Die Synoptischen Evangelien auf dem Prüfstand

Wer ist Rudolf Bult­mann? Was hat Gott­hold Ephra­im Les­sing mit den syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en zu tun? War­um wird eine mög­li­che Abhän­gig­keit der ers­ten drei Bücher des Neu­en Tes­ta­ments dis­ku­tiert? Wie glaub­wür­dig und authen­tisch sind die so genann­ten syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en? Und was hat das alles mit mei­ner täg­li­chen Bibel­le­se zu tun?

Ver­schaf­fen Sie sich in 9 Minu­ten einen kom­pri­mier­ten Über­blick über die inhalt­li­che Über­ein­stim­mung der syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en und vor allem über ihre Rele­vanz. Ich möch­te Ihnen die­sen Über­blick anhand eines bekann­ten Stan­dard­wer­kes von Eta Lin­ne­mann geben.

Wie viele Evangelien haben wir?

Ich glau­be nur an das eine Evan­ge­li­um! Schön! Rich­tig!!! Aber war­um gibt es im Neu­en Tes­ta­ment vier Berich­te, die sich teil­wei­se sogar zu wider­spre­chen schei­nen? Jedoch schei­nen sie an ande­ren Orten von­ein­an­der abge­schrie­ben zu haben. Die ers­ten vier Bücher des Neu­en Tes­ta­ments, die Berich­te von Mat­thä­us, Mar­kus, Lukas und Johan­nes, wer­den in der Bibel­wis­sen­schaft „Evan­ge­li­en“ genannt.

Die synoptischen Evangelien

Die ers­ten drei Evan­ge­li­en tra­gen seit 1774 den Namen Syn­op­se (grie­chisch: Zusam­men­schau). Seit dem 18. Jahr­hun­dert nennt man Mat­thä­us, Mar­kus und Lukas ein­fach die Syn­op­ti­ker. Liest man die­se drei Evan­ge­li­en zeit­nah oder gar in einer Evan­ge­li­en­har­mo­nie, so stellt man gewis­se Gemein­sam­kei­ten fest. Im Ver­gleich oder eben in der Syn­op­se ähneln sich die Evan­ge­li­en zum Teil sehr stark. In der Aus­wahl, in der Anord­nung und im Wort­laut der Tex­te sind die­se Evan­ge­li­en oft so eng mit­ein­an­der ver­bun­den, dass die­se drei­fa­che Über­lie­fe­rung eine gemein­sa­me Betrach­tung gera­de­zu not­wen­dig macht.

Das synoptische Problem

Nun, eine gewis­se Abhän­gig­keit und Ähn­lich­keit liegt auf der Hand; schließ­lich berich­ten die Evan­ge­lis­ten von den glei­chen Ereig­nis­sen. Da ist eine gewis­se Ähn­lich­keit wohl legi­tim und nach­voll­zieh­bar. Aber ganz so ein­fach ist es dann doch nicht. Die lite­ra­ri­schen Bezie­hun­gen zwi­schen den drei Evan­ge­li­en sind zum Teil so eng, dass eine von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Ent­ste­hung kaum mög­lich erscheint. Wie ist die­ses merk­wür­di­ge Neben­ein­an­der von Über­ein­stim­mung und Dif­fe­renz zu erklä­ren? In der Alten Kir­che hat man die Ähn­lich­keit des grie­chi­schen Tex­tes zwar bemerkt, aber nie als Pro­blem emp­fun­den. Dann trat Gott­hold Ephra­im Les­sing auf die Bild­flä­che. Er war einer der ers­ten, der dar­in ein gro­ßes Pro­blem sah. Sei­ne Hypo­the­se lau­te­te: Das Mat­thä­us­evan­ge­li­um ist das ursprüng­lichs­te und Lukas, Mar­kus und die apo­kry­phen Evan­ge­li­en haben es als Quel­le benutzt. Die­se Hypo­the­se wird in der For­schung auch als Ure­van­ge­li­en­hy­po­the­se bezeichnet.

