Adolf Schlatter verfasste im Lauf seiner akademischen Tätigkeit mehrere große Werke. Obwohl er damit keine eigene theologische Schule begründete, prägte seine Theologie die nachfolgenden Generationen. In Teil 3 unserer Artikelserie “Leben und Theologie von Adolf Schlatter” stellen wir Ihnen die wichtigsten Schriften sowie die Eckpunkte seiner Theologie vor und zeigen auf, wie er von Theologen der nachfolgenden Generationen rezipiert wurde.
Lesezeit: ca. 10 Minuten
Inhalt
- Adolf Schlatter: Seine großen Werke
- Die Theologie Adolf Schlatters – einige Schlaglichter
- Von Schlatter lernen – Reflexionen heutiger Theologen
- Adolf Schlatter: Oft ignoriert, aber von bleibender Bedeutung
Adolf Schlatter: Seine großen Werke
Der Glaube im Neuen Testament
Adolf Schlatter verfasste sein „Erstlingswerk“ „Der Glaube im Neuen Testament” im Rahmen einer Ausschreibung für eine Preisschrift unter immensen Zeitdruck. Es wurde 1885 von der Kommission angenommen und im selben Jahr veröffentlicht. Bis zum Jahr 1982 erschien dieses Werk in insgesamt sechs Auflagen.
Die akademische Welt zollte diesem Werk großen Respekt und Schlatter machte sich dadurch in der Wissenschaft einen Namen. Er schaffte in der Theologie seinen Durchbruch und wurde zu einem ernstzunehmenden Gesprächspartner. “Der Glaube im Neuen Testament” wurde auch zum Vorbild für das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT), das Adolf Schlatter gewidmet wurde.
Gerhard Kittel schrieb im Vorwort des ThWNT über die Widmung:
„Es spricht zugleich aus, daß ‚Der Glaube im Neuen Testament‘ uns ein Vorbild für die Untersuchung biblisch-theologischer Begriff ist. Es möchte aber darüber hinaus dem Achtzigjährigen etwas von dem Dank sagen, den Kirche und Theologie und insbesondere die neutestamentliche Wissenschaft seiner Lebensarbeit schulden.“
(Kittel, ThWNT I, S. VII).
Die Geschichte des Christus
“Die Geschichte des Christus” ist der Titel des ersten Bandes der zweiten Auflage von Adolf Schlatters Theologie des Neuen Testaments aus dem Jahr 1921. Die erste Auflage erschien in den Jahren 1909 und 1910 unter dem Titel “Das Wort Jesu”. Inhaltlich versuchte Schlatter, die Worte von Jesus auf dem Hintergrund von dessen Leben zu beleuchten.
Leitend für Schlatters Ansatz war dabei, eine Unterscheidung zwischen der Theologie des Neuen Testaments und der Dogmatik zu treffen. Er sah seine Aufgabe darin, in einer historischen Disziplin zu arbeiten und verzichtete daher in seiner Theologie des Neuen Testaments auf eine dogmatische Reflexion und jegliche Sachkritik.
Als Vertreter der empirischen Theologie wollte Schlatter vielmehr wahrnehmen, was zur Zeit der Bibel geschehen war. Zudem verwehrte er sich gegen historische Spekulationen in der Jesus-Forschung. Ausführlichere Informationen zu Adolf Schlatters Denkansatz finden Sie in seinem Aufsatz „Die Theologie des Neuen Testaments und die Dogmatik“.
Über die oft pauschale und ablehnende Kritik an diesem Werk schrieb Werner Neuer:
„Schlatter litt unter der isolierten Stellung, in der er sich mit seiner exegetischen Arbeit – über 20 Jahre nach Erscheinen seines großen neutestamentlichen Erstlingswerkes – noch immer befand: ‘… es kommt mir vor, ich kämpfe ganz allein gegen eine ganze Phalanx, gegen die geschlossene Reihe des ganzen deutschen Intellekts…’ Es war für ihn eine bittere Erfahrung, daß der schon in Bern schmerzlich vermisste Dialog mit der liberalen Theologie noch immer nicht wirklich in Gang gekommen war.“
(Neuer, Adolf Schlatter, S. 475).
