Die Kirchenväter haben häufig die Bibel ganz anders ausgelegt, als wir es heute tun. In diesem Artikel stelle ich fünf Lektionen vor, die wir von den Kirchenvätern für unsere Hermeneutik lernen können.
Inhalt
- Warum ist es gewinnbringend, die Bibelauslegung der Kirchenväter zu studieren?
- Lektion 1: Sollte die Bibel wortwörtlich ausgelegt werden?
- Lektion 2: Sind alle Geschichten in der Bibel historisch?
- Lektion 3: Ist die Bibel irrtumslos?
- Lektion 4: Extreme kommen und gehen
- Lektion 5: Das Zentrum der Schrift
- Fazit
- Bibliografie
Warum ist es gewinnbringend, die Bibelauslegung der Kirchenväter zu studieren?
Wie wir die Bibel heute auslegen, erscheint uns oft als selbstverständlich. Wir gehen davon aus, dass unsere Methoden der Exegese ausgereift sind und dass wir mit unseren modernen Erkenntnissen den besten Zugang zur Schrift haben. Das Problem jedoch ist, dass uns 2000 Jahre und eine massive kulturelle und sprachliche Barriere von der Welt der Bibel trennen.
Die Kirchenväter hingegen standen der Zeit der Apostel deutlich näher. Viele von ihnen waren Muttersprachler des biblischen Griechisch, sodass sie nicht auf Übersetzungen angewiesen waren. Zudem waren sie mit den kulturellen Gegebenheiten ihrer Zeit vertraut – mit Redewendungen, Denkmustern und Anspielungen, die damals jeder verstand, heute aber leicht übersehen werden. Ihre Auslegung bietet uns daher wertvolle Einblicke, die uns helfen können, die Bibel fundierter auszulegen.
Eine Vielzahl von Ansätzen
Allerdings gab es nicht die eine Hermeneutik der Kirchenväter. So wie die jüdischen Ausleger der Antike unterschiedliche Ansichten darüber hatten, wie die Heilige Schrift zu verstehen ist, gab es auch unter den Kirchenvätern verschiedene Interpretationsansätze. Daher ist es unmöglich, in einem einzigen Blogartikel eine umfassende Darstellung der patristischen Bibelauslegung zu liefern. Wer sich vertieft mit diesem Thema beschäftigen möchte, findet zahlreiche Bücher, die sich detailliert mit dem Thema auseinandersetzen. Stattdessen möchte ich in diesem Artikel fünf wertvolle Lektionen herausarbeiten, die wir von den Kirchenvätern für unsere Bibelauslegung heute lernen können.
Heute gehen viele Christen davon aus, dass die Bibel inspiriert und irrtumslos ist und wir sie deshalb wortwörtlich auslegen sollten. Dieses Verständnis der Bibel wird oft als orthodox angesehen, weil es verschiedene Zitate der Kirchenväter gibt, die auf solch ein Bibelverständnis hindeuten. Der Artikel wird aber zeigen, dass wir etwas genauer hinschauen müssen, weil es alles etwas komplizierter ist.
Lektion 1: Sollte die Bibel wortwörtlich ausgelegt werden?
Origenes als Befürworter der wortwörtlichen Auslegung
Der junge Origenes war ein strikter Bibel-Literalist. Und mit „strikt“ meine ich, dass er wahrscheinlich selbst die meisten heutigen wortwörtlichen Bibelausleger in den Schatten gestellt hat. Viele Christen behaupten oft, die Bibel wörtlich zu nehmen, greifen aber erstaunlich schnell zur Allegorie, wenn die Worte Jesu zu unbequem werden – etwa wenn es darum geht, alles zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben oder sich eine Hand abzuhacken, wenn sie zur Sünde verleitet.
Origenes war konsequent. Er nahm Matthäus 19,12 („Es gibt Menschen, die sich selbst entmannt haben um des Himmelreichs willen“) wörtlich – und ließ sich tatsächlich kastrieren, um nicht in Versuchung zu geraten. Warum erzähle ich das? Heute wird manchmal fälschlich behauptet, dass Origenes die Bibel nach Belieben allegorisierte und sie nicht ernst genommen hat. Origenes nahm die Schrift so ernst wie kaum jemand vor oder nach ihm. Sein gesamtes Leben war der Bibel gewidmet – und zwar mit einer Hingabe, die für uns heute kaum vorstellbar ist.
Hätten wir die Chance, Origenes zu interviewen und würden wir ihm vorwerfen, dass er die Bibel nicht wortwörtlich versteht, würde er das vermutlich vehement ablehnen. In seinem Verständnis hat er die Bibel wörtlich ausgelegt. Allerdings war sein Verständnis von wörtlicher Auslegung deutlich tiefer und durchdachter als das moderne Verständnis.
