Die Bibelauslegung der Kirchenväter – 5 Lektionen zur Hermeneutik

Kirchenväter

Die Kir­chen­vä­ter haben häu­fig die Bibel ganz anders aus­ge­legt, als wir es heu­te tun. In die­sem Arti­kel stel­le ich fünf Lek­tio­nen vor, die wir von den Kir­chen­vä­tern für unse­re Her­me­neu­tik ler­nen kön­nen.

Warum ist es gewinnbringend, die Bibelauslegung der Kirchenväter zu studieren?

Wie wir die Bibel heu­te aus­le­gen, erscheint uns oft als selbst­ver­ständ­lich. Wir gehen davon aus, dass unse­re Metho­den der Exege­se aus­ge­reift sind und dass wir mit unse­ren moder­nen Erkennt­nis­sen den bes­ten Zugang zur Schrift haben. Das Pro­blem jedoch ist, dass uns 2000 Jah­re und eine mas­si­ve kul­tu­rel­le und sprach­li­che Bar­rie­re von der Welt der Bibel trennen.

Die Kir­chen­vä­ter hin­ge­gen stan­den der Zeit der Apos­tel deut­lich näher. Vie­le von ihnen waren Mut­ter­sprach­ler des bibli­schen Grie­chisch, sodass sie nicht auf Über­set­zun­gen ange­wie­sen waren. Zudem waren sie mit den kul­tu­rel­len Gege­ben­hei­ten ihrer Zeit ver­traut – mit Rede­wen­dun­gen, Denk­mus­tern und Anspie­lun­gen, die damals jeder ver­stand, heu­te aber leicht über­se­hen wer­den. Ihre Aus­le­gung bie­tet uns daher wert­vol­le Ein­bli­cke, die uns hel­fen kön­nen, die Bibel fun­dier­ter aus­zu­le­gen.

Eine Vielzahl von Ansätzen

Aller­dings gab es nicht die eine Her­me­neu­tik der Kir­chen­vä­ter. So wie die jüdi­schen Aus­le­ger der Anti­ke unter­schied­li­che Ansich­ten dar­über hat­ten, wie die Hei­li­ge Schrift zu ver­ste­hen ist, gab es auch unter den Kir­chen­vä­tern ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze. Daher ist es unmög­lich, in einem ein­zi­gen Blog­ar­ti­kel eine umfas­sen­de Dar­stel­lung der patris­ti­schen Bibel­aus­le­gung zu lie­fern. Wer sich ver­tieft mit die­sem The­ma beschäf­ti­gen möch­te, fin­det zahl­rei­che Bücher, die sich detail­liert mit dem The­ma aus­ein­an­der­set­zen. Statt­des­sen möch­te ich in die­sem Arti­kel fünf wert­vol­le Lek­tio­nen her­aus­ar­bei­ten, die wir von den Kir­chen­vä­tern für unse­re Bibel­aus­le­gung heu­te ler­nen können.

Heu­te gehen vie­le Chris­ten davon aus, dass die Bibel inspi­riert und irr­tums­los ist und wir sie des­halb wort­wört­lich aus­le­gen soll­ten. Die­ses Ver­ständ­nis der Bibel wird oft als ortho­dox ange­se­hen, weil es ver­schie­de­ne Zita­te der Kir­chen­vä­ter gibt, die auf solch ein Bibel­ver­ständ­nis hin­deu­ten. Der Arti­kel wird aber zei­gen, dass wir etwas genau­er hin­schau­en müs­sen, weil es alles etwas kom­pli­zier­ter ist.

Lektion 1: Sollte die Bibel wortwörtlich ausgelegt werden?

Origenes als Befürworter der wortwörtlichen Auslegung

Der jun­ge Orig­e­nes war ein strik­ter Bibel-Lite­ra­list. Und mit „strikt“ mei­ne ich, dass er wahr­schein­lich selbst die meis­ten heu­ti­gen wort­wört­li­chen Bibel­aus­le­ger in den Schat­ten gestellt hat. Vie­le Chris­ten behaup­ten oft, die Bibel wört­lich zu neh­men, grei­fen aber erstaun­lich schnell zur Alle­go­rie, wenn die Wor­te Jesu zu unbe­quem wer­den – etwa wenn es dar­um geht, alles zu ver­kau­fen und den Erlös den Armen zu geben oder sich eine Hand abzu­ha­cken, wenn sie zur Sün­de verleitet.

