Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament war unter Kennern über Jahrzehnte hinweg schlicht als „Kittel“ bekannt, nach dem Namen des Herausgebers. Doch Gerhard Kittels antisemitische Überzeugungen und Tätigkeit für das NS-Régime sind der Allgemeinheit kaum bekannt und machen eine kritische Auseinandersetzung nötig.
Auch im 21. Jahrhundert sind die Geisteswissenschaften in Deutschland noch damit beschäftigt, die Einflüsse nationalsozialistischer Wissenschaftler kritisch aufzuarbeiten und abzulegen. Im Sommer 2021 hat der Verlag C.H. Beck auf anhaltende Kritik reagiert und zwei einflussreiche juristische Reihen umbenannt. Der „Palandt“, ein Kurzkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, heißt nun nach seinem aktuellen Herausgeber „Grüneberg“, die Gesetzessammlung „Schönfelder“ soll ebenso nach dem Münchener Rechtswissenschaftler Mathias Habersack benannt werden. Auch darüber hinaus werden einige traditionsreiche Veröffentlichungen umbenannt, um reinen Tisch mit der Nazi-Vergangenheit der alten Namensgeber zu machen.
Wir finden: Diese Entscheidung ist überfällig und zeigt Augenmaß. Die Praxis, eine wissenschaftliche Veröffentlichung mit dem Namen des Herausgebers zu bezeichnen, ehrt dessen Forschungsleistung. Doch Otto Palandt, Heinrich Schönfelder und andere Juristen, deren Namen nun ersetzt werden, waren NSDAP-Mitglieder. Zur Aufarbeitung der letzten Überbleibsel der Nazizeit gehört auch die Frage, ob eine solche Ehrung in diesem Fall nicht vermeidbar ist.
Inhalt
Gerhard Kittels Nazi-Verwicklungen
Auch der Neutestamentler Gerhard Kittel, der ab 1928 als Herausgeber Konzeption und Mitarbeiter des ThWNT organisierte, war ab 1933 NSDAP-Mitglied, und das nicht nur der Form halber. Er sprach sich öffentlich gegen „Mischehen“ aus und hieß es nicht gut, wenn Juden deutsche Literatur verfassten. 1935 wurde er Leiter der Forschungsabteilung Judenfrage im „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“. Jahrelang veröffentlichte er antisemitische Forschungsbeiträge zur Geschichte des Judentums. So erwarb sich Kittel beachtlichen wissenschaftspolitischen Einfluss und machte sich zum geistigen Mittäter der Nationalsozialisten. (Weitere Details liefert etwa dieser Tagesspiegel-Artikel.)
Wir Christen ehren Gott, indem wir seinen Namen nicht ohne Grund oder in einem unehrenhaften Zusammenhang aussprechen. Dieser Grundsatz aus dem dritten Gebot ist Juden so wichtig, dass sie den Gottesnamen praktisch nie aussprechen oder schreiben. Es ist also ein theologisch schlüssiges Konzept, dass man eine Person durch den Gebrauch ihres Namens ehren oder verunehren kann.
Wir haben daher uns dazu entschlossen, das ThWNT in unseren Veröffentlichungen nicht mehr als „Kittel“ zu bezeichnen. Der belastete Spitzname wurde aus dem Titel unserer digitalen Ausgabe gestrichen.
Nazi-Einflüsse im Theologischen Wörterbuch?
Was die nun umbenannten Rechtswerke angeht, ging es tatsächlich nur noch um die Namensgebung. Inhaltlich sind die betroffenen Werke zum Glück schon längst entnazifiziert. So wird ein symbolischer Schlussstrich gezogen. Das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ hätte vonseiten der Theologie eine vergleichbare Aufarbeitung verdient.
Das zehnbändige Mammutwerk ist ein international anerkannter Meilenstein der neutestamentlichen Exegese. Auch über 40 Jahrzehnte nach seinem Abschluss kommt man bei der exegetischen Arbeit nicht an ihm vorbei. Unter Logos-Kunden gehörte das Lexikon jahrelang zu den meistgewünschten Werken. Aufgrund dieser Bedeutsamkeit haben wir vor kurzem erstmals eine vollständige digitale Ausgabe des ThWNT veröffentlicht.
