Das Evangelium im Kolosserbrief

Kolosserbrief & Evangelium

Der Koloss­erbrief ent­fal­tet die wun­der­ba­re Schön­heit des Evan­ge­li­ums. Die­ser Arti­kel hilft Ihnen, einen tie­fen Ein­blick in die­sen Brief zu bekom­men und neu über das Evan­ge­li­um stau­nen zu kön­nen

Was ist das Evangelium?

Die „vier geist­li­chen Geset­ze“ oder die „Römer­stra­ße“ ver­su­chen, das Evan­ge­li­um in weni­gen Sät­zen zusam­men­zu­fas­sen. Sol­che Ver­su­che kön­nen hilf­reich sein, um das Evan­ge­li­um wei­ter­zu­ge­ben. Aber sie lau­fen auch Gefahr, das Evan­ge­li­um zu ver­kür­zen und sei­ner gan­zen Tie­fe und Schön­heit nicht gerecht zu wer­den. Das Evan­ge­li­um gleicht einem Dia­man­ten, der je nach Per­spek­ti­ve in vie­len Far­ben schil­lert. Wenn wir es nur aus einer Per­spek­ti­ve betrach­ten, ver­lie­ren wir viel von sei­ner Kraft und Schönheit.

Nach sei­ner Begeg­nung mit Jesus ver­brach­te Pau­lus sein Leben damit, Tag und Nacht über Jesus und das Evan­ge­li­um nach­zu­den­ken und es zu ver­kün­den. Der Koloss­erbrief, den Pau­lus ver­mut­lich gegen Ende sei­nes Lebens schrieb, gibt uns einen Ein­blick in sei­ne tie­fen Refle­xio­nen über Jesus und das Evan­ge­li­um. Was war ihm am Ende sei­nes Lebens beson­ders wich­tig? Wel­che Aspek­te des Evan­ge­li­ums beton­te er?

In die­sem Arti­kel wer­de ich vier zen­tra­le Aspek­te des Evan­ge­li­ums her­aus­ar­bei­ten, die Pau­lus im Koloss­erbrief beson­ders betont. Zudem wer­de ich einen beson­de­ren Text im Brief anschau­en, der ver­mut­lich ein frü­hes christ­li­ches Lob­preis­lied oder ein Glau­bens­be­kennt­nis der ers­ten Chris­ten dar­stellt und uns einen fas­zi­nie­ren­den Ein­blick in die Anfän­ge des christ­li­chen Glau­bens gibt.

Die vier zentralen Aspekte des Evangeliums im Kolosserbrief

1) Christus Victor: Jesus als Sieger über die dunklen Mächte (Kol 1,12–13; 2,15)

Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Hei­li­gen, die im Licht sind. Er hat uns der Macht der Fins­ter­nis ent­ris­sen und auf­ge­nom­men in das Reich sei­nes gelieb­ten Soh­nes. (Kol 1,12–13 )

Die Fürs­ten und Gewal­ten hat er ent­waff­net und öffent­lich zur Schau gestellt; durch Chris­tus hat Gott über sie tri­um­phiert. (Kol 2,15 )

Die­se Ver­se sind tief in der gro­ßen Erzäh­lung der Bibel ver­an­kert und kön­nen nur im Kon­text der gesam­ten Heils­ge­schich­te rich­tig ver­stan­den wer­den. Sie spie­geln nicht nur wider, was Jesus durch das Kreuz und die Auf­er­ste­hung bewirkt hat, son­dern fügen sich naht­los in den umfas­sen­den Plan Got­tes ein, der von Anfang an dar­auf abziel­te, die Mensch­heit zu erlö­sen und ihre ursprüng­li­che Bestim­mung wie­der­her­zu­stel­len. Um das vol­le Aus­maß die­ser Ver­se zu erfas­sen, müs­sen wir die Erzäh­lung der Bibel als Gan­zes im Blick behalten.