Wenn wortwörtlich zu oberflächlich ist
Origenes’ De Principiis wird oft als die erste christliche Dogmatik bezeichnet. Im vierten Buch legt er seine Bibelhermeneutik dar und betont, dass die Schrift geistlich gelesen werden muss. Dabei kritisiert er drei Gruppen, die die Bibel wörtlich auslegen, jedoch seiner Meinung nach auf eine zu oberflächliche Weise.
Die erste Gruppe sind die jüdischen Leser, die das Alte Testament ohne die Erkenntnis lesen, dass es auf Christus hinweist.
Die zweite Gruppe sind Marcion und seine Anhänger. Marcion verstand die Bibel zu wörtlich, was zu seiner Irrlehre führte, dass er den Schöpfergott des Alten Testaments von dem liebevollen Gott, den Jesus im Neuen Testament offenbarte, trennte.
Die dritte Gruppe sind einfache Christen, die die Bibel ebenfalls wortwörtlich lesen. Origenes urteilt über sie am mildesten, denn sie erkennen zwar, dass die Schrift einen tieferen geistlichen Sinn hat, sind aber nicht in der Lage, diesen zu erfassen oder daraus Nutzen zu ziehen.
Im Vergleich zum jungen Origenes hatte der ältere Origenes offenbar ein differenzierteres Verständnis davon, was es bedeutet, die Bibel „wörtlich“ zu nehmen. Doch worin bestand sein differenzierter Ansatz?
Origenes komplexes Verständnis von wortwörtlicher Auslegung
Origenes lehrte (De Principiis 4.1.15), dass der Heilige Geist bewusst bestimmte „problematische“ Texte in die Bibel eingefügt hat, die entweder Ereignisse beschreiben, die nie tatsächlich stattgefunden haben, die dem Wahrheitssinn nicht entsprechen oder die ein unwürdiges Bild von Gott zeichnen. Nimmt man solche Passagen rein wörtlich, ergeben sie keinen Sinn oder stehen im Widerspruch zum Gesamtbild der Schrift. Origenes war überzeugt, dass Gott solche Stellen absichtlich in die Bibel eingebaut hat, um die Leser dazu anzuregen, nach einer tieferen Wahrheit zu suchen.
Wenn ein Text auf der wörtlichen Ebene problematisch erscheint oder ein unwürdiges Gottesbild vermittelt, soll uns das laut Origenes nicht beunruhigen, sondern dazu motivieren, die geistliche Bedeutung dahinter zu entdecken. Diese tiefere Bedeutung sei es, die wirklich zählt. Für Origenes waren manche Bibelstellen so offensichtlich unwürdig für Gott, dass es für ihn undenkbar war, dass ihre wortwörtliche Bedeutung der eigentliche Sinn des Textes sein könnte. In solchen Fällen sei die tiefere, geistliche Bedeutung automatisch die wahre Bedeutung (De Principiis 4.1.15; Peri Archon IV, 2.9). Demnach ist das Wort „wörtlich“ so zu verstehen, dass es sich auf die Bedeutung bezieht, die vermittelt wird, und nicht auf die Art und Weise, in der diese Bedeutung vermittelt wird (Carter 2018:178).
Origenes befürwortete daher eine wörtliche Auslegung der Bibel, wo sie sinnvoll ist. Aber wenn ein Vers wörtlich verstanden problematisch ist – sei es theologisch, moralisch oder im Hinblick auf Gottes Wesen – dann müsse unsere Hermeneutik so durchdacht sein, dass wir die wörtliche Lesart verwerfen und die geistliche Bedeutung als den eigentlichen Sinn anerkennen.
Die Richtschnur des Origenes
Damit diese Herangehensweise nicht willkürlich wird, hatte Origenes zwei zentrale Kriterien, um jede Auslegung zu bewerten: Gott ist zugleich gerecht und gut. Keine Auslegung darf diesen zwei Wesenszügen Gottes widersprechen (Lies 1992:42). Wenn eine wörtliche Auslegung Gottes Güte oder Gerechtigkeit kompromittiert, müsse sie abgelehnt und die Stelle anders interpretiert werden – beispielsweise allegorisch. Laut Origenes ist dies der einzige richtige Weg, die Bibel ernst zu nehmen und sie tatsächlich wortgetreu zu lesen. Wer an zu simplistischen oder oberflächlichen Lesarten festhält, riskiert hingegen, Gottes Charakter zu verzerren und ein unwürdiges Gottesbild zu verbreiten.