Doch viele Artikel sind von einem subtilen strukturellen christlichen Antijudaismus gefärbt, schreibt der Neutestamentler Martin Leutzsch in einem Beitrag zum 2019 erschienen Sammelband Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert: Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel.
Zwar sei der antijüdische Einfluss im ThWNT „marginal“ (S. 112), das theologische Wörterbuch ist auch an fast keiner Stelle ausdrücklich antisemitisch – selbst in Beiträgen von Autoren, die sich anderswo antisemitisch äußerten (S. 115). Der Antijudaismus komme aber in einer ständigen Abwertung und Abgrenzung des Judentums gegenüber dem Christentum zum Vorschein (S. 112).
Belastete Begriffe aus der nationalsozialistischen Ideologie werden zum Glück größtenteils vermieden – so finden sich im ThWNT sehr wenige Bezüge auf „Rassen“ oder „Völkisches“. Die verbreitete These aus der Nazi-Zeit, Jesus sei Arier gewesen, wird auch nicht vorgebracht (S. 116f). „Offenbar hatte Kittel hier Filter eingebaut, um den wissenschaftlichen Wert des Werks nicht zu mindern“, wie im Artikel des Tagesspiegels zu lesen ist.
Aber wie soll man sich das konkret vorstellen? Sollten wir das ThWNT meiden und vor seinem Gebrauch warnen?
Die Substitutionslehre und der christliche Antijudaismus
Theologisch wird im Wörterbuch die historische Lehre vertreten, dass die christliche Kirche Israel als heilsgeschichtliches Gottesvolk ersetzt hat (Substitutionslehre oder Ersatzlehre). Diese Lehre wird unter anderem auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeführt. Durch Martin Luther hatte sie lange beträchtlichen Einfluss in der evangelischen Theologie. Nach den Ereignissen des Holocaust ist sie freilich gerade im deutschen Sprachraum selten geworden. Sie wurde mit verantwortlich gemacht für christliche Judenfeindlichkeit, die zur Verankerung antisemitischer Vorstellungen in der deutschen Gesellschaft beitrug.
Allerdings ist diese Sichtweise typisch für ihre Zeit. Auch Werke wie der noch heute angesehene „Strack-Billerbeck“ wurden dafür bereits kritisiert. Diese Art der Auseinandersetzung mit dem Judentum ist einer der Gründe, warum der Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch heute nicht mehr bedenkenlos rezipiert wird, auch wenn er als Materialquelle zum neutestamentlichen Judentum nach wie vor unerreicht ist.
Es handelt sich also bei der Substitutionslehre um eine im theologischen Sinn antijüdische, aber damit nicht automatisch antisemitische Perspektive. Bei Luther wie auch bei Kittel ging der theologische Antijudaismus jedoch Hand in Hand mit echter Judenfeindlichkeit. Ganz sicher hat das in zu vielen Fällen dazu geführt, dass in Deutschland und anderen christlichen Gesellschaften Ablehnung oder sogar Hass gegen Juden geschürt wurde.
Als einziger Beitrag mit einem erkennbaren antisemitischen Beigeschmack gilt der Artikel μέτωπον („Stirn“, Link öffnet die Logos-Ausgabe) des NSDAP-Mitglieds Carl Schneiders (Leutzsch, S. 115). Der interpretiert das Buch der Offenbarung als „antijüdisch“, die Verfolger der treuen Gläubigen als Juden. Das Zeichen, das sich die Feinde Gottes in Offb 13,16; 14,9; 20,4 auf Stirn und Hand stempeln lassen, wären jüdische Tefillin.
Aus dieser Gleichsetzung wird die antijüdische Haltung der Apokalypse erkannt; Apk 13, 16 bedeutet dann: Wer die Tephillin nicht trägt, wird von den Juden wirtschaftlich boykottiert. Eine der treibenden Mächte der Christenverfolgungen war ja noch zur Zeit der Apokalypse im römischen Reich das seit Nero am römischen Hof besonders einflußreiche Weltjudentum.
