Die Arbeiter im Weinberg: 6 häufig übersehene Aspekte

Von Manuel Becker

Bibelstudium, Gleichnis, Gnade, Güte, Skandal
Oktober 22, 2022

Unge­recht? Das Gleich­nis von den Arbei­tern im Wein­berg illus­triert Got­tes skan­da­lö­se Güte, die Gerech­tig­keit über­trifft und wütend macht. Lesen Sie in 15 Min. wel­che 6 Aspek­te für eine fun­dier­te Aus­le­gung des Gleich­nis­ses unver­zicht­bar sind. 

Die Gleichnisse Jesu

Jesus war ein meis­ter­haf­ter Geschich­ten­er­zäh­ler. Wann immer er zu den Men­schen rede­te, ver­wen­de­te er Gleich­nis­se (Mt 13,34). Geschich­ten und Gleich­nis­se berüh­ren das Herz in einer Tie­fe, wie abs­trak­te Ideen es nie­mals tun kön­nen. In den Gleich­nis­sen fass­te Jesus die Kern­ideen sei­ner Leh­re zusam­men und ver­mit­tel­te sie ein­präg­sam sei­nen Zuhö­rern. Wei­ter­hin waren die Gleich­nis­se Jesu so kurz und ein­fach, dass die Leu­te sie ein­fach wei­ter­erzäh­len konn­ten. So konn­te sich die Bot­schaft Jesu ein­fach und weit­rei­chend verbreiten.

Die Gleich­nis­se Jesu sind zutiefst ver­wur­zelt in der dama­li­gen Zeit und Kul­tur. Moder­ne Leser ver­ste­hen die Aus­sa­ge der Gleich­nis­se oft schwer, weil ihnen die Bezugs­punk­te unklar sind und ihnen die kul­tu­rel­len Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen feh­len, die zum Ver­ständ­nis des Gleich­nis­ses not­wen­dig sind. Gute Bibel­kom­men­ta­re fül­len die­se Wis­sens­lü­cken und ermög­li­chen eine soli­de, in der Kul­tur und Zeit Jesu ver­wur­zel­te, Aus­le­gung der Gleich­nis­se Jesu.

Aspekt 1: Aus der Lebensrealität der Leute

Die Gleich­nis­se Jesu spie­geln das all­täg­li­che Leben der Men­schen des ers­ten Jahr­hun­derts wider, das Leben der Bau­ern, der Hir­ten, der Knech­te und Her­ren, der Frau­en, der Väter und Söh­ne. Es geht um Schul­den, Unge­rech­tig­keit, Gier, Not und Bezie­hun­gen. Jesu Leh­re war ganz nah dran am Leben sei­ner Zuhö­rer. Er hat kei­ne welt­frem­den theo­lo­gi­schen Kon­zep­te gepre­digt, son­dern es ging um prak­ti­sche The­men des Alltags.

Zur Zeit Jesu herrsch­te gro­ße Armut in Isra­el. Hero­des der Gro­ße galt als der größ­te Bau­herr sei­ner Zeit, aber sei­ne Bau­ten wur­den finan­ziert durch die Steu­ern, die er aus der jüdi­schen Bevöl­ke­rung her­aus­press­te. Aber die jüdi­sche Bevöl­ke­rung muss­te nicht nur Hero­des Steu­ern bezah­len, son­dern zusätz­lich auch noch Kai­ser Augus­tus. Dies hat Paläs­ti­na in die abso­lu­te Armut getrie­ben. Tau­sen­de sind ver­hun­gert und vie­le sind geflo­hen oder in die Kri­mi­na­li­tät geflüch­tet, um über­le­ben zu können.

Es wird ver­mu­tet, dass es zur Zeit Jesu ca. 5% Ober­schicht, 5% Mit­tel­schicht (z.B. Beam­ten) und 80% Unter­schicht (z.B. Hand­wer­ker, Klein­bau­ern, Tage­löh­ner; sie muss­ten täg­lich hart arbei­ten, um gera­de so über­le­ben zu kön­nen) gab. Die letz­ten 10% leb­ten in extre­mer Armut (z.B. Bett­ler & Aus­sät­zi­ge). Für detail­lier­te Infor­ma­tio­nen zur Situa­ti­on Jeru­sa­lems zur Zeit Jesu emp­feh­le ich „Jeru­sa­lem in the Time of Jesus“ von Joa­chim Jeremias.

