Rezension: Das Neue Testament – jüdisch erklärt

Von Manuel Becker

Bibelkommentar, jüdischer Kontext, Neues Testament
Vor 2 Wochen

Miss­ver­ständ­nis­se ver­mei­den. Das „Neue Tes­ta­ment – jüdisch erklärt“ hilft Ihnen, die jüdi­schen Wur­zeln des Neu­en Tes­ta­ments bes­ser zu ver­ste­hen, um die bibli­schen Tex­te fun­dier­ter aus­le­gen zu kön­nen. In die­ser Rezen­si­on erfah­ren Sie, ob sich der Kauf für Sie lohnt und was Sie für Ihr Geld bekommen. 

Das Neue Testament aus jüdischer Perspektive betrachtet

Stel­len Sie sich vor, Sie gehen in eine Büche­rei. Sie kom­men an einer Abtei­lung vor­bei mit der Über­schrift „Jüdi­sche Lite­ra­tur.“ Sie las­sen Ihren Blick über die Bücher schwei­fen und ent­de­cken dabei ein Neu­es Tes­ta­ment. Ihr ers­ter Gedan­ke ist viel­leicht „Ups, das muss der Mit­ar­bei­ter wohl falsch ein­sor­tiert haben.“

Die­se klei­ne „Geschich­te“ illus­triert, was vie­len sicher erst auf den zwei­ten Blick klar wird: Das Neue Tes­ta­ment ist ein durch und durch jüdi­sches Buch. Es wur­de (fast) aus­schließ­lich von Juden geschrie­ben, die in einem jüdi­schen Kon­text leb­ten und wie Juden theo­lo­gisch dach­ten und argu­men­tier­ten. Wenn wir die­sen jüdi­schen Hin­ter­grund bei der Inter­pre­ta­ti­on des Neu­en Tes­ta­ments (NT) igno­rie­ren, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass wir die bibli­schen Tex­te missverstehen.

Das Neue Tes­ta­ment – jüdisch erklärt (NTJE) wur­de geschrie­ben, um Ihnen zu hel­fen, das NT bes­ser in sei­nem jüdi­schen Kon­text ver­ste­hen zu können.

Von mehr als 80 jüdischen Gelehrten geschrieben

Das NTJE ist die deut­sche Über­set­zung von „The Jewish Anno­ta­ted New Tes­ta­ment, Second Edi­ti­on.“ Es ist ein wahr­lich ein­zig­ar­ti­ges Buch. Das gesam­te NT wur­de von jüdi­schen Gelehr­ten kom­men­tiert und mit vie­len ver­tie­fen­den Zusatz­tex­ten berei­chert. Es ist ein beein­dru­cken­des Gemein­schafts­werk von über 80 jüdi­schen Gelehr­ten aus der gan­zen Welt.

Die Her­aus­ge­ber der Ori­gi­nal­aus­ga­be sind Amy-Jill Levi­ne und Marc Zvi Brett­ler. Amy-Jill Levi­ne ist eine US-ame­ri­ka­ni­sche jüdi­sche Bibel­ex­ege­tin, Hoch­schul­leh­re­rin und Autorin. Marc Zvi Brett­ler ist ein ame­ri­ka­ni­scher Bibel­wis­sen­schaft­ler und Pro­fes­sor für Juda­is­tik an der Duke Uni­ver­si­ty. Die Her­aus­ge­ber der deut­schen Fas­sung sind Wolf­gang Kraus, Micha­el Til­ly und Axel Töll­ner. Die Deut­sche Bibel­ge­sell­schaft fun­giert als Ver­lag für die deut­sche Aus­ga­be des Buches.