Dass besonders die ersten Bände inhaltlich antijüdisch belastet sind, hat der österreichische Alttestamentler Oliver Achilles auf seinem Blog mehrfach anschaulich aufgezeigt. Das folgende Beispiel zeigt, wie bemüht Kittel darum war, das Christentum als dem Judentum überlegen darzustellen:
In dem genannten Aufsatz […] behandelt Kittel die Frage der Anrede Gottes als „Abba“ durch Jesus. Dabei versucht er einen möglichst großen Unterschied zwischen der in den Evangelien bezeugten Gebetsweise Jesu und dem Judentum zu konstruieren. Obwohl Jesus in den Evangelien den Vater nur ein einziges Mal mit »Abba« anredet (s.o.) behauptet Kittel, dass Jesus immer und durchgängig »Abba« gesagt habe, was im Judentum unmöglich gewesen sei und schließt den Artikel mit den Worten:
»Der jüdische Sprachgebrauch zeigt, wie das urchristliche Vater-Kindes-Verhältnis zu Gott alle im Judentum gesetzten Möglichkeiten an Intimität weit übertrifft, vielmehr an deren Stelle etwas Neues setzt.«
Wie weit reichte Kittels Einfluss auf das ThWNT?
Die ersten vier Bände gehen auf Kittels Herausgebertätigkeit zurück, auch Band 5 ist noch stark durch ihn geprägt. Daher wird sein Einfluss in diesen Bänden am ehesten ersichtlich. Bis heute wird er vom Verlag als erster Herausgeber angeführt. Den Herausgeber des 5. und späterer Bände, Gerhard Friedrich, wählte Kittel selbst aus. Der Kreis der Mitarbeiter war zwar sehr vielfältig und umfasste auch nazikritische Theologen wie Rudolf Bultmann oder Joachim Jeremias. Doch Achilles bemerkt, wie viele Nationalsozialisten am ersten Band beteiligt waren:
Das Vorwort des Herausgebers ist mit »Tübingen, Neujahr 1932/Juli 1933« datiert. Auf dem Deckblatt werden – inklusive des Herausgebers – 40 Mitwirkende genannt. Von diesen waren neun aktive Nationalsozialisten, einem wurde auf Grund seiner kirchlichen Bindung die von ihm beauftragte Aufnahme in die NSDAP verweigert, einer war Mitglied diverser NSDAP-Vorfeld-Organisationen. Einem konnte eine Mitgliedschaft nicht nachgewiesen werden, aber er propagierte auch nach dem Krieg noch eine antisemitische Bibelauslegung.
Diesen belasteten Personen […] standen elf Mitglieder der bekennenden Kirche gegenüber, die sich teilweise öffentlich gegen den Arierparagraphen stellten. Zu sieben Personen konnte ich keine Hinweise finden, wo sie ideologisch standen. Zwei konvertierten später zum Katholizismus, andere emigrierten oder verhielten sich unauffällig.
Freilich ist der Nazi-Ursprung des Theologischen Wörterbuchs alles andere als unbekannt. Mit einer Online-Recherche sind unschwer verschiedene Publikationen zu finden, die sich mit der Problematik befassen (s.u., auch Wikipedia ist ausführlich). Der aktuellen Print-Auflage der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft liegt eine kritische Einleitung von Prof. Lukas Bormann bei, die sich mit dem nationalsozialistischen Hintergrund Kittels und der Texte auseinandersetzt. (Diese Einleitung fehlt in unserer digitalen Ausgabe bisher aus lizenzrechtlichen Gründen. Es ist möglich, dass sie nachträglich verfügbar gemacht werden kann.)
Empfehlung: Zweimal hinschauen und “das Gute behalten”
Die Causa Kittel war Insidern und Historikern zwar lange bekannt, doch die Theologie hat sich bisher insgesamt nur vereinzelt mit einer Aufarbeitung beschäftigt (Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert, S. 10). Es ist wohl keine gewagte Vermutung, dass die Sachlage den meisten Lesern dieses Beitrags bisher unbekannt gewesen sein dürfte. Achilles bemerkt:
Nach meiner Beobachtung ist es bis heute im deutschen Sprachraum zu keiner öffentlich wirksamen kritischen Auseinandersetzung mit den Wurzeln des ThWNT im Nationalsozialismus gekommen. Das Werk ist weiterhin unhinterfragt in praktisch allen theologischen Bibliotheken und bei vielen interessierten Theologen und Theologinnen zu finden. Es wird unhinterfragt zitiert und kaum jemand ist sich der ideologischen Schlagseite dieses Werkes, die sich nicht nur in einzelnen Artikeln, sondern im theologischen Zugang insgesamt zeigt, bewusst.