Die Richtschnur des Augustinus
Auch Augustinus hat eine zu einfache wortwörtliche Auslegung der Bibel abgelehnt. Er äußerte in De Genesi ad Litteram I, 19.39:
„Wenn die wörtliche Auslegung zu einem offensichtlichen Widerspruch führt, müssen wir nach einer allegorischen Deutung suchen, die im Einklang mit dem Glauben steht.“
Augustinus betont (De doctr. christ. 3.10), dass es nicht nur wichtig ist, metaphorische Sprache nicht fälschlicherweise wörtlich zu verstehen, sondern auch, dass wörtliche Aussagen nicht vorschnell als bildlich abgetan werden dürfen. Er gibt eine klare Regel, um zu unterscheiden, ob eine Bibelstelle wörtlich oder bildlich zu verstehen ist: Wenn eine Bibelstelle bei wörtlicher Auslegung weder zur Reinheit des Lebens noch zu gesunder Lehre beiträgt, dann ist sie als bildlich zu verstehen.
„Reinheit des Lebens“ bedeutet für Augustinus, dass eine Bibelstelle uns hilft, Gott und unseren Nächsten zu lieben. „Gesunde Lehre“ bezieht sich auf das wahre Wissen über Gott. Damit wird die entscheidende Richtschnur von Augustinus für die richtige Auslegung deutlich: Führt eine Auslegung der Schrift zu einer tieferen Liebe zu Gott und den Menschen? Wer in seinem Gewissen erkennt, dass eine Bibelstelle ihn in der Liebe und Erkenntnis Gottes und des Nächsten wachsen lässt, kann darauf hoffen, sie richtig verstanden zu haben.
Lektion 2: Sind alle Geschichten in der Bibel historisch?
Kelsos, ein Philosoph des 2. Jahrhunderts, war einer der frühesten und schärfsten Kritiker des Christentums. In seinem Werk „Die wahre Lehre“ griff er verschiedene Aspekte des christlichen Glaubens an, darunter auch die wörtliche Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Kelsos betrachtete es als naiv und unvernünftig, das „Märchen“ der Schöpfungsgeschichte als historisch zu verstehen.
Origenes verfasste als Antwort auf die Kritik des Kelsos sein Werk Gegen Kelsos. Dabei stimmte er Kelsos in einem entscheidenden Punkt zu: Die Schöpfungsgeschichte sei nicht als historische Erzählung, sondern bildlich zu verstehen (Contra Celsum 1.43). Doch anstatt Kelsos’ Kritik einfach hinzunehmen, drehte Origenes das Argument um. Er verwies auf fabelhafte Erzählungen, die Kelsos selbst vermutlich als wertvoll erachtete, und machte deutlich, dass eine Geschichte nicht historisch sein muss, um eine tiefe Wahrheit zu vermitteln. Damit stellte er klar, dass biblische Erzählungen auch dann von großer Bedeutung sind, wenn sie nicht historisch, sondern symbolisch verstanden werden.
Lektion 3: Ist die Bibel irrtumslos?
Augustinus – ein Verfechter der Irrtumslosigkeit der Bibel.
Ein oft zitierter Text über das Wesen der Bibel stammt von Augustinus:
„Denn ich gestehe deiner Liebe: nur den Büchern der Heiligen Schrift, die als kanonische anerkannt sind, habe ich gelernt, eine solche Ehrfurcht zu erweisen, daß ich felsenfest glaube, keiner ihrer Verfasser sei bei der Abfassung in einem Irrtum gewesen. Und wenn ich in ihnen auf eine Stelle stoße, die mir mit der Wahrheit nicht übereinzustimmen scheint, so zweifle ich keinen Augenblick, daß entweder die Abschrift fehlerhaft ist oder daß der Übersetzer den Gedanken des Originals nicht genau ausgedrückt hat oder daß ich die Sache nicht verstanden habe.“ (Epistula 82,3)
Augustinus war ohne Frage ein Verfechter der Irrtumslosigkeit der Bibel. Er hat sogar gelehrt, dass es Sünde ist an der Irrtumslosigkeit zu zweifeln (Epistula 82,3).
Hätten Origenes und Augustinus die Chicago-Erklärung unterschrieben?
Liest man ausgewählte Zitate von Origenes oder Augustinus, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, sie hätten ohne zu zögern die Chicago-Erklärung zur biblischen Irrtumslosigkeit unterschrieben. Ihre Schriften enthalten Passagen, in denen sie die absolute Autorität der Bibel betonen und jeglichen Irrtum in der Schrift ablehnen.