Die Zwei-Quellentheorie

Die­se star­ke Sicht einer Abhän­gig­keit, wenn nicht gar Kopie, hat sich in die evan­ge­li­sche For­schung gemei­ßelt wie ein Bild­hau­er sei­nen Stein behaut. Sie ahnen viel­leicht schon, in wel­che Rich­tung sich die For­schung seit Les­sing ent­wi­ckelt hat. Zwar wur­de die Mar­kus­prio­ri­tät (Nicht mehr Mat­thä­us) in der For­schung bald Kon­sens, aber das syn­op­ti­sche Pro­blem blieb natür­lich bestehen. Die aktu­ells­te For­schung geht von einer soge­nann­ten Zwei-Quel­len­theo­rie aus. Dar­in gäbe es die bei­den Haupt­quel­len Q und das Mar­kus­evan­ge­li­um, wobei Lukas und Mat­thä­us auf die­se bei­den Quel­len zurück­ge­grif­fen hät­ten. Bei einer Abwei­chung geht man dann von einer wei­te­ren, eige­nen Quel­le aus.

Die Relevanz der synoptischen Evangelien

Wenn nun ein Evan­ge­list von einem ande­ren abschreibt, kann er kaum selbst als Augen­zeu­ge berich­ten. War­um sonst soll­te er sich einer ande­ren Quel­le bedie­nen? Und wenn selbst ein Mat­thä­us und ein Lukas mit dem kür­zes­ten Bericht des Mar­kus kri­tisch umge­hen, gibt uns das nicht die Legi­ti­ma­ti­on, das auch heu­te zu tun? Und so kom­me ich mit die­ser Rezen­si­on zum ers­ten Zitat von Eta Lin­ne­mann, wenn sie im Vor­wort schreibt:

Aus der unter­stell­ten Eigen­mäch­tig­keit die­ser Evan­ge­lis­ten wird nicht nur auf ein ähn­li­ches Ver­fah­ren bei Mar­kus zurück­ge­schlos­sen, son­dern die his­to­risch-kri­ti­schen Theo­lo­gen lei­ten dar­aus auch das Recht ab, sel­ber eigen­mäch­tig mit Got­tes Wort umzu­sprin­gen.“ (Lin­ne­mann, 1999:11).

Die Klä­rung und Beant­wor­tung der syn­op­ti­schen Fra­ge ist auto­ma­tisch mit der Fra­ge nach dem kri­ti­schen Umgang mit dem Wort Got­tes ver­bun­den. In der evan­ge­li­schen For­schung ist die syn­op­ti­sche Fra­ge und deren Beant­wor­tung ein Eck­pfei­ler der his­to­risch-kri­ti­schen Metho­de. Aber ist das die ein­zi­ge Ant­wort auf die syn­op­ti­sche Fra­ge? Ich möch­te Sie nun auf eine Rei­se durch Linnemann’s Buch und ihre Argu­men­ta­ti­ons­ket­te mit­neh­men. Ver­su­chen Sie dabei, so objek­tiv, kri­tisch und miss­trau­isch wie mög­lich zu sein. Ob man eine sol­che Hal­tung nicht nur bei mensch­li­chen Tex­ten, son­dern auch gegen­über dem Wort Got­tes ein­neh­men darf oder gar muss, wird sich viel­leicht im Lau­fe der Rezen­si­on noch her­aus­stel­len. Doch bevor ich auf die­se Argu­men­ta­ti­on ein­ge­he, möch­te ich die Autorin und ihre Tra­di­ti­on selbst vorstellen.

Eta Linnemann

Eta Lin­ne­mann (1926–2009) war evan­ge­li­sche Theo­lo­gin. Sie stu­dier­te in Mar­burg, Tübin­gen und Göt­tin­gen. Eini­ge Jah­re spä­ter, um 1970, habi­li­tier­te sie sich bei Rudolf Bult­mann und Ernst Fuchs. Bei­de Pro­fes­so­ren sind für ihre his­to­risch-kri­ti­sche Metho­de der Bibel­aus­le­gung bekannt. Lin­ne­mann erreg­te 1978 Auf­se­hen, als sie sich auf­grund eines Bekeh­rungs­er­leb­nis­ses von der kon­se­quen­ten his­to­risch-kri­ti­schen Metho­de los­sag­te und um die Ver­nich­tung ihrer bis­he­ri­gen Ver­öf­fent­li­chun­gen bat. Von da an blieb sie zwar in der neu­tes­ta­ment­li­chen For­schung, nann­te ihre Theo­lo­gie aber Bibli­sche Theo­lo­gie. Damit ist sie metho­disch mit Ger­hard Mai­er und Hel­ge Sta­del­mann der pro­tes­tan­tisch-evan­ge­li­ka­len Bibel­wis­sen­schaft zuzuordnen.