Orig­e­nes war kon­se­quent. Er nahm Mat­thä­us 19,12 („Es gibt Men­schen, die sich selbst ent­mannt haben um des Him­mel­reichs wil­len“) wört­lich – und ließ sich tat­säch­lich kas­trie­ren, um nicht in Ver­su­chung zu gera­ten. War­um erzäh­le ich das? Heu­te wird manch­mal fälsch­lich behaup­tet, dass Orig­e­nes die Bibel nach Belie­ben alle­go­ri­sier­te und sie nicht ernst genom­men hat. Orig­e­nes nahm die Schrift so ernst wie kaum jemand vor oder nach ihm. Sein gesam­tes Leben war der Bibel gewid­met – und zwar mit einer Hin­ga­be, die für uns heu­te kaum vor­stell­bar ist.

Hät­ten wir die Chan­ce, Orig­e­nes zu inter­view­en und wür­den wir ihm vor­wer­fen, dass er die Bibel nicht wort­wört­lich ver­steht, wür­de er das ver­mut­lich vehe­ment ableh­nen. In sei­nem Ver­ständ­nis hat er die Bibel wört­lich aus­ge­legt. Aller­dings war sein Ver­ständ­nis von wört­li­cher Aus­le­gung deut­lich tie­fer und durch­dach­ter als das moder­ne Verständnis.

Wenn wortwörtlich zu oberflächlich ist

Orig­e­nes’ De Prin­ci­pi­is wird oft als die ers­te christ­li­che Dog­ma­tik bezeich­net. Im vier­ten Buch legt er sei­ne Bibel­her­me­neu­tik dar und betont, dass die Schrift geist­lich gele­sen wer­den muss. Dabei kri­ti­siert er drei Grup­pen, die die Bibel wört­lich aus­le­gen, jedoch sei­ner Mei­nung nach auf eine zu ober­fläch­li­che Wei­se.

Die ers­te Grup­pe sind die jüdi­schen Leser, die das Alte Tes­ta­ment ohne die Erkennt­nis lesen, dass es auf Chris­tus hinweist.

Die zwei­te Grup­pe sind Mar­ci­on und sei­ne Anhän­ger. Mar­ci­on ver­stand die Bibel zu wört­lich, was zu sei­ner Irr­leh­re führ­te, dass er den Schöp­fer­gott des Alten Tes­ta­ments von dem lie­be­vol­len Gott, den Jesus im Neu­en Tes­ta­ment offen­bar­te, trennte.

Die drit­te Grup­pe sind ein­fa­che Chris­ten, die die Bibel eben­falls wort­wört­lich lesen. Orig­e­nes urteilt über sie am mil­des­ten, denn sie erken­nen zwar, dass die Schrift einen tie­fe­ren geist­li­chen Sinn hat, sind aber nicht in der Lage, die­sen zu erfas­sen oder dar­aus Nut­zen zu ziehen.

Im Ver­gleich zum jun­gen Orig­e­nes hat­te der älte­re Orig­e­nes offen­bar ein dif­fe­ren­zier­te­res Ver­ständ­nis davon, was es bedeu­tet, die Bibel „wört­lich“ zu neh­men. Doch wor­in bestand sein dif­fe­ren­zier­ter Ansatz?

Origenes komplexes Verständnis von wortwörtlicher Auslegung

Orig­e­nes lehr­te (De Prin­ci­pi­is 4.1.15), dass der Hei­li­ge Geist bewusst bestimm­te „pro­ble­ma­ti­sche“ Tex­te in die Bibel ein­ge­fügt hat, die ent­we­der Ereig­nis­se beschrei­ben, die nie tat­säch­lich statt­ge­fun­den haben, die dem Wahr­heits­sinn nicht ent­spre­chen oder die ein unwür­di­ges Bild von Gott zeich­nen. Nimmt man sol­che Pas­sa­gen rein wört­lich, erge­ben sie kei­nen Sinn oder ste­hen im Wider­spruch zum Gesamt­bild der Schrift. Orig­e­nes war über­zeugt, dass Gott sol­che Stel­len absicht­lich in die Bibel ein­ge­baut hat, um die Leser dazu anzu­re­gen, nach einer tie­fe­ren Wahr­heit zu suchen.