Jesus war ein Freund der Armen. Er hat sich für die Armen ein­ge­setzt und ihnen Mut und Hoff­nung gege­ben in die­ser Zeit der schwe­ren exis­ten­zi­el­len Kri­se. Das Gleich­nis von den Arbei­tern im Wein­berg war ver­wur­zelt in der har­schen Lebens­rea­li­tät der Zuhö­rer Jesu.

Aspekt 2: Die Tagelöhner

Die Tage­löh­ner gehör­ten zur unters­ten Klas­se der Unter­schicht. Ihnen erging es schlech­ter als den Haus­skla­ven. Für die Haus­skla­ven muss­ten die Besit­zer einen hohen Kauf­preis bezah­len, des­halb wur­de auf­ge­passt, dass die Haus­skla­ven nicht zu extrem belas­tet wur­den, damit sie vie­le Jah­re arbei­ten konn­ten. Aber für die Tage­löh­ner hat sich nie­mand inter­es­siert, des­halb muss­ten sie die här­tes­ten und gefähr­lichs­ten Jobs machen. Sie haben von der Hand in den Mund gelebt.

Die Tage­löh­ner stan­den schon vor Son­nen­auf­gang an öffent­li­chen Plät­zen, wie dem Markt­platz, und war­te­ten dar­auf, dass sie ein­ge­stellt wur­den. Der Druck auf ihnen war groß, denn ob ihre Fami­lie etwas essen konn­te oder hun­gern muss­te, war davon abhän­gig, ob sie Arbeit für den Tag fan­den oder nicht.

Aspekt 3: Der übliche Lohn in der damaligen Zeit

In wirt­schaft­lich guten Zei­ten war ein Dinar ein guter Tages­lohn. Ein hal­ber Dinar galt als schlech­ter Lohn. Aber in wirt­schaft­lich schlech­ten Zei­ten war auch ein hal­ber Dinar ein guter Lohn. Dem­nach war 1 Dinar in jedem Fall ein guter Lohn.

Aber wie viel war ein Denar über­haupt wert? Ein Ober­ge­wand oder ein Paar Schu­he kos­te­te ca. 30 Dina­re, des­halb besa­ßen vie­le Tage­löh­ner nur ein ein­zi­ges Ober­ge­wand. Ein Och­se kos­te­te 300 Dina­re. Fleisch jeg­li­cher Art war teu­er, des­halb ernähr­ten sich fast alle Men­schen der Unter­schicht vege­ta­risch und Fleisch gab es nur zu sel­te­nen und beson­de­ren Gelegenheiten.

Am Sab­bat wur­de nicht gear­bei­tet, dem­nach konn­te Geld nur an 6 Tagen ver­dient wer­den, des­halb muss­te jedes Fami­li­en­mit­glied, so früh wie mög­lich, arbei­ten gehen, um das Über­le­ben der Fami­lie zu sichern.

Aspekt 4: Ab hier wird es komisch…

Das Schockelement in Gleichnissen

Obwohl es sich bei den Gleich­nis­sen Jesu um Beschrei­bun­gen aus der Lebens­rea­li­tät der Men­schen han­del­te, schil­dern sie nicht unbe­dingt all­täg­li­che Ereig­nis­se. Vie­le Ele­men­te der Gleich­nis­se waren scho­ckie­rend, viel­leicht sogar befremd­lich, für die Zuhö­rer, wie etwa Mil­lio­nen­schul­den (Mt 18,23–35), ein Vater, der sei­nem weg­ge­lau­fe­nen Sohn ent­ge­gen­rennt (Lk 15,20) oder eben der Besit­zer eines Wein­bergs, der sei­ne Arbei­ter mit über­trie­be­ner Groß­zü­gig­keit bezahlt (Mt 20,1–16).

Fee & Stuart erklä­ren, dass die meis­ten Gleich­nis­se mit Wit­zen ver­gleich­bar sind (2015:182). Ein Witz hat eine Poin­te, und wer die Poin­te ver­steht, ver­steht auch den Witz. So ist es auch mit den Gleich­nis­sen. Vie­le Gleich­nis­se hat­ten eine Poin­te, und wer die Poin­te ver­stand, ver­stand auch die Bedeu­tung des Gleich­nis­ses. Snod­grass fügt hin­zu, dass die Poin­te des Gleich­nis­ses, „das Ent­schei­den­de“ des Gleich­nis­ses, in der Regel am Ende des Gleich­nis­ses zu fin­den ist (2018: Cha­rac­te­ristics of Jesus’ Parables).