Ihre Publikationen

Eta Lin­ne­mann hat sich seit ihrer Abkehr von ihrem Leh­rer Bult­mann stark dafür ein­ge­setzt, Lai­en und Theo­lo­gen die mög­li­chen Schat­ten­sei­ten der his­to­risch-kri­ti­schen Metho­de vor Augen zu füh­ren. In ihren fol­gen­den Publi­ka­tio­nen stellt sie jeweils ein bestimm­tes The­ma der his­to­risch-kri­ti­schen Metho­de und der biblisch-erneu­er­ten Theo­lo­gie gegenüber.

Die historisch-kritische Methode

Spä­tes­tens jetzt bin ich Ihnen eine Defi­ni­ti­on schul­dig. Ich mag eine defi­ni­ti­ve Defi­ni­ti­on gera­de in so Berei­chen nicht, weil sie für gewöhn­lich nicht in einem Kon­sens steht. In aktu­el­ler Debat­te sei die­se Sach­la­ge am Wort Per­son gezeigt. Wie man die­ses deut­sche Wort Per­son defi­niert endet letzt­lich dar­in, wie man über Geschlech­ter und gar die mög­li­che Legi­ti­ma­ti­on von Abtrei­bung denkt. Wann beginnt ein Mensch (oder eben ein unge­bo­re­nes Kind/​Embryo), ein Mensch zu sein? Sobald also von Per­son die Rede ist, sei es im poli­ti­schen Kon­text oder in der kirch­li­chen Ethik­de­bat­te, stellt sich die Fra­ge, wie die­ser Begriff zu defi­nie­ren ist.

Modernes Methodenbündel

Über­tra­gen auf die­ses Metho­den­bün­del der Bibel­wis­sen­schaft, ist es auch schwie­rig, die Wort­grup­pe his­to­risch-kri­ti­sche Metho­de zu defi­nie­ren. Eine brauch­ba­re Arbeits­de­fi­ni­ti­on lie­fert Wer­ner Georg Küm­mel in sei­ner Theo­lo­gie des Neu­en Tes­ta­ments. Er stellt dar­in fest, dass sich

In der zwei­ten Hälf­te des 18. Jahr­hun­derts im Zusam­men­hang mit der geis­ti­gen Bewe­gung der Auf­klä­rung inner­halb der pro­tes­tan­ti­schen Theo­lo­gie die Erkennt­nis durch­zu­set­zen begann, dass die Bibel ein von Men­schen geschrie­be­nes Buch sei, dass wie jedes Werk mensch­li­chen Geis­tes nur aus der Zeit sei­ner Ent­ste­hung und dar­um nur mit den Metho­den der Geschichts­wis­sen­schaft sach­ge­mäß ver­ständ­lich gemacht wer­den kön­ne.“ (Küm­mel, 1980:12)

Es sind also bestimm­te Aus­le­gungs­re­geln, die seit der Auf­klä­rung als vor­herr­schen­de Metho­de in der evan­ge­li­schen (und teils auch katho­li­schen) Bibel­wis­sen­schaft durch­ge­drun­gen sind. Ihr Höhe­punkt erreich­te die his­to­risch-kri­ti­sche Metho­de wohl mit Rudolf Bult­mann (1884–1976).

Entmythologisierung der Bibel

Sei­ne kon­se­quen­te Metho­de der Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung der Bibel beruht auf der Grund­la­ge, die Bibel mit allen in der Moder­ne zur Ver­fü­gung ste­hen­den Metho­den zu inter­pre­tie­ren. Durch das neue, moder­ne Welt­bild seit Gali­lei konn­te vie­les (natür­lich bei wei­tem nicht alles) logisch erklärt wer­den. Die­ser logi­sche Anspruch soll­te nun auch auf die Bibel über­tra­gen wer­den. In der Kon­se­quenz schaff­te man das Wun­der­ver­ständ­nis ab. Bult­mann woll­te die Bibel als moder­ner Mensch lesen und ver­ste­hen. Aber die­se Wun­der, in ihrem Höhe­punkt natür­lich die leib­haf­te Auf­er­ste­hung eines Got­tes­soh­nes, der Mensch und Gott zugleich sein soll­te, pass­ten nicht in sein moder­nes Welt­bild. Doch hören Sie selbst die Wor­te Bultmanns:

Die­se Geschlos­sen­heit (der Geschich­te) bedeu­tet, dass der Zusam­men­hang des geschicht­li­chen Gesche­hens nicht durch das Ein­grei­fen über­na­tür­li­cher, jen­sei­ti­ger Mäch­te zeris­sen wer­den kann, dass es also kein Wun­der in die­sem Sin­ne gibt. Ein sol­ches Wun­der wäre ja ein Ereig­nis, des­sen Ursa­che nicht inner­halb der Geschich­te läge.“ (Bult­mann, 1957:143).

Bult­mann ent­my­tho­lo­gi­sier­te also die Bibel, indem er alle Wun­der ein­fach weg­er­klär­te. Die Pla­gen in Ägyp­ten (Exodus) hat­ten bei ihm plötz­lich natur­wis­sen­schaft­li­che Erklä­run­gen. Eine sol­che kon­se­quen­te Bibel­kri­tik ende­te gröss­ten­teils mit Bultmann.

Die Alternative: Eine biblisch-erneuerte Theologie

Neue­re evan­ge­li­sche Theo­lo­gen wie Peter Stuhl­ma­cher, Armin Siers­zyn, Ger­hard Mai­er und eben Eta Lin­ne­mann sahen die Ein­sei­tig­kei­ten und Feh­ler der Metho­de, so dass sie zu den Begrün­dern einer bibli­schen Theo­lo­gie gezählt wer­den kön­nen. Eine Aus­le­gungs­me­tho­de, die zwar die Bibel in Ort und Zeit mit vie­len der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Aus­le­gungs­me­tho­den aus­legt, aber Gott und sein Wir­ken nicht unbe­dingt in ein moder­nes Welt­bild pres­sen muss. Eine Metho­de, die letzt­lich Gott Gott sein lässt. Zudem eine Metho­de, die Wun­der­be­rich­te als his­to­ri­sche Gestalt wahr­neh­men und glau­ben kann. Pas­send und fast pro­phe­tisch hat es Karl Barth bereits 1922 in sei­nem Vor­wort zum Römer­brief geschrieben:

Die his­to­risch-kri­ti­sche Metho­de hat ihr Recht, sie weist hin auf eine Vor­be­rei­tung des Ver­ständ­nis­ses, die nir­gends über­flüs­sig ist. Aber wenn ich wäh­len müss­te zwi­schen ihr und der alten Inspi­ra­ti­ons­leh­re, ich wür­de ent­schlos­sen zu der letz­te­ren grei­fen: sie hat das grös­se­re, tie­fe­re und wich­ti­ge­re Recht, weil sie auf die Arbeit des Ver­ste­hens selbst hin­weist, ohne die alle Zurüs­tung wert­los ist. Ich bin froh, nicht wäh­len zu müs­sen zwi­schen bei­den. Aber mei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit war dar­auf gerich­tet, durch das his­to­ri­sche hin­durch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewi­ge Geist ist.“ (Barth, 1922:7).

In der­sel­ben Tra­di­ti­on ist nun Lin­ne­mann ein­zu­ord­nen, wenn sie schreibt:

Wir soll­ten des­halb nicht mehr län­ger die soge­nann­ten „wis­sen­schaft­li­chen“ Ergeb­nis­se der Theo­lo­gie leicht­gläu­big für bare Mün­ze anneh­men, denn „wir sol­len nicht mehr Unmün­di­ge sein, hin- und her­ge­wor­fen und umher­ge­trie­ben von jedem Wind der Leh­re durch die Betrü­ge­rei der Men­schen, durch (ihre) Ver­schla­gen­heit zu lis­tig erson­ne­nem Irr­tum. Laßt uns aber wahr­haf­tig sein in der Lie­be und in allem hin­wach­sen zu dem, der das Haupt ist, Chris­tus (Eph 4,14–16).“ (Lin­ne­mann, 1999:11).

Falls Sie sich ent­schei­den, ihr Buch zu lesen, wer­den sie all dass ver­tieft ken­nen­ler­nen. Für die­je­ni­gen, die jedoch nur der Grob­über­blick ver­lan­gen, muss das gesag­te genü­gen. Nun möch­te ich Sie mit­neh­men auf eine Rei­se in die syn­op­ti­sche Frage.