Ziele von „Das Neue Testament jüdisch erklärt”

Die ers­te Auf­la­ge der Originalausgabe

erreich­te ein brei­tes jüdi­sches wie christ­li­ches Publi­kum und trug dazu bei, sowohl die jüdi­sche Ver­traut­heit mit dem Neu­en Tes­ta­ment als auch das christ­li­che Bewusst­sein für den jüdi­schen Kon­text des Neu­en Tes­ta­ments zu för­dern. Es fin­det bei Aka­de­mien, an Uni­ver­si­tä­ten und theo­lo­gi­schen Semi­na­ren sowohl bei jüdi­schen und christ­li­chen als auch gemein­schaft­li­chen jüdisch-christ­li­chen Stu­di­en­grup­pen brei­te Ver­wen­dung. (S xx)

Die jüdi­sche Kom­men­tie­rung der NT-Tex­te ver­hilft dem jüdi­schen Kon­text „in dem gro­ße Tei­le des Neu­en Tes­ta­ments ent­stan­den sind – und der in Kir­chen und christ­li­cher Theo­lo­gie lan­ge Zeit ver­leug­net oder igno­riert wur­de – zu sei­nem not­wen­di­gen Recht“ (S. xv).

Die Geschich­te zeigt, dass ver­kürz­te und all­zu ver­ein­fa­chen­de Inter­pre­ta­tio­nen von neu­tes­ta­ment­li­chen Tex­ten zu Juden­hass geführt haben. Das NTJE will, die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Chris­ten und Juden för­dern, um die Ver­gan­gen­heit bes­ser auf­zu­ar­bei­ten und zu einer bes­se­ren Theo­lo­gie für die Zukunft bei­zu­tra­gen (S. xii). Somit trägt das NTJE dazu bei, anti­jü­di­sche Leh­ren zu ver­mei­den und Hass in Lie­be zu verwandeln.

Ein wei­te­res Ziel ist es, die bibli­schen Tex­te ernst zu neh­men und mit­hil­fe der wis­sen­schaft­lich reflek­tier­ten Bibel­aus­le­gung die­se mög­lichst objek­tiv auszulegen.

Am Anfang ste­hen das Hin­hö­ren auf den Text und der Respekt vor ihm. (S. 12 NTJED)

Für die Autoren des NTJE bedeu­tet, die Bibel ernst zu neh­men, sie in ihrem his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len Kon­text zu ver­ste­hen und aus­zu­le­gen (S. 12–13 NTJED).

Das neue Testament jüdisch erklärt: in der Diskussion

Um den Dia­log zu för­dern und wei­te­re Dis­kus­sio­nen über die The­men des NTJE anzu­re­gen, hat sich die Deut­sche Bibel­ge­sell­schaft ent­schlos­sen, einen Ergän­zungs­band zum NTJE her­aus­zu­brin­gen (S. 9 NTJED). Das Neue Tes­ta­ment jüdisch erklärt: in der Dis­kus­si­on (NTJED) ist eine Samm­lung von 25 Bei­trä­gen nam­haf­ter Autoren, die als aus­ge­wie­se­ne Exper­ten auf dem jewei­li­gen The­men­ge­biet gelten.

Das NTJED hat zwei Hauptteile.

Im ers­ten Teil sind zunächst Bei­trä­ge ver­sam­melt, in denen sich die Autorin­nen und Autoren mit kon­kre­ten Aus­le­gun­gen neu­tes­ta­ment­li­cher Bücher oder Buch­tei­le beschäf­ti­gen. Der zwei­te Teil greift sodann ein­zel­ne the­ma­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen aus dem NTJE auf. (S. 9 NTJED)

Hier ein paar Bei­spie­le, die die Viel­falt der The­men im zwei­ten Teil auf­zei­gen: die Bedeu­tung des Alten Tes­ta­ments im NT, Geschlech­ter­be­zie­hun­gen und Sexua­li­tät, wer waren die Pha­ri­sä­er wirk­lich, Pau­lus und das Evan­ge­li­um von Jesus Chris­tus, Apo­ka­lyp­tik und Welt­un­ter­gang in der Jesus­über­lie­fe­rung der Evan­ge­li­en und vie­le wei­te­re Themen.

Alle Bei­trä­ge sol­len zum bes­se­ren Bibel­ver­ständ­nis und zu einer bes­se­ren Bezie­hung zwi­schen Juden und Chris­ten bei­tra­gen (S. 13 NTJED).