Gottes Plan für die Menschen: Eingesetzt, um zu regieren und zu gestalten

Am Anfang der Bibel erfah­ren wir von Got­tes ursprüng­li­chem Plan für die Mensch­heit: Er hat uns Men­schen in sei­nem Bild erschaf­fen, um die Erde zu ver­wal­ten und die Schöp­fung in sei­nem Sin­ne zu gestal­ten (Gene­sis 1,26–28). Die Mensch­heit wird nicht nur als Ver­wal­ter, son­dern auch als Mit­ge­stal­ter der Schöp­fung betrach­tet, die mit Gott zusam­men­ar­bei­tet, um die Welt in Über­ein­stim­mung mit sei­nen Absich­ten zu gestal­ten.

Die­ser Auf­trag umfasst die Gestal­tung von Kul­tu­ren und Gesell­schaf­ten, die die Schön­heit und Viel­falt Got­tes wider­spie­geln. In der Viel­falt der Kul­tu­ren kann sich die gan­ze Schön­heit Got­tes mani­fes­tie­ren, so wie vie­le bun­te Blu­men einen Gar­ten wun­der­schön machen. Gott hat uns als sei­ne Ver­wal­ter ein­ge­setzt, damit wir in Zusam­men­ar­beit mit ihm eine Welt schaf­fen, in der Gerech­tig­keit, Wohl­stand und Shalom herr­schen.

Die­ser Auf­trag, die Welt zu gestal­ten und Gerech­tig­keit zu för­dern, kann nur in enger Zusam­men­ar­beit mit Gott erfüllt wer­den. Indem wir unser Leben von sei­ner Lie­be durch­drin­gen und bestim­men las­sen, sind wir in der Lage, die Welt so zu gestal­ten, dass sie sei­ne Herr­schaft und sei­ne Gerech­tig­keit widerspiegelt.

Unsere Rebellion und die Herrschaft der dunklen Mächte

Alle Men­schen ent­schei­den sich auf die eine oder ande­re Wei­se gegen Gott und sei­nen Weg der Lie­be. Die­se Rebel­li­on führt uns in die Skla­ve­rei unter die Herr­schaft von dunk­len Cha­os-Mäch­ten. Anstatt der ursprüng­li­chen Bestim­mung zu fol­gen, als Got­tes Ver­wal­ter über die Erde zu herr­schen, haben wir durch unse­re Sün­de und unser unge­hor­sa­mes Han­deln die­sen dunk­len Mäch­ten die Auto­ri­tät über unser Leben und die Welt gege­ben (Johan­nes 12,31; 14,30; 16,11; 2 Kor 4,4; Eph 2,2; 1 Joh 5,19).

Die Schlan­ge in der Schöp­fungs­ge­schich­te reprä­sen­tiert die­se Cha­os-Mäch­te, die die Welt in Unord­nung stür­zen. Direkt hier, am Anfang der Bibel, ver­heißt Gott, dass er die Mäch­te des Bösen besie­gen wird (Gene­sis 3,15). Dies ist die ers­te Pro­phe­zei­ung über den Mes­si­as, der kom­men wird, um das Werk der Dun­kel­heit zu zer­stö­ren und die Mensch­heit zu befrei­en. In die­ser Ver­hei­ßung liegt der Kern des Evan­ge­li­ums: Der Mes­si­as wird als der­je­ni­ge auf­tre­ten, der die dunk­len Mäch­te besiegt und uns Men­schen befreit und neu befä­higt, unse­re Bestim­mung als Got­tes Mit­ver­wal­ter zu erfüllen.