Eine Reise beginnt

Für die Beant­wor­tung der syn­op­ti­schen Fra­ge stellt Lin­ne­mann vier Fra­gen auf, die als Haupt­ka­pi­tel für ihr Buch die­nen. Die­se vier Fra­gen beant­wor­tet sie natür­lich aus­gie­big. Sie lauten:

  1. Wie wis­sen­schaft­lich ist die wis­sen­schaft­li­che Theologie?
  2. Besteht eine lite­ra­ri­sche Abhän­gig­keit zwi­schen den drei syn­op­ti­schen Evangelien?
  3. Kön­nen die drei syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en unab­hän­gig von­ein­an­der ent­stan­den sein?
  4. Wozu haben wir vier Evan­ge­li­en, und wie gehen wir damit um?

Die ers­te wur­de in die­sem Bei­trag bereits, auch wenn nur knapp, beant­wor­tet. Lin­ne­mann zeigt im ers­ten Kapi­tel detail­liert auf, wie die Hypo­the­sen der For­schun­gen lau­ten. Sie über­prüft die Hypo­the­sen und kommt zum Schluss, dass die bis­her gän­gi­ge Zwei-Quel­len­theo­rie nicht halt­bar ist mit der aktu­el­len For­schungs­er­geb­nis­sen (Sei­te 13–50). Somit kommt sie zum Fazit des ers­ten Kapi­tels, wenn sie schreibt:

Es ist des­halb an der Zeit, die Fra­ge nach dem soge­nann­ten syn­op­ti­schen Pro­blem und sei­ner Lösung noch ein­mal neu anzu­ge­hen.“ (Lin­ne­mann, 1999:51).

Und genau das will ich nun mit Ihnen tun.

Besteht eine literarische Abhängigkeit zwischen den drei synoptischen Evangelien?

Dass es eine Abhän­gig­keit gibt, war lan­ge Kon­sens. Doch genau die­se grund­le­gen­de Fra­ge ist Lin­ne­mann sehr wich­tig. Denn wenn es kei­ne Abhän­gig­keit gibt, besteht auch das syn­op­ti­sche Pro­blem nicht mehr. So fol­gert Lin­ne­mann für die neu­tes­ta­ment­li­che Wissenschaft:

Soll­te sich erwei­sen, daß kei­ne lite­ra­ri­sche Abhän­gig­keit zwi­schen den drei syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en besteht, dann wäre etwa vier­zig Pro­zent der neu­tes­ta­ment­li­chen For­schung, die inner­halb der his­to­risch-kri­ti­schen Theo­lo­gie prak­ti­ziert wird, der Boden unter den Füßen weg­ge­zo­gen. Das darf uns aber nicht dar­an hin­dern, die Fra­ge anhand der Befun­de objek­tiv und gewis­sen­haft zu beant­wor­ten.“ (Lin­ne­mann, 1999:53)

Linnemann’s Haupt­ar­gu­ment besteht dar­in, als dass sie die inhalt­li­che Über­ein­stim­mung nicht mit einer lite­ra­ri­schen Abhän­gig­keit gleich­setzt. Die inhalt­li­che Über­ein­stim­mung der syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en ist ein Fakt. Doch die Ursa­che dafür muss nicht lite­ra­ri­scher Art sein, sie kann auch his­to­risch ver­mit­telt sein. Nicht nur Berich­te, wel­che die­sel­be lite­ra­ri­sche Quel­le benut­zen, wei­sen inhalt­li­che Gemein­sam­kei­ten auf, son­dern von­ein­an­der unab­hän­gi­ge Berich­te über das­sel­be Ereig­nis tun das eben­so. Lin­ne­mann bringt dafür Bei­spie­le aus dem All­tag. Man könn­te bei­spiels­wei­se ver­schie­de­ne Sport­be­rich­te über das­sel­be Fuss­ball­ereig­nis oder Zeu­gen­aus­sa­gen über den glei­chen Ver­kehrs­un­fall mit­ein­an­der ver­glei­chen. Eine sol­che Über­ein­stim­mung ist also nicht lite­ra­risch zu ver­or­ten, son­dern viel­mehr his­to­risch. Dies ist des­halb so, weil die Bericht­erstat­tung nicht auf­grund lite­ra­ri­schen Quel­len, son­dern im ers­ten Fall auf direk­ter Bericht­erstat­tung, im zwei­ten Fall auf­grund unab­hän­gi­ger Zeu­gen­aus­sa­gen beruht.