Die Lehre der Apostel
Das Werk „Die Lehre der Apostel“ war der zweite und abschließende Band von Schlatters neutestamentlicher Theologie. Er zeigte darin auf, wie die Lehre und das Leben von Jesus mit der Lehre der Apostel übereinstimmen und eine Einheit bilden. Schlatter erkannte einen roten Faden, der sich durch die theologischen Grundpositionen des ganzen Neuen Testaments und zeigte diesen auf.
Das christliche Dogma
Nachdem Schlatter seine neutestamentliche Theologie veröffentlicht hatte, gab er (vermutlich als Fortsetzung und zusammenfassenden Abschluss) seine Dogmatik heraus. Dieses im Jahr 1911 veröffentlichte Werk war durchaus ungewöhnlich. Es bestand aus einer Mischung aus einer Theologie der Tatsachen und einer empirischen Theologie.
Schlatter begründete seine Dogmatik mit erkenntnistheoretischen Gründen, der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Gleichzeitig ging er davon aus, dass Gott sich selbst offenbart, sowohl in Jesus als auch in der Lehre der Apostel, aber auch in der Schöpfung. Bei Schlatter hatte die Dogmatik auch eine missionarische Dimension. Neben einer gründlichen Reflexion sollte sie auch zum Glauben verhelfen.
Schlatters Dogmatik wies einen durchaus eigenwilligen Aufbau auf. Er begann mit der Anthropologie. Diese war sehr umfassend. Anschließend beschrieb er die Christologie und die Soteriologie. Die Eschatologie bot den Abschluss des Werkes.
Werner Neuer schreibt über Schlatters Dogmatik:
„Obwohl Schlatters Dogmatik bis heute gewissermaßen ein Fremdkörper in der theologischen Landschaft geblieben ist, der methodisch und inhaltlich nicht schulbildend gewirkt hat, dürfte sie zu denjenigen Werken Schlatters gehören, die direkt oder indirekt den größten Einfluss auf die Theologie- und Kirchengeschichte des deutschsprachigen Raumes ausgeübt haben. Es ist schwerlich denkbar, daß Schlatter ohne ‚Das christliche Dogma‘ die Dogmatiker Paul Althaus (der seine Dogmatik als ‚große Befreiung‘ empfand!) und Wilhelm Lütgert als Schüler gewonnen hätte, die in ihren eigenen Arbeiten wesentliche Impulse von Schlatters dogmatischem Entwurf positiv aufnahmen und eigenständig weiterführten.“
(Neuer, Schlatter, S. 496).
Die christliche Ethik
Nach der Veröffentlichung seiner Dogmatik hatte Schlatter ursprünglich nicht vor, noch eine Ethik zu verfassen. Sein Kollege Karl Holl ermutigte ihn allerdings dazu und Schlatter ließ sich von dieser Idee überzeugen.
Schlatter verfasste daraufhin eine in ihrem Aufbau einzigartige Ethik. Er lehnte sich dabei an die Kardinaltugenden von Platon an: I. Wollen, II. Denken, III. Fühlen und IV. Kraft. Schlatter verfasste seine christliche Ethik allerdings mit dem Anspruch eines allgemeingültigen Charakters und nicht nur als eine Ethik für Wiedergeborene.
Dieses Werk von Schlatter wurde insgesamt sehr wohlwollend und mit positiven Kritiken aufgenommen. Es gilt als ein Werk mit Langzeitwirkung.
Die wissenschaftlichen Kommentare
Adolf Schlatter schrieb zwischen 1929 und 1937 seine neun großen wissenschaftlichen Kommentare zu einzelnen Büchern des Neuen Testaments. Diese können als Zusammenfassung seines exegetischen Lehrwerks betrachtet werden. In seiner Zeit als Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche empfahl Dietrich Bonhoeffer seinen Seminaristen die Kommentare von Adolf Schlatter zur Lektüre.