Wenn ein Text auf der wört­li­chen Ebe­ne pro­ble­ma­tisch erscheint oder ein unwür­di­ges Got­tes­bild ver­mit­telt, soll uns das laut Orig­e­nes nicht beun­ru­hi­gen, son­dern dazu moti­vie­ren, die geist­li­che Bedeu­tung dahin­ter zu ent­de­cken. Die­se tie­fe­re Bedeu­tung sei es, die wirk­lich zählt. Für Orig­e­nes waren man­che Bibel­stel­len so offen­sicht­lich unwür­dig für Gott, dass es für ihn undenk­bar war, dass ihre wort­wört­li­che Bedeu­tung der eigent­li­che Sinn des Tex­tes sein könn­te. In sol­chen Fäl­len sei die tie­fe­re, geist­li­che Bedeu­tung auto­ma­tisch die wah­re Bedeu­tung (De Prin­ci­pi­is 4.1.15; Peri Archon IV, 2.9). Dem­nach ist das Wort „wört­lich“ so zu ver­ste­hen, dass es sich auf die Bedeu­tung bezieht, die ver­mit­telt wird, und nicht auf die Art und Wei­se, in der die­se Bedeu­tung ver­mit­telt wird (Car­ter 2018:178).

Orig­e­nes befür­wor­te­te daher eine wört­li­che Aus­le­gung der Bibel, wo sie sinn­voll ist. Aber wenn ein Vers wört­lich ver­stan­den pro­ble­ma­tisch ist – sei es theo­lo­gisch, mora­lisch oder im Hin­blick auf Got­tes Wesen – dann müs­se unse­re Her­me­neu­tik so durch­dacht sein, dass wir die wört­li­che Les­art ver­wer­fen und die geist­li­che Bedeu­tung als den eigent­li­chen Sinn aner­ken­nen.

Die Richtschnur des Origenes

Damit die­se Her­an­ge­hens­wei­se nicht will­kür­lich wird, hat­te Orig­e­nes zwei zen­tra­le Kri­te­ri­en, um jede Aus­le­gung zu bewer­ten: Gott ist zugleich gerecht und gut. Kei­ne Aus­le­gung darf die­sen zwei Wesens­zü­gen Got­tes wider­spre­chen (Lies 1992:42). Wenn eine wört­li­che Aus­le­gung Got­tes Güte oder Gerech­tig­keit kom­pro­mit­tiert, müs­se sie abge­lehnt und die Stel­le anders inter­pre­tiert wer­den – bei­spiels­wei­se alle­go­risch. Laut Orig­e­nes ist dies der ein­zi­ge rich­ti­ge Weg, die Bibel ernst zu neh­men und sie tat­säch­lich wort­ge­treu zu lesen. Wer an zu sim­plis­ti­schen oder ober­fläch­li­chen Les­ar­ten fest­hält, ris­kiert hin­ge­gen, Got­tes Cha­rak­ter zu ver­zer­ren und ein unwür­di­ges Got­tes­bild zu verbreiten.

Die Richtschnur des Augustinus

Auch Augus­ti­nus hat eine zu ein­fa­che wort­wört­li­che Aus­le­gung der Bibel abge­lehnt. Er äußer­te in De Gene­si ad Lit­teram I, 19.39:

Wenn die wört­li­che Aus­le­gung zu einem offen­sicht­li­chen Wider­spruch führt, müs­sen wir nach einer alle­go­ri­schen Deu­tung suchen, die im Ein­klang mit dem Glau­ben steht.“

Augus­ti­nus betont (De doctr. christ. 3.10), dass es nicht nur wich­tig ist, meta­pho­ri­sche Spra­che nicht fälsch­li­cher­wei­se wört­lich zu ver­ste­hen, son­dern auch, dass wört­li­che Aus­sa­gen nicht vor­schnell als bild­lich abge­tan wer­den dür­fen. Er gibt eine kla­re Regel, um zu unter­schei­den, ob eine Bibel­stel­le wört­lich oder bild­lich zu ver­ste­hen ist: Wenn eine Bibel­stel­le bei wört­li­cher Aus­le­gung weder zur Rein­heit des Lebens noch zu gesun­der Leh­re bei­trägt, dann ist sie als bild­lich zu verstehen.

