1000 Predigten, keine Veränderung? Der vergessenen Schlüssel in der Mission: Die Familie.

Tau­sen­de Pre­dig­ten – aber kei­ner weiß, wie man lie­be­voll strei­tet? Was Chris­ten in Deutsch­land vom Mis­si­ons­feld drin­gend ler­nen müs­sen: Fami­lie ist kein Rand­the­ma, son­dern der Ort, an dem Jesus-Nach­fol­ge prak­tisch wer­den muss.

Wie das Missionsfeld meine Theologie auf den Kopf gestellt hat

Zehn Jah­re auf dem Mis­si­ons­feld unter den Uner­reich­ten haben mei­nen Glau­ben radi­kal her­aus­ge­for­dert. Vie­les, was in Deutsch­land als selbst­ver­ständ­lich gilt, funk­tio­niert hier nicht. Ich muss hier Fra­gen stel­len, die mir in Deutsch­land nie begeg­nen wür­den – und ent­de­cke Ant­wor­ten, die ich in deut­schen Kir­chen nie hören wür­de. Ich wur­de her­aus­ge­for­dert, los­zu­las­sen, zu ler­nen und man­ches neu zu ent­de­cken – vor allem, wie Nach­fol­ge im All­tag ganz kon­kret aus­se­hen kann.

Der Theo­lo­ge Mar­tin Käh­ler sag­te einmal:

Mis­si­on ist die Mut­ter der Theologie.“

Und er hat­te recht. Die ers­ten Chris­ten ent­wi­ckel­ten ihre Theo­lo­gie nicht im Stu­dier­zim­mer, son­dern mit­ten im mis­sio­na­ri­schen All­tag – Pau­lus ringt unter­wegs um Fra­gen wie: Müs­sen Hei­den beschnit­ten wer­den? Wel­che Rol­le hat das Gesetz? Wie lesen wir das Alte Tes­ta­ment im Licht von Jesus?

Genau die­ses Rin­gen, das von Schei­tern, Ler­nen und Aus­pro­bie­ren geprägt war, hat auch mein theo­lo­gi­sches Den­ken ver­än­dert. Und ich bin über­zeugt: Was ich auf dem Mis­si­ons­feld ler­nen durf­te, ist nicht nur für Asi­en rele­vant – ich glau­be, dass die­se Lek­tio­nen auch für die Kir­che in Deutsch­land heil­sam und bele­bend sein kön­nen. Die bei­den fol­gen­den Geschich­ten basie­ren auf wah­ren Begebenheiten.

Zwei Leben, ein Evangelium – und zwei völlig verschiedene Resultate

Moo’s Weg zu Jesus – und der Bruch mit ihrer Familie

Moo hör­te zum ers­ten Mal von Jesus durch das Zeug­nis einer Kom­mi­li­to­nin. Sie folg­te der Ein­la­dung zu einer Evan­ge­li­sa­ti­on in einer loka­len Kir­che. Am drit­ten Abend der Evan­ge­li­sa­ti­on spür­te sie, wie etwas sie zu Jesus zog, und sie beschloss, ihr Leben Jesus zu geben. Vol­ler Begeis­te­rung frag­te sie, wie sie nun als Chris­tin leben solle.

Drei Din­ge wur­den ihr gesagt:

1) „Als Chris­tin musst du regel­mä­ßig den Got­tes­dienst besu­chen, um zu ler­nen, wie man sich als Christ verhält.“

2) „Ab sofort darfst du an kei­nen Akti­vi­tä­ten mehr teil­neh­men, die bud­dhis­ti­sche Ele­men­te ent­hal­ten, weil du das Chris­ten­tum und den Bud­dhis­mus nicht ver­mi­schen darfst.“

3) Du musst dei­ner gan­zen Fami­lie das Evan­ge­li­um erzäh­len, damit sie von einer Ewig­keit in der Höl­le geret­tet wer­den können.“

Eif­rig fing Moo an, die­se drei Din­ge umzu­set­zen. Sie fleh­te ihre Eltern an, sich vom Bud­dhis­mus abzu­wen­den und eben­falls Chris­ten zu wer­den. Doch die­se lehn­ten ab – für sie war das Chris­ten­tum die Reli­gi­on der Wei­sen. Christ zu wer­den kam ihnen wie ein Ver­rat an der eige­nen Kul­tur und Iden­ti­tät vor. Moo ver­pass­te kein Tref­fen ihrer Gemein­de. Sie hat­te immer weni­ger Zeit für ihre Fami­lie und ihre alten Freun­de. Moo ver­brach­te bald alle ihre freie Zeit in der Gemein­de. Dies führ­te zu einer Ent­frem­dung von ihrer Fami­lie und ihren alten sozia­len Netzwerken.