Adolf Schlatters Kommentare zeichneten sich zu seiner Zeit dadurch aus, dass sie stark auf das Judentum zur Zeit des ersten Jahrhunderts eingingen. Schlatter zog die Quellen aus dem pharisäischen und rabbinischen Judentum als Hintergrund für seine Exegese hinzu. Damit unterschied er sich von seinen Zeitgenossen, die die griechische Umwelt des NT stärker in den Blick nahmen.
Erläuterungen zum Neuen Testament
Adolf Schlatter verstand es, komplizierte Sachverhalte herunterzubrechen und in einer verständlichen Sprache zu vermitteln. Dies wurde in seiner allgemein verständlichen Auslegung zum Neuen Testament deutlich. Für den interessierten Christen schrieb er seine „Erläuterungen zum Neuen Testament”, die heute noch ein Standardwerk zum Nachschlagen und besseren Verstehen sind.
Die Theologie Adolf Schlatters – einige Schlaglichter
Da Adolf Schlatter ein äußerst produktiver und vielschichtiger Theologe war, ist es unmöglich, Schlatters Theologie an dieser Stelle umfassend zu beschreiben. Einige exemplarische Schlaglichter seien hier dennoch erwähnt.
Schlatters grundlegende Erkenntnis lautete, dass Offenbarung und Gotteserkenntnis immer Gaben von Gott sind. Gott kann – nach Schlatter – nur soweit erkannt werden, wie er sich dem Menschen zu erkennen gibt.
Die Einheit von Glaube und Wissenschaft bei Adolf Schlatter
Für Schlatter gehören Glauben und Denken, Geschichte und Offenbarung untrennbar zusammen. Theologie als Wissenschaft ist laut Schlatter nicht ohne Gott möglich, wie er es in seinem Aufsatz „Atheistische Methoden in der Theologie“ deutlich machte.
Gleichzeitig forderte Schlatter seine Leser heraus, den Glauben begründet zu durchdenken. Er wehrte sich gegen den Dualismus von Schleiermacher, bei dem der ‚Kopf heidnisch und das Herz fromm‘ ist. Die Wahrheitsfrage und die Gottesfrage gehörten für Schlatter eng zusammen.
Johannes von Lüpke schreibt über Schlatters Ansichten:
„Eine Theologie, die ihren Gegenstand auf das beschränkt, was sich ohne Zuhilfenahme des Gottesgedankens erkennen und somit allein aus der Welt erklären läßt, stürzt sich in einen tiefen Selbstwiderspruch: sie wird zur ‚atheistischen Theologie‘.“
(von Lüpke, Wahrnehmung der Gotteswirklichkeit, S. 55).
Für Schlatter boten Gottes Wort und die Geschichte einen untrennbaren Zusammenhang. Schlatter war es wichtig, die Bibel in ihrer Geschichte und nicht ohne diese auszulegen. Gleichzeitig ereignet sich Gottes Offenbarung in der realen Geschichte. Die Auseinandersetzung mit der Realität braucht der Glaube also nicht zu fürchten.
Exegese und Sehakt: Bibelauslegung bei Adolf Schlatter
Für Schlatter stand im Zentrum der Theologie als Wissenschaft die Wahrnehmung. Wissenschaft ist immer ein Sehen. Es geht darum, das Vorhandene zu beobachten. Wenig übrig hatte Schlatter hingegen für ausführliche Auseinandersetzungen mit literarischen Hypothesen. Er wollte, dass sich der Exeget auf den Text konzentriert und ihn zum Sprechen bringt.
Für Schlatter brachten nur Auslegungen, welche aus dem Text herausgelesen wurden, einen Fortschritt. Spekulationen lehnte er ab. Dies brachte ihm zum Teil die Kritik seiner Kollegen ein, war aber meines Erachtens eine Stärke von Schlatter. Nach der gründlichen Exegese, welche durch genaues Beobachten, also durch den Sehakt erfolgt, kommt bei Schlatter der Denkakt, sprich das dogmatische Urteil.