Die Befreiung durch Christus: Sieg über die Mächte der Finsternis

Die­se Grund­la­ge aus dem Alten Tes­ta­ment bil­det den Kon­text, auf den Pau­lus in Kolos­ser 1,12–13 und Kolos­ser 2,15 anspielt. Durch sei­nen Tod und sei­ne Auf­er­ste­hung hat Jesus die dunk­len Mäch­te „ent­waff­net“ und über sie „tri­um­phiert“ (sie­he auch Hebr 2,14; 1 Joh 3,8). Auf die­se Wei­se hat er uns „der Macht der Fins­ter­nis ent­ris­sen“ () und uns wie­der „fähig gemacht“ (), unse­re ursprüng­li­che Rol­le zu erfül­len. Durch Chris­tus sind wir nicht mehr Skla­ven der dunk­len Mäch­te, son­dern wie­der fähig, als Got­tes Ver­wal­ter die Erde zu ver­wal­ten und zu gestal­ten. N. T. Wright, sei­nes­zei­chens Theo­lo­ge für Neu­es Tes­ta­ment, fasst es so zusammen:

Gott hat sei­ne Welt so geord­net, dass sein eige­nes Wir­ken in die­ser Welt durch eines sei­ner Geschöp­fe – die Men­schen, die sein Bild wider­spie­geln – geschieht. Das, so glau­be ich, ist zen­tral für das Ver­ständ­nis davon, im Bild Got­tes erschaf­fen zu sein. Gott beab­sich­tigt, dass sei­ne wei­se, krea­ti­ve, lie­ben­de Gegen­wart und Macht durch sei­ne mensch­li­chen Geschöp­fe in die Welt reflek­tiert – oder, wenn man so will, abge­bil­det – wird. Er hat uns dazu beru­fen, dass wir uns als sei­ne Ver­wal­ter um sei­ne Schöp­fung küm­mern. Nach dem Desas­ter der Rebel­li­on und Kor­rup­ti­on hat er in die Bot­schaft des Evan­ge­li­ums ein­ge­baut, dass er durch das Werk Jesu und die Kraft des Geis­tes die Men­schen befä­higt, um sein ursprüng­li­ches Pro­jekt wie­der auf Kurs zu brin­gen.

(2009:96)

Durch Chris­tus sind wir also nicht nur von der Skla­ve­rei der dunk­len Mäch­te befreit, son­dern auch in die Bestim­mung zurück­ge­ru­fen, die Gott für uns von Anfang an hat­te. Wir sind wie­der fähig, in die­ser Welt, die von dunk­len Mäch­ten regiert wird, Got­tes Königs­herr­schaft zu rea­li­sie­ren und die­se Welt so zu gestal­ten, wie es von Gott vor­ge­se­hen war. Die­ses Ver­ständ­nis des Evan­ge­li­ums von Jesus als dem Sie­ger über die dunk­len Mäch­te wird in der Theo­lo­gie oft mit dem Titel Chris­tus Vic­tor zusammengefasst.

Wenn Sie sich fra­gen, wie es zusam­men­passt, dass Jesus über die dunk­len Mäch­te tri­um­phiert hat, die­se Welt aber wei­ter­hin unter deren Herr­schaft steht, oder wenn Sie mehr über das Chris­tus-Vic­tor-Motiv erfah­ren möch­ten, kön­nen Sie dazu mehr in die­sem aus­führ­li­chen Arti­kel lesen.

2) Jesus ist das Ebenbild Gottes (Kol 1,15)

Exkurs: Der Christus-Hymnus

Der nächs­te Aspekt des Evan­ge­li­ums fin­det sich in einer ganz beson­de­ren Art von Text. Kolos­ser 1,15–20 wird auch manch­mal als Chris­tus-Hym­nus oder Chris­tus­lied bezeich­net. Die meis­ten Exper­ten sind sich heu­te einig, dass die­se fünf Ver­se eine lit­ur­gi­sche Funk­ti­on hat­ten, was bedeu­tet, dass sie unter den ers­ten Chris­ten ver­mut­lich weit ver­brei­tet waren (HTA 2018:106). Es gibt ver­schie­de­ne Theo­rien dar­über, was genau die­ser Text dar­stellt, aber ver­mut­lich han­del­te es sich um ein frü­hes Lob­preis­lied, ein Glau­bens­be­kennt­nis oder ein „chris­to­lo­gi­sches Lehr­ge­dicht“ (ThKNT 2003:106) der ers­ten Christen.