Rein­heit des Lebens“ bedeu­tet für Augus­ti­nus, dass eine Bibel­stel­le uns hilft, Gott und unse­ren Nächs­ten zu lie­ben. „Gesun­de Leh­re“ bezieht sich auf das wah­re Wis­sen über Gott. Damit wird die ent­schei­den­de Richt­schnur von Augus­ti­nus für die rich­ti­ge Aus­le­gung deut­lich: Führt eine Aus­le­gung der Schrift zu einer tie­fe­ren Lie­be zu Gott und den Men­schen? Wer in sei­nem Gewis­sen erkennt, dass eine Bibel­stel­le ihn in der Lie­be und Erkennt­nis Got­tes und des Nächs­ten wach­sen lässt, kann dar­auf hof­fen, sie rich­tig ver­stan­den zu haben.

Lektion 2: Sind alle Geschichten in der Bibel historisch?

Kel­sos, ein Phi­lo­soph des 2. Jahr­hun­derts, war einer der frü­hes­ten und schärfs­ten Kri­ti­ker des Chris­ten­tums. In sei­nem Werk „Die wah­re Leh­re“ griff er ver­schie­de­ne Aspek­te des christ­li­chen Glau­bens an, dar­un­ter auch die wört­li­che Inter­pre­ta­ti­on der Schöp­fungs­ge­schich­te. Kel­sos betrach­te­te es als naiv und unver­nünf­tig, das „Mär­chen“ der Schöp­fungs­ge­schich­te als his­to­risch zu verstehen.

Orig­e­nes ver­fass­te als Ant­wort auf die Kri­tik des Kel­sos sein Werk Gegen Kel­sos. Dabei stimm­te er Kel­sos in einem ent­schei­den­den Punkt zu: Die Schöp­fungs­ge­schich­te sei nicht als his­to­ri­sche Erzäh­lung, son­dern bild­lich zu ver­ste­hen (Con­tra Cel­sum 1.43). Doch anstatt Kel­sos’ Kri­tik ein­fach hin­zu­neh­men, dreh­te Orig­e­nes das Argu­ment um. Er ver­wies auf fabel­haf­te Erzäh­lun­gen, die Kel­sos selbst ver­mut­lich als wert­voll erach­te­te, und mach­te deut­lich, dass eine Geschich­te nicht his­to­risch sein muss, um eine tie­fe Wahr­heit zu ver­mit­teln. Damit stell­te er klar, dass bibli­sche Erzäh­lun­gen auch dann von gro­ßer Bedeu­tung sind, wenn sie nicht his­to­risch, son­dern sym­bo­lisch ver­stan­den werden.

Lektion 3: Ist die Bibel irrtumslos?

Augustinus – ein Verfechter der Irrtumslosigkeit der Bibel.

Ein oft zitier­ter Text über das Wesen der Bibel stammt von Augus­ti­nus:

Denn ich geste­he dei­ner Lie­be: nur den Büchern der Hei­li­gen Schrift, die als kano­ni­sche aner­kannt sind, habe ich gelernt, eine sol­che Ehr­furcht zu erwei­sen, daß ich fel­sen­fest glau­be, kei­ner ihrer Ver­fas­ser sei bei der Abfas­sung in einem Irr­tum gewe­sen. Und wenn ich in ihnen auf eine Stel­le sto­ße, die mir mit der Wahr­heit nicht über­ein­zu­stim­men scheint, so zweif­le ich kei­nen Augen­blick, daß ent­we­der die Abschrift feh­ler­haft ist oder daß der Über­set­zer den Gedan­ken des Ori­gi­nals nicht genau aus­ge­drückt hat oder daß ich die Sache nicht ver­stan­den habe. (Epis­tu­la 82,3)

Augus­ti­nus war ohne Fra­ge ein Ver­fech­ter der Irr­tums­lo­sig­keit der Bibel. Er hat sogar gelehrt, dass es Sün­de ist an der Irr­tums­lo­sig­keit zu zwei­feln (Epis­tu­la 82,3).

Hätten Origenes und Augustinus die Chicago-Erklärung unterschrieben?