Adolf Schlatter und die Bibel
Schlatter saß mit seiner theologischen Position in gewissem Sinne zwischen zwei Stühlen. Teilen der pietistischen Kreise galt er als zu kritisch, liberale Theologen hingegen hielten ihn als bibelgläubigen Pietisten in Bezug auf die wissenschaftliche Arbeit für untüchtig.
Aber welches Verhältnis hatte Adolf Schlatter zur Bibel? Die Bibel galt Adolf Schlatter als das von Gottes Geist inspirierte Wort Gottes. Bei der Frage nach der Inspiration der Schrift ging es ihm um mehr als um die intellektuelle Richtigkeit. Für Schlatter bedeutete Inspiration, dass der Mensch so gestaltet wird, dass er es vermag, Gottes Wort zu sagen.
Für Schlatter gab es keinen Widerspruch zwischen einer Inspirationslehre und einem geschichtlichen Verständnis der Bibel. Auch war die Schrift für Schlatter autoritativ und verfügte über eine innere Einheit.
Adolf Schlatters Position zur Irrtumslosigkeit der Schrift
Eine Fehlerlosigkeit der Bibel vertrat Schlatter in dem Sinn, dass sie den Menschen zu Gott führt. In Bezug auf eine völlige Fehlerlosigkeit der Bibel in historischen Fragen und jedem einzelnen Wort schrieb Adolf Schlatter in seinem Aufsatz „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ (veröffentlicht in „Hülfe in Bibelnot“):
„Man hat zur Glaubwürdigkeit der Schrift oft dies gezählt, daß sie in jedem Wort vollständig richtig sei, daß sich nirgends ein Versehen, nirgends eine Dunkelheit, nirgends eine Verschiedenheit zwischen dem Sachverhalt und Darstellung zeige. Diese Fehlerlosigkeit besitzt die Bibel nicht, weder in ihrer Geschichtsschreibung, noch in ihrer Weissagung. So wie der Erzähler auf die Ereignisse zurückschaut, löst sich das geschichtliche Bild vom wirklichen Hergang ab, und die Weissagung erfährt durch die Erfüllung nicht bloß Bestätigung, sondern auch Berichtigung.“
Schlatter hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu den Unterzeichnern der Chicago-Erklärung gezählt. Unfehlbarkeit war für ihn ein Merkmal Gottes, das sich nicht auf Menschen oder Dinge überträgt, auch wenn diese im Dienst Gottes stehen. Nicht einmal die Bibel ist unfehlbar, sondern allein Gott, der die Schrift gibt.
Der Apostel ist nur dahingehend unfehlbar, dass er von Gott gebraucht wird. Gott gebraucht ihn in seiner Schwachheit und durch diese. Die Unfehlbarkeit der Bibel bedeutete für Schlatter, dass sie den Menschen mit Gott in Verbindung setzt und ihn auf gerader Straße sicher zu Gottes Ziel führt.
Adolf Schlatters Position zu den Einleitungsfragen
In Bezug auf die Einleitungsfragen der Bibel zeigte sich Adolf Schlatter offen für Positionen, die der traditionellen und pietistischen Sicht widersprachen. Dadurch zog er sich Kritik aus mehreren theologischen Lagern zu. Manchen Vertretern der liberalen Theologie galt er als zu „biblizistisch“, manchen Frommen hingegen als zu „bibelkritisch“.
Anlass für die Kritik aus den Reihen der Pietisten gab zum Beispiel die Tatsache, dass Adolf Schlatter historische Irrtümer in der Bibel nicht ausschloss. Auch der Frage der Pseudepigraphie stand er nicht völlig ablehnend gegenüber. So schrieb er den 2. Petrusbrief einem unbekannten Verfasser, einem „im Namen des Petrus Schreibenden“ zu.