Ursprung der inhaltlichen Übereinstimmung

In meh­re­ren Arbeits­gän­gen unter­sucht Lin­ne­mann folg­lich, ob die inhalt­li­che Über­ein­stim­mung an einer lite­ra­ri­schen oder eben einer his­to­ri­schen Abhän­gig­keit zugrun­de liegt (Sei­te 54–120). Ihr Fazit zur inhalt­li­chen Gemein­sam­keit bei den syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en lau­tet folglich:

  • Die Ergeb­nis­se (der inhalt­li­chen Über­ein­stim­mung) kön­nen auch dadurch zustan­de gekom­men sein, daß die gemein­sa­me Erzähl­fol­ge auf die Rei­hen­fol­ge der berich­te­ten Ereig­nis­se zurück­geht. Dafür spricht die fast lücken­lo­se Gemein­sam­keit in der Pas­si­ons- und Oster­ge­schich­te, wo die Rei­hen­fol­ge der Ereig­nis­se sach­lich zwin­gend ist.“ (Lin­ne­mann, 1999:117).
  • Die Ergeb­nis­se der sprach­li­chen Über­ein­stim­mung (als die exakt glei­che Wort­fol­ge) sind ver­gleichs­wei­se gering und erstre­cken sich in ers­ter Linie auf die über­ein­stim­men­de Wie­der­ga­be von Jesus­wor­ten sowie auf das von der Sache her vor­ge­ge­be­ne und nicht aus­tausch­ba­re Voka­bu­lar. Die­ser Befund ist unter der Vor­aus­set­zung frei­er, gleich­ur­sprüng­li­cher For­mu­lie­rung des­sel­ben Sach­ver­hal­tes völ­lig normal.

Somit stellt Lin­ne­mann fest, dass die lite­ra­ri­sche Bezie­hung der Evan­ge­li­en kein Fakt ist. Wenn die inhalt­li­che Über­ein­stim­mung nicht lite­ra­ri­scher Art ist, müss­ten die Evan­ge­li­en unab­hän­gig von­ein­an­der ent­stan­den sein. Also genau­so wie die Sport­be­rich­te oder die Zeu­gen­aus­sa­gen sepa­rat ent­stan­den sind, so auch die syn­op­ti­schen Evangelien.

Können die drei synoptischen Evangelien unabhängig voneinander entstanden sein?

In die­sem Kapi­tel unter­sucht Lin­ne­mann wei­te­re Par­al­lel­pe­ri­ko­pen aus den syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en. Nach objek­ti­ver Prü­fung der Daten kommt sie zu einer mög­li­chen Beja­hung der Fra­ge. Die syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en sind wahr­schein­lich gleich­ur­sprüng­li­che Berich­te, denn die Unter­schie­de in den Par­al­le­len sind nichts ande­res als das zu erwar­ten­de Ergeb­nis einer soge­nann­ten per­spek­ti­vi­schen Sicht­wei­se, mit der bei Augen­zeu­gen zu rech­nen ist. Klei­ne­re Abwei­chun­gen sind nor­mal, über­zäh­li­ge Ver­se sind als Zusatz­in­for­ma­ti­on zu werten.

Doch dann könn­te ein Kri­ti­ker ein­wen­den: Wie sind denn die drei syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en ent­stan­den, wenn zwi­schen ihnen kei­ne lite­ra­ri­sche Abhän­gig­keit besteht? Die­se Fra­ge sprengt lei­der den Rah­men die­ser Rezen­si­on. Sie ist näm­lich tief mit der his­to­risch-kri­ti­schen Metho­de ver­wo­ben. Um sie zu beant­wor­ten, bedarf es pro­fun­der Kennt­nis­se der Redak­ti­ons­ge­schich­te, der Tra­di­ti­ons­ge­schich­te ( bzw. Form­ge­schich­te), der his­to­ri­schen Jesuser­zäh­lung (ipis­si­ma ver­ba jesu) und ande­rer Metho­den der Bibel­wis­sen­schaft. Wer sich damit beschäf­ti­gen will, tut gut dar­an, ihr Buch zu lesen. Ein Rat­ge­ber und Hel­fer in der Not ist dann viel­leicht noch das Buch aus Ihrer Stadt­bi­blio­thek: Evan­ge­li­sche Schrift­aus­le­gung (Hrsg. Joa­chim Coch­lo­vi­us und Peter Zim­mer­ling, TVG. 1987). Zum Abschluss die­ser syn­op­ti­schen Fra­ge­stel­lung soll aber, wie Lin­ne­mann ihr Buch abschließt, ein Blick in die Pra­xis gewor­fen werden.