Exkurse in „Das neue Testament jüdisch erklärt”

Das NTJE ent­hält 85 the­ma­ti­sche Info­bo­xen, in denen ein­zel­ne Fra­ge­stel­lun­gen ver­tieft wer­den. Die The­men­bo­xen sind kurz und knapp gehal­ten, um die wich­tigs­ten Infor­ma­tio­nen über­sicht­lich zu prä­sen­tie­ren. Hin­zu kom­men wei­te­re 50 aus­führ­li­che Essays zu The­men, ohne deren Kennt­nis der Zusam­men­hang zwi­schen dem Neu­en Tes­ta­ment und sei­nem jüdi­schen Kon­text unver­ständ­lich bleibt. Vier die­ser Essays wur­den eigens für die deut­sche Aus­ga­be ver­fasst und gehen auf den beson­de­ren Kon­text der deutsch-jüdi­schen Geschich­te ein.

Die Info­bo­xen behan­deln eine Viel­zahl span­nen­der The­men wie z. B. Jesu Tod als Löse­geld, Gerech­tig­keit, Frei­heit vom Gesetz, Sexu­al­mo­ral, geist­li­che Gaben, die Zah­len­sym­bo­lik der Offen­ba­rung, die Cha­os-Unge­heu­er in der Bibel und vie­les mehr.

Die Essays sind in die fol­gen­den neun Kate­go­rien geglie­dert: Geschich­te, Gesell­schaft, Strö­mun­gen und Gemein­schaf­ten, Juden und Nicht­ju­den, Glau­bens­pra­xis, Glau­bens­vor­stel­lun­gen, jüdi­sche Literatur/​literarische Quel­len, Reak­tio­nen auf das NT und „Zur Situa­ti­on in Deutsch­land und Europa.“

Die Essays behan­deln eine Viel­zahl rele­van­ter The­men, wie z. B. das jüdi­sche Fami­li­en­le­ben im ers­ten Jahr­hun­dert, den his­to­ri­schen Jesus, über­na­tür­li­che Wesen, Auf­er­ste­hung und Jen­seits­vor­stel­lun­gen, den Johan­nes­pro­log als Midrasch, die Spra­che des NT und die Über­set­zung der Bibel, Jesus im moder­nen jüdi­schen Den­ken und 43 wei­te­re span­nen­de Essays.

Wei­ter­hin bie­tet das NTJE eine Ein­füh­rung in jedes neu­tes­ta­ment­li­che Buch, wel­che die wich­tigs­ten Fak­ten zur Lek­tü­re des jewei­li­gen Buches zusammenfasst.

Beispiel 1 (NTJE): Das jüdische Familienleben im ersten Jahrhundert

Die Essays des NTJE sind voll­ge­packt mit rele­van­ten Infor­ma­tio­nen über die bibli­schen Tex­te und das jüdi­sche Leben der dama­li­gen Zeit. Der Essay über das jüdi­sche Fami­li­en­le­ben zeigt gekonnt auf, dass die moder­ne Vor­stel­lung von Fami­lie weit von der dama­li­gen Rea­li­tät ent­fernt ist.

Das Zusam­men­le­ben meh­re­rer Gene­ra­tio­nen war damals üblich. Oft leb­ten bis zu drei Gene­ra­tio­nen gemein­sam in einem Haus­halt (S. 650). Wäh­rend 1 Mose 2,24 betont, dass ein Mann sei­ne Eltern ver­las­sen soll, um sich mit sei­ner Frau zu ver­bin­den, war das Gegen­teil die übli­che Pra­xis: Die Frau ver­ließ ihr Eltern­haus und zog in das Haus ihres Man­nes (S. 652).

Frau­en hei­ra­te­ten in der Regel im Alter zwi­schen 12 und 20 Jah­ren. Bei Män­nern hin­ge­gen lag das Hei­rats­al­ter übli­cher­wei­se bei etwa 30 Jah­ren (S. 651).