Doch hier zeigt sich ein Problem: Wir neigen dazu, Begriffe wie „Irrtum“ oder „Wahrheit“ mit modernen Bedeutungen zu füllen. Heute wird Irrtumslosigkeit oft so verstanden, dass jede Aussage der Bibel – sei sie historisch, wissenschaftlich oder theologisch – absolut präzise und fehlerfrei sein muss. Damit geht oft einher die tiefe Überzeugung, dass die Bibel wortwörtlich verstanden werden muss.
Wie wir bereits bei der wörtlichen Auslegung gesehen haben, haben die Kirchenväter diese Worte und Konzepte anders verstanden. Ein genauerer Blick auf ihre Bibelauslegung zeigt, dass sie zwar an die Irrtumslosigkeit der Schrift glaubten – aber sie füllten das Konzept der Irrtumslosigkeit mit einem anderen Verständnis, als viele es heute tun. Wie wir bereits oben gesehen haben, glaubten Augustinus und Origenes, dass die Bibel Texte enthält, die ein unwürdiges Gottesbild verkünden und nicht der Wahrheit entsprechen (De Principiis 4.1.15).
Augustinus argumentierte sogar, dass biblische Aussagen über die Natur im Licht neuer Erkenntnisse überdacht werden sollten:
„Es gibt Zeiten, in denen sogar ein Ungläubiger eine Wahrheit über die Erde, den Himmel oder andere Elemente dieser Welt entdeckt, eine Wahrheit, die durch Vernunft oder Erfahrung bewiesen werden kann. Es wäre daher höchst beklagenswert und gefährlich, wenn ein Christ etwas Falsches über diese Dinge sagt, gestützt auf seine Interpretation der Heiligen Schrift.“ (De Genesi ad litteram, I,19,39)
Augustinus warnt davor, dass Christen, die ohne Wissen über naturwissenschaftliche Fakten sprechen, Ungläubige abschrecken und die Bibel diskreditieren. Er betont, dass es nicht nur peinlich, sondern auch schädlich ist, wenn Christen falsche wissenschaftliche Behauptungen aufstellen und diese mit der Bibel begründen. Da die Bibel nicht geschrieben wurde, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln, sah Augustinus kein Problem darin, wenn sie in naturwissenschaftlichen oder historischen Aspekten nicht immer korrekt ist.
Das Problem in der Irrtumslosigkeitsdiskussion
Ja, viele Kirchenväter haben die Irrtumslosigkeit der Bibel betont, doch ihr Verständnis davon war oft ganz anders als das, was wir heute darunter verstehen. Für sie bedeutete Irrtumslosigkeit nicht, dass jedes Wort der Bibel wortwörtlich wahr ist. Vielmehr ging es ihnen um die Autorität der Schrift und darum, dass die Bibel vollkommen ausreicht, um ihren Zweck zu erfüllen und uns alles zu lehren, was wir brauchen, um errettet werden zu können, indem sie auf Christus verweist.
Die Diskussion über die Irrtumslosigkeit der Bibel ist oft schwierig, weil sie scheinbar nur zwei extreme Positionen zulässt. Auf der einen Seite steht die Ansicht, dass die Bibel absolut irrtumslos ist und keinerlei Fehler enthält. Doch wer die Bibel genau studiert, erkennt, dass dieses Verständnis schwer mit dem vorliegenden Wesen und den Texten der Bibel vereinbar ist.
Auf der anderen Seite gibt es Christen, die die Bibel lediglich als ein von Menschen geschriebenes Buch betrachten, das voller Fehler sei und deshalb keine göttliche Autorität habe. Auch diese Sichtweise ist problematisch, weil sie übersieht, dass die Bibel mehr ist als ein gewöhnliches Buch – sie ist inspiriert und offenbart Gottes Wahrheit.
Ich denke, es lohnt sich, von den Kirchenvätern zu lernen. Sie hielten fest daran, dass die Bibel Autorität hat, inspiriert ist und dass Gott durch sie zu uns spricht, ohne zu behaupten, dass jedes einzelne Wort der Schrift faktisch und historisch unfehlbar sein muss. Dieses ausgewogene Verständnis könnte uns helfen, die Bibel als das zu schätzen, was sie wirklich ist: ein göttlich inspiriertes Buch, das uns zur Wahrheit führt und auf Christus hinweist.
Lektion 4: Extreme kommen und gehen
Zwei große Schulen der Bibelauslegung: Antiochia und Alexandria
Schon in der frühen Kirche gab es unterschiedliche Ansätze, wie die Bibel zu verstehen sei. Zwei der bedeutendsten hermeneutischen Schulen waren Antiochia und Alexandria, die oft konträre Sichtweisen vertraten.