Als eini­ge Mona­te spä­ter ihre Tan­te starb, wei­ger­te sich Moo, an der Bestat­tung teil­zu­neh­men – weil sie bud­dhis­ti­sche Ele­men­te ent­hielt. Damit sand­te sie, wenn auch unbe­ab­sich­tigt, eine kla­re Bot­schaft an die gesam­te Groß­fa­mi­lie: „Ihr seid mir nicht mehr wich­tig.“ Moo war ihrer Fami­lie kom­plett fremd gewor­den – als hät­te man sie durch eine ande­re Per­son ersetzt. Ein loka­ler Pas­tor beschrieb die Situa­ti­on pas­send mit fol­gen­dem Satz:

Wenn unse­re Kir­che einen schwa­chen Chris­ten gewinnt, bekom­men wir zwei­hun­dert star­ke Fein­de aus den sozia­len Netz­wer­ken des Neubekehrten.

Moo ist kein Ein­zel­fall. Ihre Geschich­te wie­der­holt sich – mit unter­schied­li­chen Namen und Details – in zahl­lo­sen Familien.

Gaew’s Geschichte – und warum sie so anders verlief als Moo’s

Nach jahr­zehn­te­lan­ger Mis­si­ons­ar­beit in Asi­en wuss­te Greg, wie wich­tig Fami­lie im asia­ti­schen Kon­text ist. Als er Gaew ken­nen­lern­te und sie Inter­es­se an Jesus zeig­te, bat er sie, ihn ihrer Groß­fa­mi­lie vor­zu­stel­len. So bau­te er eine Bezie­hung mit der gesam­ten Groß­fa­mi­lie auf. Es gab vie­le Pro­ble­me und Streit in der Fami­lie. Greg begann, ihnen inmit­ten ihres All­tags bibli­sche Impul­se zu geben – beim gemein­sa­men Essen, Ein­kau­fen und wäh­rend Ausflügen.

Er lehr­te sie den Wert von Ver­ge­bung und Jesu Prio­ri­sie­rung der Lie­be. Der Fokus war auf rea­len Pro­ble­men. Greg lehr­te sie, wie sie Jesus inmit­ten ihres All­tags nach­fol­gen kön­nen. Nach und nach erkann­ten die Fami­li­en­mit­glie­der die Weis­heit in sei­nen Wor­ten – und wur­den offen für die Quel­le dahin­ter: Jesus selbst.

Immer mehr began­nen, Jesus und sei­nem Weg der Lie­be nach­zu­fol­gen. Jesus trans­for­mier­te die Fami­lie. Zer­strit­te­ne Fami­li­en­mit­glie­der ver­söhn­ten sich, der Umgang mit­ein­an­der wur­de lie­be­vol­ler und Pro­ble­me wur­den über­wun­den. Die Ver­än­de­rung in der Fami­lie war so offen­sicht­lich, dass die Nach­barn sich erkun­dig­ten, was die­se Ver­än­de­rung bewirkt hat­te. Das Zeug­nis der Fami­li­en­mit­glie­der ver­brei­te­te sich wie ein Lauf­feu­er. Heu­te fol­gen ca. 2000–3000 Men­schen aus die­ser uner­reich­ten Völ­ker­grup­pe Jesus nach, weil er die­se zer­strit­te­ne Fami­lie trans­for­miert hat.