Ehen, beson­ders die ers­ten, wur­den oft mit wenig Rück­sicht auf die Gefüh­le der zukünf­ti­gen Ehe­leu­te geschlos­sen. (S. 652)

Teil­wei­se kann­ten sich die Ehe­part­ner noch nicht ein­mal, bevor sie ver­hei­ra­tet wur­den (S. 652). Die Ehe wur­de gewöhn­lich von den Eltern arran­giert und dien­te nicht in ers­ter Linie dem per­sön­li­chen Glück der Ehe­part­ner, son­dern der Siche­rung und dem Wohl­erge­hen des gesam­ten Fami­li­en­ver­ban­des. Viel­leicht war auch das der Grund, wes­halb die Part­ner den Groß­teil ihres Tages getrennt von­ein­an­der und mit Men­schen des glei­chen Geschlechts ver­brach­ten (S. 652). Als har­mo­nisch galt eine Ehe, wenn

die Ehe­frau die Ent­schei­dun­gen, Wün­sche und Wer­te ihres Man­nes still hin­nahm, sich sei­ner Auto­ri­tät beug­te und sich beschei­den gab. (S. 652)

Die hohe Müt­ter­sterb­lich­keit und der gro­ße Alters­un­ter­schied in den meis­ten Ehen führ­ten dazu, dass die meis­ten Men­schen in ihrem Leben mehr­mals ver­hei­ra­tet waren (S. 651). Poly­ga­mie war nach dem Mosai­schen Gesetz und im rab­bi­ni­schen Den­ken erlaubt (S. 651), aber nur die Rei­chen konn­ten sich meh­re­re Frau­en und Kin­der finan­zi­ell leisten.

Sklaverei im ersten Jahrhundert

Skla­ve­rei wur­de damals als selbst­ver­ständ­lich ange­se­hen. Die Juden hat­ten Skla­ven, muss­ten aber auch teil­wei­se selbst als Skla­ven die­nen. Skla­ven gal­ten als Eigen­tum ihrer Her­ren und die­se konn­ten mit ihnen machen, was sie wollten.

Männ­li­che Eigen­tü­mer von Skla­ven hat­ten das Recht, mit den Per­so­nen, die sie besa­ßen, Geschlechts­ver­kehr zu haben, und zwar sowohl mit Frau­en als auch Män­nern, mit Kin­dern wie auch mit Erwach­se­nen. (S. 651)

Immer wenn wir in der Bibel Tex­te zu den The­men Fami­lie oder Skla­ve­rei fin­den, ist es wich­tig, nicht unse­re eige­nen Vor­stel­lun­gen davon in die Tex­te zu pro­ji­zie­ren, son­dern die­se Tex­te im Licht der dama­li­gen Rea­li­tät zu interpretieren.

Beispiel 2 (NTJED): Wer waren die Pharisäer?

Wenn eine jüdische Gruppierung zum Schimpfwort wird

Die jüdi­sche Grup­pe, die von Chris­ten in der Regel am nega­tivs­ten dar­ge­stellt wird, ist die der Pha­ri­sä­er. Sie wer­den meis­tens als pedan­ti­sche und werks­ge­rech­te Heuch­ler beschrie­ben. Jeman­den als Pha­ri­sä­er zu bezeich­nen, ist in christ­li­chen Krei­sen fast schon ein Schimpf­wort. Die­se nega­ti­ve Ste­reo­ty­pi­sie­rung der Pha­ri­sä­er beruht ver­mut­lich zu einem gro­ßen Teil auf dem kri­ti­schen Bild, das die Evan­ge­li­en von die­ser Grup­pe zeich­nen. Das Pro­blem hier­bei ist jedoch, dass

die Auf­nah­me der nega­ti­ven Pha­ri­sä­er­bil­der in For­schung, Leh­re und Ver­kün­di­gung sel­ten auf der Ebe­ne von Ste­reo­ty­pi­sie­run­gen ver­blei­ben, son­dern mit­un­ter als anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments in eine Welt­an­schau­ung inte­griert wer­den. (S. 214 NTJED)

Um der dar­aus resul­tie­ren­den nega­ti­ven Ein­stel­lung gegen­über Juden ent­ge­gen­zu­wir­ken, greift das NTJED das The­ma in einem gut recher­chier­ten Bei­trag über die Pha­ri­sä­er auf.

Wer waren die Pharisäer?