Die Schwachen und Alten

Das Gleich­nis von den Arbei­tern im Wein­berg fängt an komisch zu wer­den, als der Wein­berg­be­sit­zer noch ein­mal auf den Markt­platz geht, um zur elf­ten Stun­de (17 Uhr) noch ein­mal Leu­te ein­zu­stel­len. Der Arbeits­tag ende­te um 18 Uhr und der Weg in den Wein­berg (wel­cher gewöhn­lich außer­halb der Stadt lag) war ver­mut­lich auch min­des­tens 15 Minu­ten lang. Nie­mand stell­te mehr Leu­te zu so spä­ter Stun­de ein.

Hin­zu kommt, dass die übrig geblie­be­nen Arbei­ter ver­mut­lich die schwa­chen und älte­ren Arbei­ter waren. Die jun­gen und star­ken Tage­löh­ner wur­den zuerst aus­ge­wählt und am Ende des Tages blie­ben die übrig, die nie­mand sonst ein­stel­len woll­te. Es waren die Ver­zwei­fel­ten, weil sie sich nach Arbeit sehn­ten, um ihre Fami­li­en ernäh­ren zu kön­nen, aber nie­mand sie haben wollte.

Der Wein­berg­be­sit­zer stell­te sie ein mit dem Satz „Ich will euch geben, was gerecht ist“. Die Tage­löh­ner, die um 6 Uhr ange­stellt wur­den, denen wur­de ein gan­zer Dinar zuge­sagt. Der Teil der Tage­löh­ner, die zur drit­ten Stun­de (um 9 Uhr) ange­stellt wur­den, haben maxi­mal 3/​4 Dina­re erwar­tet, ver­mut­lich deut­lich weni­ger. Aber die Tage­löh­ner, die um 15 Uhr und um 17 Uhr ein­ge­stellt wur­den, hat­ten die Aus­sicht auf so gut, wie gar kei­nen Lohn, sie gin­gen aus rei­ner Ver­zweif­lung und Hoff­nung immer­hin ein biss­chen Essen für die Fami­lie ver­die­nen zu können!

Aspekt 5: Skandalöse Güte

Das Ein­stel­len von Tage­löh­nern um 17 Uhr war komisch, aber dass die­se, die nur 45 Minu­ten (in der Abend­küh­le!) gear­bei­tet haben, dann einen gan­zen Dinar (einen Tage­lohn!) beka­men war ein abso­lu­ter Skan­dal. Das war unvor­stell­bar. Die müs­sen gehüpft und getanzt haben vor Freu­de. Die­se Groß­zü­gig­keit war unvor­stell­bar und ohnegleichen.

Ab jetzt muss die Geschich­te durch die Augen derer gele­sen wer­den, die den gesam­ten Tag, 12 Stun­den, in der bru­ta­len Hit­ze des Tages hart gear­bei­tet haben. Die haben Groß­zü­gig­keit gese­hen und natür­lich auf mehr Lohn gehofft. Das ist ganz natür­lich. Ihre Ent­täu­schung war selbst­ver­ständ­lich. „Das ist unge­recht. Nicht fair.“

Der Wein­berg­be­sit­zer ant­wor­te­te freund­lich („Mein Freund“), mit einer sach­li­chen Infor­ma­ti­on (V.13) und einer Fra­ge (V.15). „Ich habe nie­man­dem Unrecht getan. Ich habe mich an alle Abspra­chen gehal­ten. Alles ist juris­tisch kor­rekt. Ich woll­te groß­zü­gig sein. Es war mein Wil­le. Es war kei­ne Pflicht. Mein Herz hat das gesagt.“ Er begrün­det sein Ver­hal­ten. Er ver­steht die Ent­täu­schung, aber er hat sich an sei­nen Teil der Abma­chung gehalten.

Für die erschöpf­ten Tage­löh­ner war es Unge­rech­tig­keit. Für sie wäre es gerecht gewe­sen, wenn sie mehr Gehalt oder die letz­ten Tage­löh­ner weni­ger bekom­men hät­ten. Aber die Güte und Groß­zü­gig­keit des Wein­berg­be­sit­zers über­traf die Vor­stel­lung von Gerech­tig­keit der Tage­löh­ner. Er wuss­te, dass die letz­ten Tage­löh­ner hun­gern­de Fami­li­en zu Hau­se hat­ten, die auf den gesam­ten Dinar ange­wie­sen waren, genau wie die Fami­li­en der Tage­löh­ner, die den gesam­ten Tag gear­bei­tet hatten.