Familien sind der Schlüssel – Zeit, unseren Fokus neu auszurichten

Was unter­schei­det die bei­den Geschich­ten? Es ist die Art und Wei­se, wie Jesus-Nach­fol­ge model­liert wur­de. Zahl­rei­che Mis­sio­lo­gen haben bereits die Pro­ble­ma­tik kri­ti­siert, dass wir Chris­ten dazu ten­die­ren, neue Gläu­bi­ge aus der Fami­lie zu extra­hie­ren und in eine christ­li­che Bubble hin­ein­zu­so­zia­li­sie­ren. Dies zer­stört die Chan­ce, dass die neue gläu­bi­ge Per­son effi­zi­ent als Zeug­nis in der eige­nen Fami­lie funk­tio­nie­ren kann. Mis­sio­lo­ge Alex Smith (2010:63) betont, dass der Glau­be sich am ein­fachs­ten ent­lang fami­liä­rer Netz­wer­ke aus­brei­tet. Die­se bie­ten idea­le Bedin­gun­gen für Evan­ge­li­sa­ti­on und Jün­ger­schaft, weil bereits tie­fe Bezie­hun­gen bestehen.

Daher for­dern vie­le Mis­sio­lo­gen, gan­ze Fami­li­en in den Blick zu neh­men – nicht Ein­zel­per­so­nen zu iso­lie­ren, son­dern sie dar­in zu beglei­ten, wie sie Jesus mit­ten in ihrem fami­liä­ren All­tag nach­fol­gen kön­nen. Wenn dabei prak­ti­sche Lie­be und die Wie­der­her­stel­lung von Bezie­hun­gen im Zen­trum ste­hen, wer­den die Neu­be­kehr­ten zu einem leben­di­gen Zeug­nis in ihrer Familie.

Was die Bibel betont – und wir oft übersehen

Warum deine Familie dein erstes Missionsfeld ist

Bis­her lag der Schwer­punkt dar­auf, dass Jün­ger­schaft invol­viert gan­ze Fami­li­en zu errei­chen und in sie zu inves­tie­ren. Doch Pau­lus erin­nert uns dar­an, dass die­se Prio­ri­tät der Fami­lie nicht nur für ande­re gilt – sie muss bei uns selbst begin­nen. Als Nach­fol­ger Jesu sind wir nicht nur dazu beru­fen, ande­re Fami­li­en zu stär­ken, son­dern unse­re Nach­fol­ge zuerst in der eige­nen Fami­lie zu leben. Pau­lus bringt die­se Prio­ri­sie­rung der Fami­lie mit über­ra­schen­der Schär­fe zum Ausdruck:

Denn wenn sich jemand nicht um sei­ne Ange­hö­ri­gen küm­mert, vor allem um diedie unter einem Dach mit ihm lebenver­leug­net er den Glau­ben und ist schlim­mer als jemand, der nicht an Chris­tus glaubt.“ (1 Tim 5,8 NGÜ)

Für Pau­lus war klar: Wer das Evan­ge­li­um ver­kün­det, muss es zuerst im eige­nen Haus leben. In einer Welt, in der Indi­vi­dua­lis­mus und Fami­li­en­zer­bruch zuneh­men, ist es not­wen­di­ger denn je, unse­re Auf­merk­sam­keit wie­der auf die Fami­lie zu rich­ten. Denn gera­de im Mit­ein­an­der der Fami­lie wird unser Glau­be auf die Pro­be gestellt – und sicht­bar. Die eige­ne Fami­lie zu ver­nach­läs­si­gen bedeu­tet, den Glau­ben zu ver­leug­nen.

Das wichtigste Gebot: die heilige „Dreieinigkeit“ der Liebe

Jesus hat das höchs­te Gebot so zusam­men­ge­fasst: Gott lie­ben, den Nächs­ten lie­ben und sich selbst lie­ben (vgl. Mt 22,36–40). Die­se drei Dimen­sio­nen sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den – eine Art „hei­li­ge Drei­ei­nig­keit der Lie­be“. Wenn wir eine die­ser Dimen­sio­nen ver­nach­läs­si­gen, gera­ten die ande­ren aus dem Gleich­ge­wicht. Chris­ten nei­gen oft dazu, den Fokus ein­sei­tig auf die Lie­be zu Gott zu legen – durch Lob­preis, Bibel­stu­di­um oder das Stre­ben nach kor­rek­ter Leh­re. Das alles ist wich­tig, doch Jesus macht unmiss­ver­ständ­lich klar: Unse­re Lie­be zu Gott zeigt sich in der Lie­be zum Nächs­ten (vgl. Joh 13,35; 1 Joh 4,20–21). Und die­se beginnt im All­tag – in der Art, wie wir mit unse­ren Ehe­part­nern, Kin­dern und den Men­schen in unse­rem unmit­tel­ba­ren Umfeld umgehen.