Jan Rai­thel, der Autor des Bei­trags, weist dar­auf hin, dass

unser gesi­cher­tes Wis­sen über die­se jüdi­sche Strö­mung in vie­ler­lei Hin­sicht begrenzt ist und die ein­schlä­gi­gen Quel­len über die­se Grup­pe ohne Aus­nah­me von poli­ti­schen und/​oder theo­lo­gi­schen Absich­ten ein­ge­färbt sind. (S. 197)

Die­se Tat­sa­che soll­te man bei der gesam­ten Dis­kus­si­on im Kopf behal­ten. Als rela­tiv gesi­cher­tes Wis­sen gilt, dass die Pha­ri­sä­er sich beson­ders durch drei Distink­ti­ons­merk­ma­le von den ande­ren jüdi­schen Grup­pen abge­son­dert haben (S. 200):

  1. Die meis­ten Pha­ri­sä­er hat­ten einen hand­werk­li­chen bzw. klein­bäu­er­li­chen Hintergrund.
  2. Die »mäßi­ge« Hel­le­ni­sie­rung ihres Gedankenguts.
  3. Ihre Wert­schät­zung der »Tra­di­tio­nen der Väter« und ihre Gewis­sen­haf­tig­keit bei der Befol­gung des mosai­schen Gesetzes.

Ihr Ziel war es, das Gesetz „rich­tig“ zu inter­pre­tie­ren und dadurch sicher­zu­stel­len, dass sie es genau befolg­ten. Ihr Her­zens­an­lie­gen war, Gott von gan­zem Her­zen zu gehor­chen und nicht ein „lau­es“ Leben vol­ler Kom­pro­mis­se zu füh­ren. Beson­ders wich­tig waren ihnen The­men wie die ritu­el­le Rein­heit, die Opfer­ge­bo­te und die agra­ri­schen Gebo­te. In Fra­gen des Ehe­rechts nah­men sie mit­un­ter eine eher libe­ra­le Posi­ti­on ein.

Jose­phus berichtet:

Die Pha­ri­sä­er glaub­ten an die Unsterb­lich­keit der See­le und gin­gen von einer jen­sei­ti­gen Gerech­tig­keit aus, sie glaub­ten an Engel und gin­gen von einem Zusam­men­spiel aus frei­em Wil­len und gött­li­cher Vor­se­hung aus. (S. 200)

Damit unter­schie­den sie sich von den Sad­du­zä­ern, die nicht an die Auf­er­ste­hung nach dem Tod glaub­ten. Die­ses klei­ne Bei­spiel illus­triert, dass es schon immer ver­schie­de­ne jüdi­sche Grup­pen gab, die teil­wei­se radi­kal unter­schied­li­che Din­ge glaub­ten. Des­halb soll­ten alle Sät­ze, die mit „Die Juden damals glaub­ten …“ begin­nen, mit Vor­sicht genos­sen wer­den. So wie heu­te nicht alle Chris­ten genau das Glei­che glau­ben, so gab es nie „die Juden“ im Sin­ne einer ein­heit­li­chen Grup­pe, die alle das Glei­che glaub­ten. Die­se Viel­falt an unter­schied­li­chen Mei­nun­gen im Juden­tum soll­te man immer im Kopf behalten.

Warum stellen die Evangelien die Pharisäer so negativ dar?

Die Pha­ri­sä­er waren ver­mut­lich die jüdi­sche Grup­pe, die der Jesus­be­we­gung ideo­lo­gisch am nächs­ten stand. Die ande­ren jüdi­schen Grup­pie­run­gen wie z. B. die Zelo­ten, die Esse­ner und die Sad­du­zä­er waren deut­lich wei­ter von den Leh­ren Jesu ent­fernt als die Pha­ri­sä­er. Gera­de des­halb beto­nen die Evan­ge­li­en den Unter­schied zwi­schen Jesus und den Pha­ri­sä­ern so stark.