In seinem Werk „Die Theologie der Apostel“ äußerte er sich folgendermaßen:
„Indem hier ein Christ nicht in seinem eigenen, sondern im Namen des Petrus schreibt, bringt er zum Ausdruck, daß das Gewicht des apostolischen Worts alles überrage, was die gegenwärtige Gemeinde besitzt. Kein Wort eines der jetzt Lebenden hat dieselbe Autorität. Ein gewisses Verzagen der Gemeinde an der Kraft, die ihr nach dem Tod der Apostel blieb, wird darin sichtbar, aber auch die Einsicht, daß nichts von dem, was die Gemeinde hervorbringe, mit dem apostolischen Wort vergleichbar sei. Indem der Schreiber die Gemeinde im Namen des Petrus an das erinnern will, was sie erhalten hat, bezeichnet er die Erinnerung, die immer wieder auf das apostolische Wort zurückgreift, als die Bedingung für den Bestand der Kirche.“
(Schlatter, Die Theologie der Apostel, S. 480).
Der Tübinger Theologe und Altbischof Dr. Gerhard Maier schreibt zu Schlatters Schriftlehre:
„Seine Bejahung der Inspiration der ganzen Schrift, ihrer Einheit, ihrer exklusiven Autorität, ihrer vom göttlichen Zweck her bestimmten Unfehlbarkeit, ihrer Verständlichkeit und die Ablehnung eines Kanons im Kanon bewahren wesentliche hermeneutische Grundsätze der reformatorisch-vorkritischen Schriftauslegung. In seiner Position ist Schlatter meilenweit auch vom gemäßigten Kritizismus entfernt, der ihn heute so gerne für sich beansprucht. Darüber hinaus hat Schlatter durch seinen positiven Bezug zur Geschichte einen entscheidenden Mangel der Beck’schen Hermeneutik überwunden.“
(Maier, Biblische Hermeneutik, S. 314).
Bekehrung bei Schlatter
Für Adolf Schlatter ist die Bekehrung eng mit der Wiedergeburt und der Rechtfertigung des Sünders verbunden. Hier wird auf die eigene Gerechtigkeit verzichtet und nach Gottes Gerechtigkeit in Reue gegriffen. Er schreibt:
„Wir trennen uns durch die Bekehrung von demjenigen bösen Willen, den wir in uns als den unserigen finden; wir können ihn aber nicht wirklich verneinen und richten, ohne daß damit zugleich auf alles Böse verzichtet ist. An die Stelle der konkreten Sünde tritt der konkrete Akt des Gehorsams, der Gottes Willen so erkennt und tut, wie er sich uns in diesem Moment bezeugt. … Die Aufnahme des göttlichen Willens in unseren Willen macht den Menschen für immer und in allen Beziehungen Gott untertan und zu seinem Dienst bereit.“
(Schlatter, Das christliche Dogma, S. 502).
Eine teilweise Umkehr ist für Schlatter keine richtige Umkehr. Sie muss vollständig sein. Neben der erstmaligen Bekehrung gilt es, nach Schlatter, aber auch regelmäßig Buße zu tun. Als Gerechtfertigter hat der Mensch die Aufgabe, eine bleibende Buße zu leben, was eine Absage an die Sünde zur Folge hat. So ist die Bekehrung die Abstoßung vom Bösen und der Griff nach dem Guten.
Adolf Schlatter und das Gericht Gottes über den Sünder
Welche Sicht vertrat Schlatter im Bezug auf einen doppelten Ausgang im jüngsten Gericht?
In seiner „Auslegung zum Neuen Testament“ schreibt Schlatter zu Markus 9,47–47:
„Wenn der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht, so heißt uns das an einen Tod denken, auf den kein Leben folgt, an einen endgültigen und bleibenden Tod, durch den uns Gott und sein Reich voll Licht und Leben für immer verloren ging.“
(Schlatter, Die Evangelien nach Markus und Lukas, S. 84).
An anderer Stelle schreibt er in seinem wissenschaftlichen Kommentar:
„Der Wurm und das Feuer sind zusammengestellt, weil beide die Leichen zerstören. Ihr zerstörendes Wirken, das sie an den Toten üben, hat kein Ende; das heißt: die Gerichteten haben das Leben endgültig verloren und bleiben im Tod“
(Schlatter, Markus: Der Evangelist für die Griechen, S. 182).