Revolution der Liebe – Jesu Bergpredigt im Alltag

Die Berg­pre­digt (Mt 5–7) ist eine prak­ti­sche Aus­ar­bei­tung die­ses höchs­ten Gebots. Sie zeigt, wie Lie­be kon­kret gelebt wird – nicht in idea­li­sier­ten Momen­ten, son­dern mit­ten im All­tag, in Bezie­hun­gen, im Umgang mit Kon­flik­ten und im Schmerz. In der Berg­pre­digt lehrt Jesus, was es bedeu­tet, ihm nach­zu­fol­gen. Jesus ruft sei­ne Jün­ger auf, das Salz der Erde und das Licht der Welt zu sein (Mt 5,13–16). Das bedeu­tet: geleb­te Lie­be im All­tag – sicht­bar, spür­bar, trans­for­mie­rend. Men­schen sol­len durch unser Leben Got­tes Schön­heit spü­ren kön­nen. Und wo soll die­ses Licht zuerst leuch­ten, wenn nicht in unse­rer Fami­lie, in unse­rem Zuhause?

Im wei­te­ren Ver­lauf der Berg­pre­digt legt Jesus eine radi­ka­le Ethik der Lie­be dar. Er ruft zur Ver­söh­nung auf, noch bevor man Got­tes­dienst fei­ert (Mt 5,23–24). Wer sei­nem Bru­der zürnt oder ihn ver­ach­tet, soll erken­nen, dass dies ernst und nicht zu ver­nach­läs­si­gen ist (Mt 5,21–22). Kon­flik­te im fami­liä­ren Kon­text – mit Part­ner, Kin­dern, Eltern oder Geschwis­tern – gehö­ren zu den häu­figs­ten und tiefs­ten Ver­let­zun­gen. Doch genau dort setzt Jesus an: Die Lie­be zu Gott zeigt sich dar­in, ob wir den Mut zur Ver­söh­nung aufbringen.

Auch den Umgang mit Sexua­li­tät und Ehe the­ma­ti­siert Jesus (Mt 5,27–32). In einer von der Sün­de zer­stör­ten Welt ruft Jesus zur Treue und inne­ren Rein­heit auf – ein The­ma, das bis heu­te in allen Ehen hoch­re­le­vant ist. Es geht um Her­zens­ver­wand­lung. Jesus will nicht äußer­li­che Geset­zes­treue, son­dern Inte­gri­tät in unse­ren Beziehungen.

Ein wei­te­rer zen­tra­ler Abschnitt han­delt vom Umgang mit Kon­flik­ten und Gewalt (Mt 5,38–42). Jesus lehrt, nicht zurück­zu­schla­gen, son­dern das Böse mit Gutem zu über­win­den. Die­se Hal­tung beginnt nicht im poli­ti­schen Akti­vis­mus, son­dern im Wohn­zim­mer – wenn wir ler­nen, nicht aus Wut oder Trotz zu reagie­ren, son­dern mit Sanft­mut, Geduld und Liebe.

Am Höhe­punkt steht die Fein­des­lie­be (Mt 5,43–48):

Liebt eure Fein­de und betet für die, die euch verfolgen.“

Die­se radi­ka­le Lie­be ist der tiefs­te Aus­druck von Got­tes Wesen. Genau die­ses Wesen sol­len auch wir wider­spie­geln. In der Fami­lie, wo wir uns am bes­ten ken­nen und am häu­figs­ten rei­ben, ist die­se Lie­be oft am schwers­ten – und gera­de des­halb am notwendigsten.