Die Schule von Alexandria betonte die allegorische Auslegung der Schrift. Sie war überzeugt, dass biblische Texte eine tiefere, verborgene Bedeutung haben, die es zu entdecken gilt. Wörtliche Lesarten waren für sie oft unzureichend oder sogar irreführend, wenn sie nicht mit der göttlichen Wahrheit übereinstimmten. Vertreter wie Origenes sahen in fast jeder biblischen Erzählung ein Symbol für geistliche Realitäten und hielten es für notwendig, über den bloßen Wortlaut hinauszugehen, um die eigentliche Botschaft der Schrift zu erfassen.
Die Schule von Antiochia hingegen sah diese Methode als zu willkürlich an. Sie legte Wert auf eine historische und grammatische Exegese, die sich stärker an der ursprünglichen Bedeutung des Textes orientierte. Während sie nicht ausschloss, dass es in der Bibel tiefere geistliche Wahrheiten gibt, war sie vorsichtiger, allegorische Deutungen anzuwenden. Für sie war es wichtig, dass die Schrift zuerst im ursprünglichen historischen Kontext verstanden wurde, bevor man weiterführende Interpretationen vornahm.
Ein offenes Herz bewahren
Diese Spannungen zwischen symbolischer und wörtlicher Bibelauslegung sind nicht nur ein Phänomen der frühen Kirche. Immer wieder sehen wir in der Kirchengeschichte, wie radikale Auslegungsmethoden zu Gegenbewegungen führen. Die Bibelauslegung ist daher ein fortlaufender Prozess – die Welt verändert sich, unser Wissen über die Bibel wächst, und neue hermeneutische Ansätze entstehen.
Es ist daher klug, eine offene Haltung zu bewahren und bereit zu sein, sich mit neuen hermeneutischen Ideen auseinanderzusetzen. Anstatt uns starr auf eine Methode festzulegen, sollten wir uns fragen: Wie können wir heute treu und zugleich tiefgründig die Bibel auslegen?
Lektion 5: Das Zentrum der Schrift
Ja, wir sollten offen bleiben und kontinuierlich dazulernen, um die Bibel fundiert auszulegen. Doch diese Offenheit darf nicht in Beliebigkeit ausarten. Ein zentrales Prinzip für eine gesunde Hermeneutik, das sich durch die gesamte Tradition der Kirchenväter zieht, ist die Christozentrik der Schrift: Die Bibel muss im Licht von Jesus gelesen werden. Er ist das Herzstück der Schrift, und jeder biblische Text verweist letztlich auf ihn.
Für die frühen Kirchenväter und ‑mütter war Jesus der hermeneutische Schlüssel. Sein Leben, sein Tod und seine Auferstehung bildeten die Brille, durch die die gesamte Bibel zu lesen ist. (Keen 2022:141)
Fazit
In den Schriften der Kirchenväter begegnen wir einer Vielfalt an hermeneutischen Ansätzen. Dies zeigt, dass sie intensiv darum gerungen haben, wie die Bibel richtig auszulegen ist. Ihr Wissen war stückhaft – genauso wie auch wir heute nur Stückwerk erkennen (1. Korinther 13,9). Deshalb bleibt unsere Hermeneutik eine fortlaufende Reise, auf der wir ständig dazulernen.
Diese Reise erfordert jedoch Demut. Wir sollten stets offen bleiben, unseren Zugang zur Schrift zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Doch zugleich braucht sie eine feste Verankerung: die Überzeugung, dass Jesus das Zentrum der Schrift ist und wir sie in seinem Licht auslegen müssen.
Das bedeutet: Jede Interpretation der Bibel, die seinem Leben und seiner Lehre widerspricht, sollte mit Vorsicht betrachtet werden. Denn Jesus selbst sagt:
„Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; doch sie sind es, die von mir zeugen.“ (Johannes 5,39)
Wenn wir die Bibel Jesus-zentriert lesen, dann lesen wir sie richtig – denn die gesamte Schrift weist letztlich auf ihn hin.
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Bibliografie
Lies, Lothar. 1992. Origenes’ „Peri Archon“. Eine undogmatische Dogmatik.
Augustinus von Hippo und Uwe Holtmann. 2022. Ausgewählte Briefe (Erster Teil) (Epistulae (Auswahl)).
Carter, Craig A. 2018. Interpreting Scripture with the Great Tradition: Recovering the Genius of Premodern Exegesis.
Keen, Karen R. 2022. The Word of a Humble God: The Origins, Inspiration, and Interpretation of Scripture.