Liest man aus­ge­wähl­te Zita­te von Orig­e­nes oder Augus­ti­nus, könn­te man leicht den Ein­druck gewin­nen, sie hät­ten ohne zu zögern die Chi­ca­go-Erklä­rung zur bibli­schen Irr­tums­lo­sig­keit unter­schrie­ben. Ihre Schrif­ten ent­hal­ten Pas­sa­gen, in denen sie die abso­lu­te Auto­ri­tät der Bibel beto­nen und jeg­li­chen Irr­tum in der Schrift ablehnen.

Doch hier zeigt sich ein Pro­blem: Wir nei­gen dazu, Begrif­fe wie „Irr­tum“ oder „Wahr­heit“ mit moder­nen Bedeu­tun­gen zu fül­len. Heu­te wird Irr­tums­lo­sig­keit oft so ver­stan­den, dass jede Aus­sa­ge der Bibel – sei sie his­to­risch, wis­sen­schaft­lich oder theo­lo­gisch – abso­lut prä­zi­se und feh­ler­frei sein muss. Damit geht oft ein­her die tie­fe Über­zeu­gung, dass die Bibel wort­wört­lich ver­stan­den wer­den muss.

Wie wir bereits bei der wört­li­chen Aus­le­gung gese­hen haben, haben die Kir­chen­vä­ter die­se Wor­te und Kon­zep­te anders ver­stan­den. Ein genaue­rer Blick auf ihre Bibel­aus­le­gung zeigt, dass sie zwar an die Irr­tums­lo­sig­keit der Schrift glaub­ten – aber sie füll­ten das Kon­zept der Irr­tums­lo­sig­keit mit einem ande­ren Ver­ständ­nis, als vie­le es heu­te tun. Wie wir bereits oben gese­hen haben, glaub­ten Augus­ti­nus und Orig­e­nes, dass die Bibel Tex­te ent­hält, die ein unwür­di­ges Got­tes­bild ver­kün­den und nicht der Wahr­heit ent­spre­chen (De Prin­ci­pi­is 4.1.15).

Augus­ti­nus argu­men­tier­te sogar, dass bibli­sche Aus­sa­gen über die Natur im Licht neu­er Erkennt­nis­se über­dacht wer­den sollten:

Es gibt Zei­ten, in denen sogar ein Ungläu­bi­ger eine Wahr­heit über die Erde, den Him­mel oder ande­re Ele­men­te die­ser Welt ent­deckt, eine Wahr­heit, die durch Ver­nunft oder Erfah­rung bewie­sen wer­den kann. Es wäre daher höchst bekla­gens­wert und gefähr­lich, wenn ein Christ etwas Fal­sches über die­se Din­ge sagt, gestützt auf sei­ne Inter­pre­ta­ti­on der Hei­li­gen Schrift.“ (De Gene­si ad lit­teram, I,19,39)

Augus­ti­nus warnt davor, dass Chris­ten, die ohne Wis­sen über natur­wis­sen­schaft­li­che Fak­ten spre­chen, Ungläu­bi­ge abschre­cken und die Bibel dis­kre­di­tie­ren. Er betont, dass es nicht nur pein­lich, son­dern auch schäd­lich ist, wenn Chris­ten fal­sche wis­sen­schaft­li­che Behaup­tun­gen auf­stel­len und die­se mit der Bibel begrün­den. Da die Bibel nicht geschrie­ben wur­de, um wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se zu ver­mit­teln, sah Augus­ti­nus kein Pro­blem dar­in, wenn sie in natur­wis­sen­schaft­li­chen oder his­to­ri­schen Aspek­ten nicht immer kor­rekt ist.

Das Problem in der Irrtumslosigkeitsdiskussion

Ja, vie­le Kir­chen­vä­ter haben die Irr­tums­lo­sig­keit der Bibel betont, doch ihr Ver­ständ­nis davon war oft ganz anders als das, was wir heu­te dar­un­ter ver­ste­hen. Für sie bedeu­te­te Irr­tums­lo­sig­keit nicht, dass jedes Wort der Bibel wort­wört­lich wahr ist. Viel­mehr ging es ihnen um die Auto­ri­tät der Schrift und dar­um, dass die Bibel voll­kom­men aus­reicht, um ihren Zweck zu erfül­len und uns alles zu leh­ren, was wir brau­chen, um erret­tet wer­den zu kön­nen, indem sie auf Chris­tus verweist.