Die Beson­der­heit die­ses Tex­tes gibt uns einen wert­vol­len Ein­blick in die Welt der ers­ten Chris­ten, zeigt, was ihnen wich­tig war und wel­che Glau­bens­in­hal­te sie als zen­tral und wert­voll erach­te­ten. Des­halb lohnt es sich, hier ein­mal genau­er zu betrach­ten, wor­um es in die­sem äußerst dich­ten Text geht.

Jesus offenbart wie Gott ist

Der Chris­tus-Hym­nus beginnt mit einer Grund­über­zeu­gung der ers­ten Chris­ten, die wir über­all im Neu­en Tes­ta­ment finden:

Der Sohn ist das Eben­bild des unsicht­ba­ren Got­tes… (Kolos­ser 1,15 NGÜ)

Die Kern­idee hier ist: Jesus offen­bart den unsicht­ba­ren Gott. In Jesus wird sicht­bar, wie Gott wirk­lich ist. Jesus und Gott sind wesen­seins, des­halb heißt es im Nicä­ni­schen Glau­bens­be­kennt­nis auch:

Und an den einen Herrn Jesus Christus,
den Sohn Gottes,
der als Ein­zig­ge­bo­re­ner aus dem Vater gezeugt ist, das heißt: aus dem Wesen des Vaters,
Gott aus Gott, Licht aus Licht,
wah­rer Gott aus wah­rem Gott,
gezeugt, nicht geschaf­fen,
eines Wesens mit dem Vater.

Im Johannesevangelium und im Hebräerbrief

Das The­ma, dass wir in Jesus am klars­ten erken­nen, wie Gott wirk­lich ist, zieht sich wie ein roter Faden durch das Neue Testament.

Der Pro­log des Johan­nes­evan­ge­li­ums (1,1–18) endet mit die­ser kraft­vol­len Aussage:

Nie­mand hat Gott jemals gese­hen; der ein­zig­ge­bo­re­ne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn bekannt gemacht. (Joh 1,18 ELB).

Johan­nes betont, dass nie­mand Gott je gese­hen hat (Joh 1,18; 5,37; 6,46). Dies ver­stärkt nach­drück­lich die Wor­te Jesu, der erklärt, dass er und der Vater eins sind, und dass, wer ihn sieht, den Vater sieht (Joh 10,30; 12,45; 14,9). Jesus betont, dass er allei­ne das wah­re Wesen Got­tes offen­bart. Das grie­chi­sche Wort „exē­geo­mai“, das in Johan­nes 1,18 ver­wen­det wird und „voll­stän­dig und klar offen­ba­ren“ (Louw-Nida) bedeu­tet, zeigt, dass Jesus die per­fek­te „Exege­se“ Got­tes ist, er „legt uns aus“, wie Gott wirk­lich ist.

Auch im Hebrä­er­brief wird Jesus als „das voll­kom­me­ne Abbild von Got­tes Herr­lich­keit“ beschrie­ben (Hebrä­er 1,3). F. F. Bruce (1990:48) erklärt, dass Jesus wie der Abdruck auf einer Mün­ze Got­tes Wesen prä­zi­se wider­spie­gelt. In Chris­tus wird Got­tes Natur voll­kom­men offen­bart, und wer Jesus sieht, sieht den Vater.