Die Sichtweise, dass Schlatter ein Vertreter der Lehre der Auslöschung des Menschen in der Hölle war, darf allerdings bezweifelt werden, da er in seinem Werk „Die Geschichte des Christus“ schreibt:
„Dagegen läßt das Schlußwort bei Matthäus an eine andauernde Bestrafung denken, da dort das Feuer nicht nur den Menschen, sondern auch dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist und die Strafe immerwährend heißt im vollen Gegensatz zum ewigen Leben.“
(Schlatter, Die Geschichte des Christus, S. 356)
Aus seinem Werk „Die christliche Dogmatik“ lässt sich schließen, dass Schlatter von einem dauerhaften Existieren in der Trennung von Gott ausgeht. So schreibt Schlatter:
„Der Vorschlag, den Bilderkreis zu mildern, durch den die neutestamentlichen Worte die Schwere der endgültigen Trennung von Gott darstellen, hat geringen Wert. Da die Verurteilung uns von Gott trennt, nimmt sie uns das Leben; sie überweist uns dem Tod. Mit diesem Satz verbindet sich aber der andere Gedanke, daß uns das Sterben nicht die Vernichtung des Daseins bringe. So entsteht der Gedanke an ein Gefängnis, das die Verurteilten einschließe, nicht an ein zerstörendes Feuer, das ihre Existenz aufhöbe, sondern an einem Feuersee, in dem sie begraben seien. Genauen, lehrhaften Wert kann keines unserer Bilder haben, mit denen wir uns das Ewige vorstellen, nicht nur deshalb, weil wir sie aus der jetzt uns sichtbaren Natur schöpfen, sondern auch deshalb, weil unsere inwendige Vollendung das uns jetzt erreichbare Denken gänzlich überragt, jene Vollendung, bei der kein Zwist mit Gottes Willen mehr in uns ist, weil wir ganz mit ihm geeinigt sind, ganz eins mit seinem Richten, ganz ein mit seiner Liebe.“
(Schlatter, Das christliche Dogma, S. 552–553).
Von Schlatter lernen – Reflexionen heutiger Theologen
Auf alle Theologen, die Schlatter reflektieren, kann hier selbstverständlich nicht eingegangen werden. Die getroffene Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Beispielhaft kommen an dieser Stelle Ulrich Wilckens, Gerhard Maier und Heinzpeter Hempelmann zur Sprache.
Ulrich Wilckens über Adolf Schlatter
Ulrich Wilckens würdigt Schlatter kritisch in seinem dritten Band der Theologie des Neuen Testaments, in dem sich Wilckens mit der Geschichte der historisch-kritischen Bibelforschung auseinandersetzt.
Wilckens schreibt über Schlatters Gesamtwerk:
„Man kann an Schlatters Gesamtwerk so deutlich wie bei keinem der anderen Pietisten des 19. Jahrhunderts erkennen, dass die Gottesfrage das zentrale Problem des Christentums und der Theologie der Neuzeit gewesen ist.”
(Wilckens, Theologie NT III, S. 239).
Gleichzeitig weiß Wilckens Schlatter an einigen Stellen zu kritisieren. So moniert er an Schlatters Inspirationslehre, dass diese einer Literarkritik entgegenstehe. Auch kritisiert Wilckens Schlatters Sicht, dass alle in den Evangelien verfassten Berichte bei ihm als geschichtlich-wirklich gelten und nichts Ungeschichtliches zu finden sei.
Wilckens sieht des Weiteren bei Schlatter eine Ausklammerung des Alten Testaments bei der Darlegung der neutestamentlichen Theologie.
Gerhard Maier über Adolf Schlatter
Auch der frühere Landesbischof von Württemberg, Dr. Gerhard Maier, würdigt Schlatters Werke in seinem Werk „Biblische Hermeneutik“.