Nicht die tat­säch­li­chen Cha­rak­ter­zü­ge der Pha­ri­sä­er waren aus­schlag­ge­bend für das Pha­ri­sä­er­bild der Evan­ge­li­en, son­dern die Iden­ti­täts­bil­dung der jun­gen Jesus­ge­mein­schaft, die sich von der ihnen nahe­ste­hen­den Grup­pe der Pha­ri­sä­er abgren­zen woll­te. (S. 215)

Rai­thel ver­steht also die pole­mi­sche Beschrei­bung der Pha­ri­sä­er in den Evan­ge­li­en als Ver­such, die Unter­schie­de zwi­schen die­sen bei­den ähn­li­chen Grup­pen zu ver­deut­li­chen. Die­se kogni­ti­ve Rich­tig­stel­lung der Iden­ti­tät der Pha­ri­sä­er soll dazu die­nen, nega­ti­ve Ein­stel­lun­gen gegen­über Juden zu über­win­den und gleich­zei­tig die eige­ne Selbst­re­fle­xi­on zu för­dern. So schließt Rai­thel sei­nen Bei­trag mit einer wich­ti­gen Herausforderung:

Statt in unse­rer Gesell­schaft oder Kir­che nach zeit­ge­nös­si­schen Pha­ri­sä­ern zu suchen, evo­ziert die Anwe­sen­heit die­ser Grup­pe im Neu­en Tes­ta­ment dann viel­leicht eine ande­re Fra­ge­stel­lung: Wel­che Kon­struk­tio­nen von Feind­bil­dern die­nen unse­rer eige­nen Aus­bil­dung und Abgren­zung von Iden­ti­tät? Neben his­to­ri­sche Ein­ord­nun­gen der Pha­ri­sä­er tritt in kirch­li­cher Leh­re und Ver­kün­di­gung viel­leicht, frei nach Lk 10,29, die selbst­kri­ti­sche Fra­ge: »Wer ist mir der Ande­re?« (S. 215)

Erfüllt solide seinen Zweck

Das NTJE erfüllt genau den Zweck, für den es geschrie­ben wur­de. Die Kom­men­tie­rung des NT hilft, die bibli­schen Tex­te bes­ser in ihrem jüdi­schen Kon­text zu ver­ste­hen. Dies geschieht durch­gän­gig auf einer wis­sen­schaft­li­chen Ebe­ne. Die Tex­te aus dem Neu­en Tes­ta­ment, die his­to­risch zu Juden­hass geführt haben, wer­den beson­ders beleuch­tet und sorg­fäl­tig kom­men­tiert. Beson­ders gelun­gen fin­de ich die vie­len Essays und Info­bo­xen, die mit span­nen­den Infor­ma­tio­nen gefüllt sind und wirk­lich hel­fen, den dama­li­gen Kon­text bes­ser zu verstehen.

Ich möch­te aber nicht uner­wähnt las­sen, dass die Kom­men­tie­rung der meis­ten Ver­se sehr kurz und knapp gehal­ten ist, was wohl auch gar nicht anders mög­lich ist, ohne den Umfang des Buches, das in der gedruck­ten Fas­sung bereits über 900 Sei­ten umfasst, zu spren­gen. So ist die Kom­men­tie­rung des NTJE wirk­lich auf die für den jüdi­schen Kon­text rele­van­ten The­men fokus­siert. Inso­fern soll­te die Aus­le­gung der Bibel­stel­len immer ergänzt wer­den, durch einen Blick in wei­te­re Bibel­kom­men­ta­re, die eine wei­te­re Per­spek­ti­ve haben. Eine hilf­rei­che Über­sicht über ver­schie­de­ne ande­re deut­sche Bibel­kom­men­ta­re fin­den Sie hier.

Die Ein­lei­tun­gen zu den bibli­schen Büchern und die Kom­men­ta­re zu den bibli­schen Tex­ten ori­en­tie­ren sich an der his­to­risch-kri­ti­schen Bibel­aus­le­gung. Daher wer­den meh­re­re bibli­sche Bücher rela­tiv spät datiert und nicht alle „Pau­lus-Brie­fe“ als pau­li­nisch bewer­tet. Lei­der wer­den alter­na­ti­ve Datie­run­gen nicht erwähnt, son­dern Sicht­wei­se des Autors als ein­zi­ge Opti­on dargestellt.

Wei­ter­hin fin­de ich das NTJE auch als Refe­renz­werk beson­ders wert­voll. Die Kom­men­ta­re und die Essays sind voll von Ver­wei­sen auf jüdi­sche Tex­te, die für das Stu­di­um des jewei­li­gen The­mas rele­vant sind.