Die Berg­pre­digt zeigt: Die Lie­be, zu der Jesus uns ruft, ist kei­ne abs­trak­te Idee, son­dern ein Lebens­stil. Sie beginnt dort, wo unser Cha­rak­ter täg­lich geformt wird – im Umgang mit unse­rem Ehe­part­ner, unse­ren Kin­dern, Eltern und den Men­schen in unse­rem direk­ten Umfeld. Sie ist her­aus­for­dernd, kost­spie­lig und nicht sel­ten schmerz­haft. Aber genau dar­in liegt ihre Kraft: Sie ver­än­dert Men­schen. Sie ver­än­dert Fami­li­en. Und dadurch ver­än­dert sie die Welt.

Die Familie als zentraler Ort der Jüngerschaft

Die Berg­pre­digt ist das Mani­fest des Rei­ches Got­tes – und der Fami­li­en­all­tag ist das ers­te Übungs­feld. In der bibli­schen Per­spek­ti­ve ist die Fami­lie nicht nur ein Ort des Zusam­men­le­bens, son­dern der Ort, wo wir geist­lich wach­sen. Hier ler­nen wir Geduld, Ver­ge­bung, Demut und die­nen­de Lie­be – nicht in idea­li­sier­ten Momen­ten, son­dern mit­ten im Kon­flikt, in Schwä­che und im all­täg­li­chen Schei­tern. Des­halb ist es gera­de die Fami­lie, die zum frucht­ba­ren Boden für ech­te Nach­fol­ge wer­den kann.

Die Ver­nach­läs­si­gung der Lie­be in der Fami­lie führt zur Heu­che­lei. Denn wer Gott pre­digt, aber zu Hau­se lieb­los lebt, ver­fehlt das Evan­ge­li­um. Die Wie­der­her­stel­lung der Fami­lie ist daher kein neben­säch­li­ches The­ma, son­dern ein zen­tra­ler Aus­druck der Jesus-Nach­fol­ge. Nur wenn unser Glau­be im engs­ten Kreis glaub­wür­dig gelebt wird, kann er auch nach außen wir­ken. Denn eine gesun­de Fami­lie wird zur Quel­le der Hei­lung – für uns selbst, für unse­re Freun­de und für die Welt. Oder wie es ein asia­ti­scher Freund von mir sagte:

Ich will auch Jesus nach­fol­gen, denn ich habe ihn in dei­ner Fami­lie gesehen.

Ganz praktisch: So könnte es im Alltag aussehen

Themen, die fehlen – und warum das problematisch ist

Ich ken­ne vie­le Men­schen, die seit Jahr­zehn­ten treu in die Kir­che gehen und unzäh­li­ge Pre­dig­ten gehört haben – und trotz­dem kaum wach­sen in Rich­tung eines Jesus-ähn­li­chen Cha­rak­ters. Ich neh­me mich da gar nicht aus: Ich habe den Glau­ben mit der Mut­ter­milch in mei­ner from­men Lan­des­kir­che auf­ge­so­gen, spä­ter Theo­lo­gie stu­diert und ver­mut­lich tau­sen­de Pre­dig­ten gehört. Und doch mer­ke ich, dass ich in emo­tio­nal her­aus­for­dern­den Momen­ten im Fami­li­en­all­tag oft über­for­dert bin.

Es fällt mir schwer, mei­ne Gefüh­le gesund zum Aus­druck zu brin­gen, wenn ich ver­letzt bin – oder zu wis­sen wie ich lie­be­voll reagie­ren kann, wenn mei­ne Frau mir auf die Ner­ven geht (was natür­lich nur ganz sel­ten pas­siert). Obwohl ich tau­send­mal gehört habe, dass ich mei­nen Nächs­ten lie­ben soll, habe ich viel zu sel­ten gelernt, wie ich das im All­tag kon­kret tun kann.