Die Dis­kus­si­on über die Irr­tums­lo­sig­keit der Bibel ist oft schwie­rig, weil sie schein­bar nur zwei extre­me Posi­tio­nen zulässt. Auf der einen Sei­te steht die Ansicht, dass die Bibel abso­lut irr­tums­los ist und kei­ner­lei Feh­ler ent­hält. Doch wer die Bibel genau stu­diert, erkennt, dass die­ses Ver­ständ­nis schwer mit dem vor­lie­gen­den Wesen und den Tex­ten der Bibel ver­ein­bar ist.

Auf der ande­ren Sei­te gibt es Chris­ten, die die Bibel ledig­lich als ein von Men­schen geschrie­be­nes Buch betrach­ten, das vol­ler Feh­ler sei und des­halb kei­ne gött­li­che Auto­ri­tät habe. Auch die­se Sicht­wei­se ist pro­ble­ma­tisch, weil sie über­sieht, dass die Bibel mehr ist als ein gewöhn­li­ches Buch – sie ist inspi­riert und offen­bart Got­tes Wahrheit.

Ich den­ke, es lohnt sich, von den Kir­chen­vä­tern zu ler­nen. Sie hiel­ten fest dar­an, dass die Bibel Auto­ri­tät hat, inspi­riert ist und dass Gott durch sie zu uns spricht, ohne zu behaup­ten, dass jedes ein­zel­ne Wort der Schrift fak­tisch und his­to­risch unfehl­bar sein muss. Die­ses aus­ge­wo­ge­ne Ver­ständ­nis könn­te uns hel­fen, die Bibel als das zu schät­zen, was sie wirk­lich ist: ein gött­lich inspi­rier­tes Buch, das uns zur Wahr­heit führt und auf Chris­tus hinweist.

Lektion 4: Extreme kommen und gehen

Zwei große Schulen der Bibelauslegung: Antiochia und Alexandria

Schon in der frü­hen Kir­che gab es unter­schied­li­che Ansät­ze, wie die Bibel zu ver­ste­hen sei. Zwei der bedeu­tends­ten her­me­neu­ti­schen Schu­len waren Antio­chia und Alex­an­dria, die oft kon­trä­re Sicht­wei­sen vertraten.

Die Schu­le von Alex­an­dria beton­te die alle­go­ri­sche Aus­le­gung der Schrift. Sie war über­zeugt, dass bibli­sche Tex­te eine tie­fe­re, ver­bor­ge­ne Bedeu­tung haben, die es zu ent­de­cken gilt. Wört­li­che Les­ar­ten waren für sie oft unzu­rei­chend oder sogar irre­füh­rend, wenn sie nicht mit der gött­li­chen Wahr­heit über­ein­stimm­ten. Ver­tre­ter wie Orig­e­nes sahen in fast jeder bibli­schen Erzäh­lung ein Sym­bol für geist­li­che Rea­li­tä­ten und hiel­ten es für not­wen­dig, über den blo­ßen Wort­laut hin­aus­zu­ge­hen, um die eigent­li­che Bot­schaft der Schrift zu erfassen.

Die Schu­le von Antio­chia hin­ge­gen sah die­se Metho­de als zu will­kür­lich an. Sie leg­te Wert auf eine his­to­ri­sche und gram­ma­ti­sche Exege­se, die sich stär­ker an der ursprüng­li­chen Bedeu­tung des Tex­tes ori­en­tier­te. Wäh­rend sie nicht aus­schloss, dass es in der Bibel tie­fe­re geist­li­che Wahr­hei­ten gibt, war sie vor­sich­ti­ger, alle­go­ri­sche Deu­tun­gen anzu­wen­den. Für sie war es wich­tig, dass die Schrift zuerst im ursprüng­li­chen his­to­ri­schen Kon­text ver­stan­den wur­de, bevor man wei­ter­füh­ren­de Inter­pre­ta­tio­nen vornahm.

