Jesu ein.“ (76) 

His­to­ri­sche Haft­punk­te auch im Detail wer­den zu Recht u. a. da ver­mu­tet, wo sich Jesus mit sei­ner Posi­ti­on nicht durch­setzt (Mk 6,1–6a; 7,24–30) oder wo Hyper­bo­lik herrscht (bspw. zu 3,27 S. 108 u. ö.). Hin­ge­gen spie­gelt Mk 6,45–52 eine „öster­li­che Erzähl­per­spek­ti­ve“, in der „im Grenz­be­reich von Mys­tik und Rea­lis­tik […] reli­giö­se Urer­fah­run­gen ange­sie­delt sind“ (197).

Fazit zum Markuskommentar von Thomas Söding

Mit sei­nem Mar­kus­kom­men­tar bewegt sich Tho­mas Söding exege­tisch auf höchs­tem Niveau. Zudem ergänzt er mit sei­ner kon­se­quent durch­ge­hal­te­nen theo­lo­gi­schen Per­spek­ti­ve die aus­ge­zeich­ne­ten lite­ra­ri­schen wie phi­lo­lo­gi­schen Ana­ly­sen und zahl­rei­chen Detail­in­for­ma­tio­nen auf der Sach­ebe­ne der His­to­rie und setzt so im Gesamt des Kom­men­tars einen beson­de­ren Akzent. Inso­fern erklärt er mit sei­nem Kom­men­tar nicht nur das Werk des ältes­ten Evan­ge­lis­ten und Theo­lo­gen Mar­kus, son­dern schreibt es auch gezielt in den theo­lo­gi­schen Hori­zont des neu­tes­ta­ment­li­chen Kanons ein.

Als beson­de­rer Vor­zug ist Södings fei­ne, d. h. geschlif­fe­ne Spra­che her­vor­zu­he­ben, die den Ger­ma­nis­ten Söding durch­schei­nen lässt.

Der Kom­men­tar bie­tet neben vie­len exzel­len­ten und detail­rei­chen Exege­sen einen Lese­ge­nuss sowohl für Kenner*innen sowie Men­schen, die auf dem Weg des Ken­nen­ler­nens des Mar­kus­evan­ge­li­ums sind!

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  1. Als Quel­len für die­se Rezen­si­on wur­den neben dem Kom­men­tar selbst auch die bei­den Rezen­sio­nen: Mar­tin Sto­was­ser. Rezen­si­on zu: Tho­mas Söding. Das Evan­ge­li­um nach Mar­kus. Leip­zig 2022 in: bbs 6.2023 https://​www​.bibel​werk​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​v​e​r​e​i​n​/​b​u​e​c​h​e​r​s​c​h​a​u​/​2​0​2​3​/​S​o​e​d​i​n​g​_​M​a​r​k​u​s​e​v​a​n​g​e​l​i​u​m​.​pdf sowie Mar­tin Mei­ser, Söding, Tho­mas: Das Evan­ge­li­um nach Mar­kus, Leip­zig: Evan­ge­li­sche Ver­lags­an­stalt 2022. 496 S. = Theo­lo­gi­scher Hand­kom­men­tar zum Neu­en Tes­ta­ment, 2. Geb. EUR 39,00. ISBN 9783374053476, in ThLZ Juli/​August/​2023, 707–709 verwendet. 


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Veronika Burz-Tropper

Über den Autor

Veronika Burz-Tropper ist Professorin für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften der KU Leuven. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind das Johannesevangelium, die Theo-Logie im Neuen Testament und Biblische Theologie sowie Anthropologie im Neuen Testament.

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