Jesus das Spiegelbild Gottes

N. T. Wright ver­sucht die Idee hin­ter Kolos­ser 1,15 mit einem Bild zu beschreiben:

Wenn wir auf Jesus schau­en, ent­de­cken wir, wer Gott ist. Er ist „das Eben­bild Got­tes, des Unsicht­ba­ren“. Nie­mand hat Gott je gese­hen, aber in Jesus ist er uns nahe gekom­men und einer von uns gewor­den. Wenn jemand im Raum neben mir sitzt, kann ich ihn nicht sehen, weil eine Wand im Weg ist. Aber wenn im Kor­ri­dor ein Spie­gel steht, dann kann ich aus mei­ner Türe schau­en und im Spie­gel das Spie­gel­bild der Per­son sehen, die im nächs­ten Raum sitzt. Eben­so ist Jesus das Spie­gel­bild des Got­tes, der zwar da ist, aber den wir in der Regel nicht sehen kön­nen. … Aber in Jesus schau­en wir den wah­ren Gott per­sön­lich an“ (2018:182).

Warum ist das ein Aspekt des Evangeliums?

In 2 Korin­ther 3,14–18 beschreibt Pau­lus das Bild eines Schlei­ers, der über dem Alten Tes­ta­ment liegt. Die­ser Schlei­er führt dazu, dass selbst die­je­ni­gen, die das Alte Tes­ta­ment gründ­lich stu­dier­ten, Gott nicht in sei­ner vol­len Klar­heit erken­nen konn­ten. Ein deut­li­ches Bei­spiel dafür ist die Tat­sa­che, dass die meis­ten Juden Jesus nicht als den Mes­si­as erkann­ten, obwohl sie die Schrif­ten des Alten Tes­ta­ments stu­diert hat­ten. Pau­lus betont, dass die­ser Schlei­er nur durch Jesus Chris­tus ent­fernt wer­den kann (V.14). Er erklärt, dass das Ver­ständ­nis von Got­tes Wesen und Plan erst durch das Offen­bar­wer­den Jesu voll­stän­dig wird.

Eini­ge Ver­se spä­ter, in 2 Korin­ther 4,4, ver­bin­det Pau­lus die­se Wahr­heit direkt mit dem Evan­ge­li­um: Der Glanz des Evan­ge­li­ums ist die Herr­lich­keit Jesus, der das Eben­bild Got­tes ist. Hier wird das Motiv, dass Jesus uns Gott offen­bart, klar mit dem Evan­ge­li­um ver­knüpft. Vor Jesus wuss­ten wir nicht genau, wie Gott wirk­lich ist, aber Jesus hat uns durch sein Leben und sei­ne Leh­ren offen­bart, wie Gott wirk­lich ist. Das ist wahr­lich eine gute Nachricht.

3) Versöhnung (Kol 1,20)

Wenn Chris­ten über das Evan­ge­li­um spre­chen, dann ist häu­fig die Rede davon, dass Jesus uns unse­re Sün­de ver­gibt. Die­ser Aspekt wird auch im Koloss­erbrief erwähnt (Kol 1,14; 2,13–14). Ver­ge­bung ist aber nur ein Schritt auf dem Weg zu einem grö­ße­ren Ziel, und zwar dem Ziel der Ver­söh­nung und der Wie­der­her­stel­lung von Shalom. Meh­re­re Stel­len im Neu­en Tes­ta­ment spre­chen davon, dass Got­tes ulti­ma­ti­ves Ziel ist, sei­ne gesam­te Schöp­fung zu ver­söh­nen (Apos­tel­ge­schich­te 3,21; 2 Korin­ther 5,19; Kolos­ser 1,19–20; Ephe­ser 1,9–10; 1 Timo­theus 2,3–6) und sei­ne Königs­herr­schaft über alles aufzurichten.