Die­se Beob­ach­tung weist auf ein grund­le­gen­des Pro­blem hin: In unse­ren christ­li­chen Tref­fen legen wir oft ein­sei­tig den Fokus auf abs­trak­te Theo­lo­gie und geist­li­che Prin­zi­pi­en. Gott zu lie­ben wird gewöhn­lich mehr betont als wie wir unse­ren Nächs­ten lie­ben kön­nen. Damit wir ler­nen, Lie­be im All­tag zu leben, müs­sen wir als Chris­ten mehr und tie­fer über ganz prak­ti­sche The­men sprechen:

Wie kom­mu­ni­zie­re ich, ohne zu ver­let­zen? Wie löse ich lie­be­voll Kon­flik­te? Wie kann ich mei­ne Iden­ti­tät in Chris­tus fin­den und inne­re Wun­den hei­len? Wie set­ze ich gesun­de Gren­zen? Wie lebe ich eine lie­be­vol­le Part­ner­schaft und eine gesun­de Sexua­li­tät? Wie kann ich mei­ne Kin­der zur Rei­fe erzie­hen? Wie sieht ein gesun­der Lebens­stil aus der gut ist für Kör­per, See­le und Geist? Wie sieht ein gesun­der Umgang mit sozia­len Medi­en aus?

Die­se The­men sind kei­ne Neben­sa­chen – sie sind zen­tral, wenn wir Jesus wirk­lich nach­fol­gen und sein höchs­tes Gebot im All­tag umset­zen wol­len. Wir benö­ti­gen eine neue Balan­ce: Zwi­schen Theo­lo­gie und All­tags­the­men, zwi­schen Gott lie­ben und den Nächs­ten lieben.

Jesus ging zu den Menschen – und wir?

Wir Chris­ten nei­gen zu einer „Kommt-zu-uns“-Vorgehensweise: Wir leben in christ­li­chen Bubbles, laden Sün­der in unse­re Got­tes­diens­te ein und erwar­ten, dass sie sich an unse­re Kul­tur, Spra­che und Regeln anpas­sen. Damit legen wir die Last der Ver­än­de­rung auf ihre Schultern.

Doch Jesus leb­te den „Geht-zu-ihnen“-Ansatz: Jesus ist in unse­re zer­bro­che­ne Welt gekom­men, hat unse­re Rea­li­tät geteilt und „unter uns“ gewohnt (Joh 1,14). Er ging zu den Men­schen, begeg­ne­te ihnen in ihrer Welt, aß mit ihnen und mal­te ihnen Got­tes Lie­be mit sei­nem Leben vor Augen. Es ist unbe­quem, unter Sün­dern zu leben – aber genau das ist der Weg Jesu. Anstatt Men­schen in unse­re Welt zu zwin­gen, soll­ten wir ler­nen, wie wir in ihrer Welt glaub­wür­dig leben kön­nen – als lie­be­vol­le, demü­ti­ge und authen­ti­sche Nach­fol­ger Jesu.

Kanzel oder Wohnzimmer? Wo Jüngerschaft wirklich passiert

In tra­di­tio­nel­len Got­tes­diens­ten bestimmt der Pas­tor das The­ma – und alle hören die glei­che Pre­digt, unab­hän­gig davon, wel­che Her­aus­for­de­run­gen sie gera­de durch­le­ben. Doch jeder Mensch bringt ganz indi­vi­du­el­le, oft kom­ple­xe Fra­gen und Pro­ble­me mit. Die Wahr­schein­lich­keit, dass eine Pre­digt exakt ins eige­ne Leben spricht, ist sehr gering.

Viel hilf­rei­cher wäre ein Rah­men, in dem geziel­te Jün­ger­schaft gesche­hen kann: klei­ne Grup­pen, in denen Ver­trau­en wächst und jeder offen über sei­ne Kämp­fe spre­chen darf. Dort kann gemein­sam gesucht wer­den, wie die kon­kre­ten Pro­ble­me auf eine Jesus-zen­trier­te Wei­se ganz prak­tisch gelöst wer­den kön­nen. Nicht all­ge­mei­ne Theo­rie, son­dern per­sön­li­che und kon­kre­te Anwendung.

Der ent­schei­den­de Unter­schied liegt in der Rich­tung: Im Got­tes­dienst gibt es ein will­kür­lich gewähl­tes The­ma, und die Zuhö­rer sol­len ver­su­chen, eine pas­sen­de Anwen­dung für ihr Leben zu fin­den. In der Klein­grup­pe hin­ge­gen steht ein kon­kre­tes Pro­blem aus dem All­tag im Mit­tel­punkt – und gemein­sam wird nach einer bibli­schen, Jesus-zen­trier­ten Lösung gesucht. So wird Jün­ger­schaft vom Kon­sum zur ech­ten Lebensveränderung.