Ver­ein­fach­te Gerech­tig­keit („jeder bekommt was er ver­dient“), die die Wur­zel von Pro­ble­men und den grö­ße­ren Kon­text igno­riert, kann die Not der Welt nicht lösen. Wenn Men­schen unschul­dig unter dem Recht der Welt lei­den, dann muss Güte begin­nen. Güte geht über das Recht hin­aus. Güte erkennt die Not und ist bereit die Extramei­le zu gehen.

Aspekt 6: Gericht

Mai­er weist dar­auf hin:

Der gan­ze 8. Vers wim­melt von bibli­schen Sym­bol­wör­tern: „Herr“ (κύριος [kyri­os]), „Wein­berg“, „Arbei­ter“, „Lohn“, „aus­zah­len“, „Abend“. Sie sind für die Hörer leicht zugäng­lich. Alle müs­sen begrei­fen, dass es um ein Gerichts­ge­sche­hen am Ende der Zei­ten geht“ (Mai­er 2017:204).

Wäh­rend die­ses Gleich­nis vie­le all­ge­mein­gül­ti­ge Wahr­hei­ten ent­hält, soll­te es dem­nach beson­ders im Lich­te des zukünf­ti­gen Gerichts Got­tes ver­stan­den werden.

Fazit: Was ist die Bedeutung des Gleichnisses?

Die Poin­te des Gleich­nis­ses ist:

Gott wählt die, die nie­mand sonst haben will. Aber nicht nur das, Got­tes Güte, sei­ne Groß­zü­gig­keit, über­trifft, was Men­schen als gerecht defi­nie­ren und führt des­halb oft zu Unver­ständ­nis und Zorn über die­se skan­da­lö­se Güte. Nie­mand kann glau­ben, wie gut und groß­zü­gig Gott wirk­lich ist (gera­de auch im Kon­text sei­nes zukünf­ti­gen Gerichts)! 

Die Schluss­fra­ge des Wein­berg­be­sit­zers ist ent­schei­dend: „Oder blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin?“ (Mt 20,15 ELB)

Die Tage­löh­ner, die den gesam­ten Tag gear­bei­tet haben, waren zor­nig über die skan­da­lö­se Güte des Wein­berg­be­sit­zers mit den letz­ten Tage­löh­nern. Die Fra­ge könn­te umfor­mu­liert wer­den: „War­um pro­tes­tierst du eigent­lich? War­um freust du dich nicht für dei­ne Brü­der und Schwes­tern? Ihr gehört doch alle zu den Ärms­ten, ihr seid doch eigent­lich eine Familie.“

Die eigent­li­che Fra­ge des Gleich­nis­ses ist: War­um freu­en wir uns nicht über Got­tes skan­da­lö­se Gna­de und Güte? Die besorg­nis­er­re­gen­de Wahr­heit ist, dass unse­re Empö­rung über Got­tes skan­da­lö­se Güte offen­bart, wie wenig wir von sei­nen Wer­ten und sei­nem barm­her­zi­gen Wesen ver­in­ner­licht haben.

Got­tes Güte über­trifft unser Den­ken. Er ist groß­zü­gi­ger, als wir es jemals ermes­sen kön­nen. Dies ist ein Grund zur Freu­de. Wenn sei­ne Güte uns wütend macht, dann ver­weist das dar­auf, dass wir das Maß sei­ner Barm­her­zig­keit und Groß­zü­gig­keit noch nicht ver­stan­den haben.

Bibliografie:

Fee, GD. & Stuart, D. 2015. Effek­ti­ves Bibel­stu­di­um: Die Bibel ver­ste­hen und aus­le­gen. Kind­le ed. Gie­ßen: Brun­nen Verlag.

Mai­er, Ger­hard. 2017. Das Evan­ge­li­um des Mat­thä­us: Kapi­tel 15–28. Her­aus­ge­ge­ben von Ger­hard Mai­er u. a., SCM R. Brock­haus; Brun­nen Verlag.

Snod­grass, K. 2018. Sto­ries with intent: a com­pre­hen­si­ve gui­de to the para­bles of Jesus. Kind­le ed. Grand Rapids: Wm. B. Eerd­mans Publi­shing Co.


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Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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