Got­tes Ziel, den gesam­ten Kos­mos zu ver­söh­nen, war anschei­nend eine wich­ti­ge Glau­bens­grund­la­ge der ers­ten Chris­ten, weil der Chris­tus-Hym­nus mit genau die­sem Evan­ge­li­ums­aspekt endet. Im HTA-Kom­men­tar fin­det sich eine sinn­vol­le Glie­de­rung für den Christus-Hymnus:

Im Zen­trum des Chris­tus-Hym­nus steht die Idee, dass alles, was geschaf­fen wur­de, durch Chris­tus gemacht wur­de, durch ihn besteht und für ihn exis­tiert. Es geht hier um die „Gesamt­heit alles Sei­en­den“ (ThHK 2012:101). Der Hym­nus endet mit der gewal­ti­gen Aus­sa­ge, dass Gott durch Chris­tus bereits alles wie­der mit­ein­an­der ver­söhnt und dadurch Frie­den gestif­tet hat (V.20). War­um klingt es also, als sei die Ver­söh­nung des Kos­mos bereits gesche­hen, obwohl die­se Welt noch lan­ge nicht voll­stän­dig ver­söhnt ist?

Ist schon alles versöhnt?

Der Aorist-Infi­ni­tiv „zu ver­söh­nen“ (apo­ka­tal­la­x­ai) könn­te dar­auf hin­wei­sen, dass die Ver­söh­nung als bereits voll­ende­tes Ereig­nis ver­stan­den wird. Doch der Aorist-Infi­ni­tiv bezeich­net nicht zwangs­läu­fig eine ver­gan­ge­ne Hand­lung, son­dern kann auch eine Hand­lung als Gan­zes dar­stel­len, ohne den Zeit­punkt oder Fort­schritt zu spe­zi­fi­zie­ren. In die­sem Fall bezieht sich der Autor auf das gesam­te Werk Got­tes, das Chris­tus in uns woh­nen lässt und die Welt ver­söhnt. Die Emp­fän­ger des Tex­tes erfah­ren die Ver­söh­nung bereits in gewis­sem Maße, aber ihre voll­stän­di­ge Ver­wirk­li­chung war­tet auf einen spä­te­ren Zeit­punkt. Die­se Sicht­wei­se fügt sich in die teil­wei­se rea­li­sier­te Escha­to­lo­gie des Neu­en Tes­ta­ments ein. Die­se besagt, dass das Reich Got­tes bereits begon­nen hat, aber noch nicht voll­stän­dig erfüllt ist. Daher ist die Ver­söh­nung auf einer Ebe­ne bereits voll­zo­gen, wäh­rend ihre end­gül­ti­ge Ver­wirk­li­chung erst in der Zukunft statt­fin­den wird (Sum­ney 2013:75).

Der Chris­tus-Hym­nus betont hier­mit einen zen­tra­len Aspekt des Evan­ge­li­ums: Die gesam­te Schöp­fung ist für Chris­tus geschaf­fen und des­halb wird am Ende auch alles mit ihm ver­söhnt wer­den. Die Klar­heit des Hym­nus zu die­sem The­ma ist für vie­le schwer ver­ein­bar mit ande­ren Stel­len im Neu­en Tes­ta­ment, die auf einen dop­pel­ten Aus­gang ver­wei­sen. Mehr zu dem The­ma Höl­le und All­ver­söh­nung fin­den Sie in die­sem Arti­kel.

4) Ein Leben der Liebe (Kol 3,14)

Das, was Gott für uns getan hat, erfor­dert eine Reak­ti­on bei uns. Dies wird in vie­len pau­li­ni­schen Brie­fen klar, in denen sich im zwei­ten Teil des Brie­fes Anwei­sun­gen fin­den, wie wir kon­kret auf das Evan­ge­li­um reagie­ren sol­len. Im Koloss­erbrief spricht Pau­lus davon, dass wir den neu­en Men­schen anzie­hen sol­len. Was das bedeu­tet, fasst er in Kolos­ser 3,14 zusammen:

Vor allem beklei­det euch mit der Lie­be, die das Band der Voll­kom­men­heit ist! ()