Wozu haben wir vier Evangelien, und wie gehen wir damit um?

Eigent­lich ist es ein Vor­recht, vier ver­schie­de­ne Berich­te von den Taten, Lei­den und Wor­te Jesu zu haben. Got­tes Absicht dahin­ter ist liegt in einem Prin­zip begrün­det, wel­ches man im 5. Mose Buch fin­det: „⟨Nur⟩ auf zwei­er Zeu­gen Aus­sa­ge oder auf drei­er Zeu­gen Aus­sa­ge hin soll eine Sache gül­tig sein.“ – Dtn 19,15b

Lin­ne­mann schreibt begeis­tert von die­sen vier Evan­ge­li­en, wenn sie sagt:

Gott, der weiß, daß wir auf das Zeug­nis derer ange­wie­sen sind, die Jesus sel­ber gese­hen und gehört haben, hat dafür gesorgt, daß die fro­he Bot­schaft, an der unser Heil hängt, uns mehr­fach über­lie­fert wur­de, wobei die unab­hän­gi­gen Zeu­gen sich wech­sel­sei­tig bestä­ti­gen.“ (Lin­ne­mann, 1999:146).

Man darf die­se Berich­te schät­zen ler­nen wie Lin­ne­mann das getan hat. Sie dür­fen mit Metho­den eine Peri­ko­pe unter­su­chen und zu einer Glau­bens­aus­sa­ge kom­men. Ein bibli­sches Buch zu neh­men und sei­ne Haupt­aus­sa­ge mit Ein­zel­pe­ri­ko­pen ver­glei­chen, was fürt eine schö­ne Arbeit! Was hat Mar­kus bei­spiels­wei­se mit sei­nen Wun­der­be­rich­ten beab­sich­tigt? Oder was sagt der Lukas­pro­log über die rest­li­chen Kapi­teln sei­nes Berich­tes? Man darf und soll die­se Berich­te untersuchen!

Fazit und Schlusswort

Die­ser For­schungs­be­richt von Lin­ne­mann war ein inten­si­ver und zeit­auf­wen­di­ger Bro­cken, der sich zumin­dest für mich gelohnt hat. Ich konn­te in ein tie­fe­res Ver­ständ­nis der Evan­ge­li­en ein­tau­chen und habe sys­te­ma­ti­sche und apo­lo­ge­ti­sche Erkennt­nis­se gewon­nen. Ich kann es jedem emp­feh­len, der an neu­tes­ta­ment­li­cher For­schung inter­es­siert ist und regel­mä­ßig aus den Evan­ge­li­en predigt.

Die Bibel und beson­ders die syn­op­ti­schen Evan­ge­li­en hal­ten tat­säch­lich nicht aller Kri­tik stand. Das heisst jedoch noch lan­ge nicht, dass sie nicht glaub­wür­dig wären. Glaub­wür­dig meint ja, dass sie es ver­dient, geglaubt zu wer­den. Das heisst nicht, dass man mit moder­nen Aus­le­gungs­me­tho­den alle Berich­te der Bibel erklä­ren kann. Glaub­wür­dig heisst nicht, dass sie nur durch die his­to­risch-kri­ti­sche Metho­de gele­sen wer­den darf. Das Wort Glaub­wür­dig heisst ein­fach: Es ist wür­dig, dass man dar­an glaubt.

Was der Evan­ge­list Johan­nes in Joh 20,31 als sein Buch­ziel defi­niert, wei­te ich auf alle Evan­ge­li­en, ja gar auf die gan­ze Bibel aus:

Aber die hier auf­ge­zeich­ne­ten Berich­te wur­den geschrie­ben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Chris­tus ist, der ver­spro­che­ne Ret­ter und Sohn Got­tes. Wenn ihr an ihn glaubt, habt ihr durch ihn das ewi­ge Leben.“

Bibliographie

Barth, Karl. Der Römer­brief, Theo­lo­gi­scher Ver­lag Zürich. 1922.