Ein offenes Herz bewahren

Die­se Span­nun­gen zwi­schen sym­bo­li­scher und wört­li­cher Bibel­aus­le­gung sind nicht nur ein Phä­no­men der frü­hen Kir­che. Immer wie­der sehen wir in der Kir­chen­ge­schich­te, wie radi­ka­le Aus­le­gungs­me­tho­den zu Gegen­be­we­gun­gen füh­ren. Die Bibel­aus­le­gung ist daher ein fort­lau­fen­der Pro­zess – die Welt ver­än­dert sich, unser Wis­sen über die Bibel wächst, und neue her­me­neu­ti­sche Ansät­ze entstehen.

Es ist daher klug, eine offe­ne Hal­tung zu bewah­ren und bereit zu sein, sich mit neu­en her­me­neu­ti­schen Ideen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Anstatt uns starr auf eine Metho­de fest­zu­le­gen, soll­ten wir uns fra­gen: Wie kön­nen wir heu­te treu und zugleich tief­grün­dig die Bibel auslegen?

Lektion 5: Das Zentrum der Schrift

Ja, wir soll­ten offen blei­ben und kon­ti­nu­ier­lich dazu­ler­nen, um die Bibel fun­diert aus­zu­le­gen. Doch die­se Offen­heit darf nicht in Belie­big­keit aus­ar­ten. Ein zen­tra­les Prin­zip für eine gesun­de Her­me­neu­tik, das sich durch die gesam­te Tra­di­ti­on der Kir­chen­vä­ter zieht, ist die Chris­to­zen­trik der Schrift: Die Bibel muss im Licht von Jesus gele­sen wer­den. Er ist das Herz­stück der Schrift, und jeder bibli­sche Text ver­weist letzt­lich auf ihn.

Für die frü­hen Kir­chen­vä­ter und ‑müt­ter war Jesus der her­me­neu­ti­sche Schlüs­sel. Sein Leben, sein Tod und sei­ne Auf­er­ste­hung bil­de­ten die Bril­le, durch die die gesam­te Bibel zu lesen ist. (Keen 2022:141)

Fazit

In den Schrif­ten der Kir­chen­vä­ter begeg­nen wir einer Viel­falt an her­me­neu­ti­schen Ansät­zen. Dies zeigt, dass sie inten­siv dar­um gerun­gen haben, wie die Bibel rich­tig aus­zu­le­gen ist. Ihr Wis­sen war stück­haft – genau­so wie auch wir heu­te nur Stück­werk erken­nen (1. Korin­ther 13,9). Des­halb bleibt unse­re Her­me­neu­tik eine fort­lau­fen­de Rei­se, auf der wir stän­dig dazulernen.

Die­se Rei­se erfor­dert jedoch Demut. Wir soll­ten stets offen blei­ben, unse­ren Zugang zur Schrift zu hin­ter­fra­gen und wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Doch zugleich braucht sie eine fes­te Ver­an­ke­rung: die Über­zeu­gung, dass Jesus das Zen­trum der Schrift ist und wir sie in sei­nem Licht aus­le­gen müssen.

Das bedeu­tet: Jede Inter­pre­ta­ti­on der Bibel, die sei­nem Leben und sei­ner Leh­re wider­spricht, soll­te mit Vor­sicht betrach­tet wer­den. Denn Jesus selbst sagt:

Ihr erforscht die Schrif­ten, weil ihr meint, in ihnen das ewi­ge Leben zu haben; doch sie sind es, die von mir zeu­gen.“ (Johan­nes 5,39)

Wenn wir die Bibel Jesus-zen­triert lesen, dann lesen wir sie rich­tig – denn die gesam­te Schrift weist letzt­lich auf ihn hin.

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Bibliografie

Lies, Lothar. 1992. Orig­e­nes’ „Peri Archon“. Eine undog­ma­ti­sche Dogmatik.

Augus­ti­nus von Hip­po und Uwe Holt­mann. 2022. Aus­ge­wähl­te Brie­fe (Ers­ter Teil) (Epis­tu­lae (Aus­wahl)).

Car­ter, Craig A. 2018. Inter­pre­ting Scrip­tu­re with the Gre­at Tra­di­ti­on: Reco­ve­ring the Geni­us of Pre­mo­dern Exegesis. 

Keen, Karen R. 2022. The Word of a Hum­ble God: The Ori­g­ins, Inspi­ra­ti­on, and Inter­pre­ta­ti­on of Scripture.

Geschrieben von
Manuel Becker

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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