Gott hat uns von den bösen Mäch­ten befreit, uns mit sich ver­söhnt und uns gezeigt, wie er wirk­lich ist, damit wir sei­nem Weg der Lie­be fol­gen. Die­se Lie­be wird mit Voll­kom­men­heit gleich­ge­setzt, weil Gott selbst Lie­be ist und er voll­kom­men ist. Die gute Nach­richt ist, dass unser Leben einen tie­fen Sinn hat. Als sei­ne Kin­der sind wir beru­fen, mit Gott zusam­men­zu­ar­bei­ten und sei­ne Zie­le in der Welt vor­an­zu­trei­ben, indem wir sein Wesen der Lie­be reflek­tie­ren und als Bot­schaf­ter der Ver­söh­nung wir­ken (2 Kor 5,18).

Fazit

Abschlie­ßend lässt sich sagen, dass die Aspek­te des Evan­ge­li­ums, die im Koloss­erbrief her­vor­ge­ho­ben wer­den, weit über die Bot­schaft der Ver­ge­bung der Sün­den hin­aus­ge­hen. Durch Chris­tus sind wir nicht nur von den dunk­len Mäch­ten befreit, son­dern wie­der fähig, unse­re ursprüng­li­che Beru­fung als Got­tes Ver­wal­ter in die­ser Welt ein­zu­neh­men. Jesus hat uns offen­bart, wie Gott wirk­lich ist, und wird sei­ne gesam­te Schöp­fung mit sich ver­söh­nen. Als sei­ne Bot­schaf­ter der Ver­söh­nung (2 Korin­ther 5,18) arbei­ten wir gemein­sam mit ihm auf die­ses gro­ße Ziel der Wie­der­her­stel­lung sei­ner Schöp­fung hin. Indem wir ein Leben füh­ren, das von Lie­be geprägt ist, las­sen wir den unsicht­ba­ren Gott in die­ser Welt sicht­bar werden.

Bibliografie

Bruce, F. F. (1990). The Epist­le to the Hebrews (Rev. ed.). Grand Rapids: Eerd­mans Publi­shing Co.

HTA. Joel White (2018). Der Brief Des Pau­lus an Die Kolos­ser, ed. Ger­hard Mai­er et al., His­to­risch-Theo­lo­gi­sche Aus­le­gung Neu­es Tes­ta­ment (Wit­ten; Gies­sen: SCM R.Brockhaus; Brun­nen Verlag).

Wright, N. T. (2009). ‘To Inau­gu­ra­te His King­dom: His Deeds, Death and Resur­rec­tion’, in Per­spec­ti­ves on the World Chris­ti­an Move­ment: A Rea­der, eds. R. D. Win­ter, S. C. Hawt­hor­ne (Pasa­de­na: Wil­liam Carey Library).

Wright, N. T. (2018). Pau­lus für heute—Die Gefan­gen­schafts­brie­fe: Ephe­ser, Phil­ip­per, Kolos­ser, Phi­le­mon. Gies­sen: Brun­nen Ver­lag GmbH.

ThKNT. Ingrid Maisch (2003). Der Brief an Die Gemein­de in Kolossä, ed. Ekke­hard W. Ste­ge­mann et al., vol. 12, Theo­lo­gi­scher Kom­men­tar Zum Neu­en Tes­ta­ment (Stutt­gart: W. Kohl­ham­mer GmbH), 106.

ThHK. Lukas Bor­mann (2012). Der Brief Des Pau­lus an Die Kolos­ser, ed. Jens Her­zer and Udo Schnel­le, 1. Auf­la­ge, vol. X, Theo­lo­gi­scher Hand­kom­men­tar Zum Neu­en Tes­ta­ment (Leip­zig: Evan­ge­li­sche Ver­lags­an­stalt), 101.

Sum­ney, J. L. (2013). Colos­si­ans: A Com­men­ta­ry (C. C. Black, M. E. Bor­ing, & J. T. Car­roll, Hrsg.). West­mins­ter John Knox Press.

Geschrieben von
Manuel Becker

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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