Maier würdigt, dass Schlatter die Inspiration der Schrift, ihre Einheit und ihre exklusive Autorität bejaht, sowie ihre vom göttlichen Zweck her bestimmt Unfehlbarkeit. Er bemängelt allerdings, dass Schlatter gelegentlich auch Schriftkritik betreibe, wie in seiner Ablehnung der Verfasserschaft von Petrus beim 2. Petrusbrief klar wird.
Maiers Fazit zu Schlatter lautet:
„Die erwähnten Bedenken bezüglich der Schlatter’schen Erkenntnislehre, Kritik und Anthropozentrik bewegen uns dazu, zwar die Gemeinschaft mit Schlatter zu suchen, aber unsere eigene hermeneutische Position nicht einfach mit der seinen zu identifizieren.“
(Maier, Biblische Hermeneutik, S. 316).
Heinzpeter Hempelmann über Adolf Schlatter
Für Heinzpeter Hempelmann war Adolf Schlatter ein theologischer Universalgelehrter. Der pietistisch geprägte Theologe bezeichnet Schlatter als den Theologen, auf den er seit seinem Studium und bis heute immer wieder zurückgegriffen habe. Hempelmann tut dies auch in seiner „Hermeneutik der Demut“. Er schreibt über Schlatter:
„Es gibt kaum einen anderen Theologen, der für meinen persönlichen Weg ähnlich prägend gewesen ist wie Adolf Schlatter; es gibt kaum einen Theologen, auf den ich immer wieder zurückgegriffen habe und den ich auch bis zur Stunde immer wieder neu lese; bei dem ich immer wieder neu entdecke, wenn ich selbst vor Herausforderungen stehe und dann sehen muß: Schlatter ist schon da, wo ich jetzt erst ankomme. … Adolf Schlatter ist ein Gigant. Er ist nicht nur Exeget gewesen, und das schließt bei ihm ja schon die Judaistik mit ein, – sondern auch Dogmatiker und Ethiker, ja selbst Philosoph von Rang.“
(Hempelmann, Schlatter als Ausleger der Heiligen Schrift, S. 67–68).
Adolf Schlatter: Oft ignoriert, aber von bleibender Bedeutung
Schlatter gehört zu den Theologen, die nicht vergessen werden dürfen. Aufgrund seiner Profilierung eckte er aber an. Während sein exegetisches Werk immer wieder gewürdigt wurde, wurde seine Arbeit im Bereich der Systematischen Theologie oft ignoriert und das, obwohl sie prägend und wertvoll ist.
Ulrich Wilckens schreibt über dieses Missverhältnis und seine Wahrnehmung, dass Schlatters Werke übergangen werden:
„Dass er jedoch in den theologiegeschichtlichen Werken bis in die Gegenwart zumeist übergangen, ja oft sogar nicht einmal namentlich erwähnt wird, ist allerdings ganz ungerecht und zeugt von einer Unwilligkeit, sich auf kritische Fragen vonseiten ‚evangelikaler‘ Theologie überhaupt ernsthaft einzulassen.“
Und in der Fußnote ergänzt Wilckens:
„Das gilt für Emanuel Hirsch genauso wie sogar für Karl Barth. Auch W. Pannenberg erwähnt in seiner Problemgeschichte der neueren Theologiegeschichte, in der Schlatter doch jedenfalls einen gewichtigen Platz gehabt hat, ihn nicht ein einziges Mal.“
(Wilckens, Theologie NT III, S. 240).
Für den Pietismus und für Theologen mit evangelikaler Frömmigkeit dürften die Werke von Schlatter eine überragende Bedeutung haben und behalten, auch wenn Schlatter meines Erachtens nach nicht als ein klassischer Evangelikaler zu sehen ist. Diesen theologischen Strömungen dürfte Schlatter ein Vorbild für eine fromme und zutiefst wissenschaftliche Theologie sein, die in die Glaubenspraxis führt.
Im 4. Teil dieser Artikelreihe lesen Sie, wie Adolf Schlatter sich gegenüber dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus seiner Zeit positioniert hat.