Alle hebräi­schen und grie­chi­schen Wör­ter sind mit latei­ni­schen Buch­sta­ben geschrie­ben. Die Spra­che ist zwar ein­deu­tig aka­de­misch, aber mei­ner Ansicht nach auch für Nicht-Aka­de­mi­ker noch gut verständlich.

Mein Fazit

Das NTJE tut genau das, was es ver­spricht: Es hilft, die Tex­te des Neu­en Tes­ta­ment in ihrem jüdi­schen Kon­text zu ver­ste­hen. Der spe­zi­el­le Fokus des NTJE beschränkt den Umfang der Kom­men­ta­re aus­schließ­lich auf die­sen Kon­text und ver­nach­läs­sigt daher vie­les, was in einem umfas­sen­de­ren Kom­men­tar Erwäh­nung fin­den wür­de. Daher soll­te die­ser Kom­men­tar immer in Beglei­tung eines all­ge­mei­ne­ren Bibel­kom­men­tars gele­sen wer­den. Für alle, die die jüdi­schen Wur­zeln des NT inten­si­ver stu­die­ren möch­ten, kann ich das NTJE unein­ge­schränkt empfehlen.

Das NTJED ist eine groß­ar­ti­ge ergän­zen­de Res­sour­ce, die vie­le der Inhal­te des NTJE ver­tieft. Mein Tipp: Nut­zen Sie die Logos-Vor­schau! Die­se gibt Ihnen einen Über­blick über die meis­ten The­men der ver­tie­fen­den Bei­trä­ge. Wenn die­se für Sie von Inter­es­se sind, lohnt sich der Kauf des NTJED für Sie.

Warum sich die Logos-Version besonders lohnt

Die Logos-Ver­si­on ist gera­de beim NTJE ganz beson­ders wert­voll! War­um? Das gesam­te NTJE hin­durch wird auf unzäh­li­ge jüdi­sche Tex­te ver­wie­sen und vie­le der Abkür­zun­gen die­ser Tex­te sind dem „nor­ma­len“ christ­li­chen Leser nicht geläu­fig, wie z. B. BerR 1,10 oder 1 QS 9,11. Wenn man mit der Maus über die­se Ver­wei­se fährt, zeigt Logos, ent­we­der die aus­ge­schrie­be­ne Refe­renz oder sogar direkt den zitier­ten Text an. Die detail­lier­ten Logos-Ver­lin­kun­gen ermög­li­chen ein schnel­les Nach­schla­gen der zitier­ten Tex­te, wenn man die ent­spre­chen­de Logos-Res­sour­ce besitzt.

Wenn Sie sich für die jüdi­schen Wur­zeln des NT inter­es­sie­ren und Ihr Bibel­stu­di­um auf eine neue Ebe­ne brin­gen wol­len, dann lie­gen Sie mit dem Neu­en Tes­ta­ment – jüdisch erklärt gold­rich­tig. Wenn Sie das NTJE als hilf­reich emp­fin­den, dann ver­ges­sen Sie nicht, das Neue Tes­ta­ment jüdisch erklärt: in der Dis­kus­si­on dazu­zu­kau­fen, es ergänzt das NTJE mit einer Fül­le wert­vol­ler Informationen.

Das Neue Testament jüdisch erklärtDas Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion

Eine Alternative zu „Das Neue Testament jüdisch erklärt”

Das NTJE ist ein wirk­lich ein­zig­ar­ti­ges Werk, das in kom­pak­ter Form die wich­tigs­ten Infor­ma­tio­nen zum jüdi­schen Kon­text des NT ver­mit­telt. Wer jedoch tie­fer in die Mate­rie ein­stei­gen will, fin­det im Kom­men­tar von Strack und Bil­ler­beck eine ech­te Alter­na­ti­ve. Die­ser Kom­men­tar ist in der aka­de­mi­schen Welt längst eta­bliert und bie­tet ein ver­tie­fen­des Wissen.

Strack-Billerbeck. Alternative zu "Das Neue Testament jüdisch erklärt"


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Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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