Bult­mann, Rudolf. „Ist vor­aus­set­zungs­lo­se Exege­se mög­lich?“. In: Glau­ben und Ver­ste­hen, Bd. 3, Paul Sie­beck Ver­lag. Tübin­gen. 1957.

Küm­mel, Wer­ner Georg. Die Theo­lo­gie des Neu­en Tes­ta­ments nach sei­nen Haupt­zeu­gen. NTD Rei­he Band 3, Van­den­hoeck & Ruprecht. Göt­tin­gen. 1980.

Lin­ne­mann, Eta. Gibt es ein syn­op­ti­sches Pro­blem? (5. ver­bess. Aufl.), VTR. 2012.

Geschrieben von
Joshua Ganz

Joshua ist als Jugendpastor in der Nordostschweiz tätig. Aktuell studiert er systematische Theologie auf dem Master-Level und plant einen MTh. In der Schweizer Armee dient er als Armeeseelsorger. Er liebt Theologie, sein Rennrad und Kaffee. Am liebsten alles miteinander, oder zumindest nacheinander ;)

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2 Kommentare
  • Lei­der wird von vie­len Sei­ten immer wie­der das kräf­ti­ge Zeug­nis der Kir­chen­vä­ter für einen ara­mäi­schen Mat­thä­us als aller­ers­te Evan­ge­li­ums­schrift miss­ach­tet. Laut Euse­bi­us von Cäsarea: „Mat­thä­us hat in
    hebräi­scher Spra­che die Reden zusam­men­ge­stellt; ein jeder aber über­setz­te die­sel­ben so gut er konnte.”
    Das wür­de also bedeu­ten, dass vie­le Men­schen, inkl. Mk und Lk den aram. Mt kann­ten und ihn für sich über­setz­ten, bis spä­ter dann jemand die aram. Aus­ga­be voll­stän­dig ins griech. übersetzte.

    So braucht es weder 2–4 Quel­len (von denen nichts erhal­ten ist und die auch nir­gends bezeugt wer­den), noch eine Erklä­sung gemäss Lin­ne­mann für das syn­op. Pro­blem (wel­ches eigent­lich gar kei­nes ist).

    Frei­lich ist die aram. Mt-Schrift auch nicht erhal­ten, den­noch ist sie in der frü­hen Kir­che sehr stark bezeugt. Bei den Schrif­ten von Papi­as von Hie­r­a­po­lis ist es doch auch akzep­tiert: sie sind nicht mehr erhal­ten, doch ihr Zeug­nis bei den ande­ren KV reicht, um ziem­lich sicher­zu­ge­hen, dass es sie gab.….

    • Hal­lo Markus
      Vie­len Dank für dein Kom­men­tar. Wie du rich­tig fest­stellst, geht auch Lin­ne­mann davon aus, dass wir mit ihrem Blick­win­kel eigent­lich gar nicht von einem Pro­blem reden müs­sen. Das­sel­be trifft natür­lich auch auf dei­ne ara­mäi­sche Ure­van­ge­li­ums­hy­po­the­se zu.
      Dei­ne Quel­le ist abso­lut kor­rekt und wird defi­ni­tiv zu wenig beach­tet. Ich wün­sche mir für sol­che Debat­ten und Ein­lei­tungs­fra­gen auch mehr den Blick und die Stim­me der Kir­chen­vä­ter, wo sie doch so nah dran waren! Dei­ne Theo­rie wird ja bei­spiels­wei­se auch vom Neu­ttes­ta­ment­ler Erich Mau­er­ho­fer unter­stützt. Obwohl auch die­se Theo­rie eine Theo­rie bleibt, oder?

      Ob wir nun eine Mat­thä­us-Prio­ri­tät oder eine ande­re Hypo­the­se bevor­zu­gen, wir dür­fen nebst und gera­de durch die For­schung am bibli­schen Bericht fest­hal­ten, wel­cher auch im 21. Jahr­hun­dert noch gebraucht und geschätzt wird!

Geschrieben von Joshua Ganz