Warum Jüngerschaft ohne Verletzlichkeit nicht funktioniert

Ech­te Ehr­lich­keit über unse­re tiefs­ten Kämp­fe braucht einen geschütz­ten Rah­men. In vie­len Haus­krei­sen, die offen für jeden sind, fehlt oft das nöti­ge Ver­trau­en, beson­ders wenn eine Per­son als „nicht sicher“ wahr­ge­nom­men wird. Doch Ver­letz­lich­keit ent­steht nur dort, wo man sich ange­nom­men und ver­stan­den fühlt – meist in klei­nen, ver­trau­ten Gruppen.

Sol­che Grup­pen schaf­fen nicht nur Raum für offe­ne Gesprä­che, son­dern hel­fen auch dabei, das Gelern­te wirk­lich umzu­set­zen. Am Ende eines Tref­fens kann gemein­sam über­legt wer­den, wel­cher kon­kre­te Schritt im All­tag dran ist. Beim nächs­ten Mal wird lie­be­voll nach­ge­fragt, wie es gelau­fen ist – nicht mit Druck, son­dern mit Ermu­ti­gung und gegen­sei­ti­ger Unterstützung.

Wendepunkte nutzen: Jüngerschaft in den entscheidenden Momenten

Gro­ße Lebens­er­eig­nis­se wie eine Hoch­zeit, die Geburt eines Kin­des oder auch der Ver­lust eines gelieb­ten Men­schen bie­ten wert­vol­le Gele­gen­hei­ten zur Jün­ger­schaft. Freun­de kön­nen sich ver­sam­meln, um Erfah­run­gen, Ermu­ti­gung, Trost und Weis­heit wei­ter­zu­ge­ben. Ob im Rah­men einer fröh­li­chen Fei­er oder in gemein­sa­mer Trau­er – sol­che Momen­te schaf­fen Raum für tie­fe Gemein­schaft und geist­li­ches Wachs­tum, genau dort, wo das Leben uns prägt.

Fazit

Wenn wir Jesus-Nach­fol­ge ernst neh­men, müs­sen wir sie dort­hin zurück­ho­len, wo Leben geschieht: in die Fami­lie. Der Weg der Nach­fol­ge führt nicht weg vom All­tag, son­dern mit­ten hin­ein. Unse­re Nach­fol­ge beginnt nicht auf der Büh­ne, son­dern im Wohn­zim­mer – im ehr­li­chen, manch­mal chao­ti­schen Mit­ein­an­der mit den Men­schen, die uns am nächs­ten ste­hen. Wer Jesus fol­gen will, muss ler­nen, ihn zuerst in der eige­nen Fami­lie zu ver­kör­pern. Doch das genügt nicht. Wir dür­fen auch die Fami­li­en unse­rer Jün­ger nicht über­se­hen. Es geht nicht dar­um, ein­zel­ne Per­so­nen aus ihrem fami­liä­ren Umfeld her­aus­zu­lö­sen, son­dern dar­um, gan­ze Fami­li­en zu errei­chen, zu stär­ken und in die Jesus-Nach­fol­ge hin­ein­zu­füh­ren. Fami­lie ist kein Neben­schau­platz – sie ist das Herz­stück von Nach­fol­ge und Mis­si­on. Unse­re eige­ne. Und die der Men­schen, die wir beglei­ten. Denn eine gesun­de, lie­be­vol­le Fami­lie wird zum kraft­vol­len Zeug­nis – und zieht Men­schen zu Jesus, oft mehr als jede Pre­digt es könn­te. Denn die Kraft, die Natio­nen ver­än­dert, beginnt mit der Lie­be, die Fami­li­en verwandelt.

Bibliografie

Smith, AG. (2010). „Fami­ly net­works: the con­text for com­mu­ni­ca­ti­on“, in De Neui, P. (Ed.): Fami­ly and faith in Asia: the mis­sio­nal impact of social net­works. Pasa­de­na: Wil­liam Carey Libra­ry, 47–76.

Geschrieben von
Manuel Becker

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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