Mit der Streichung des Spitznamens wollen wir weder Geschichtskittung betreiben noch vom Gebrauch des ThWNT abraten. Und es wäre vermessen zu hoffen, dass wir mit einem Blogpost eine „öffentlich wirksame kritische Auseinandersetzung“ auslösen können. Aber ein symbolisches Zeichen setzen ist schon fast moralische Sorgfaltspflicht. Gerhard Kittel ist und bleibt der Begründer und erste Herausgeber des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament. Doch der Umgangsname „Kittel“ würdigt einen Mann, der diese Würdigung nicht verdient hat. Und vielleicht kann dieser Artikel bewirken, dass noch mehr Theologen bei der Arbeit mit dem ThWNT zweimal hinschauen und „das Gute behalten“. Gerade bei Fragen zur Bewertung des Judentums ist vom theologischen Wörterbuch wohl eher keine Objektivität zu erwarten.
Wir haben uns letztlich bewusst dazu entschieden, unter sehr großem Aufwand eine digitale Edition des Theologischen Wörterbuchs zu produzieren. Das Wörterbuch ist aus der Exegese nach wie vor nicht wegzudenken und bleibt trotz seiner belasteten Historie ein wertvoller Forschungsbeitrag. Und hoffentlich kann sich die digitale Ausgabe für zukünftige Forschungen zum Vermächtnis des ThWNT als nützliches Hilfsmittel erweisen.
Zum Weiterlesen:
- BR: Theologe mit Nazivergangenheit: Kittel und sein Standardwerk
- Tagesspiegel: Ein Theologe als geistiger Mittäter
- Oliver Achilles: Die Nazis im ersten Band des theologischen Wörterbuchs zum NT
- Rezension des Sammelbandes „Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert“ bei hsozkult.de
- Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und „Judenforscher” Gerhard Kittel. Hg. Manfred Gailus, Clemens Vollnhals, V&R 2019.
- Lukas Bormann: Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament im 21. Jahrhundert: Überlegungen zu seiner Geschichte und heutigen Benutzung, wbg academic 2019.
Danke für die Informationen und für die klare Haltung!
Danke, Ben, für den Hinweis!
Ich hoffe sehr, dass das Vorwort der Printausgabe bald dem Logos-ThWNT beigegeben werden kann, da dieses sehr klar auf die Problematik und den bleibenden Wert des THWNT hinweist:
Die Quellen werden in einem weiterhin unerreichten Umfang dargeboten.
Das theologische Konzept, dass manche Wörter durch das Christus-Ereignis eine völlig neue Bedeutung erhalten haben, führt bisweilen zu einer ungerechtfertigten Herabwürdigung dieser Bedeutung im AT, welche man aber recht leicht als solche erkennen und auf sich beruhen lassen kann.
Genau! Ich bin froh, dass es die „Filter” gab und im ThWNT nicht mehr ideologisch belastete Vorstellungen gelandet sind. Worauf ich hier nicht noch extra eingegangen bin, sind die methodischen Probleme, die sich seit der „linguistischen Wende in den Bibelwissenschaften” vor ca. 50 Jahren mit diesem und anderen theologischen/exegetischen Wörterbüchern ergeben haben – v.a. dass man ein Konzept nicht mit einem Wort verwechseln oder mittels eine Wortes erforschen darf. Auch eine „theologische Bedeutung” bestimmter Begriffe ist nicht immer so klar auszumachen, wie man aus der Tatsache schließen könnte, dass ein Wort in einem theologischen Wörterbuch besprochen wird. Wenn man sich dessen bewusst ist, bleibt das ThWNT nach wie vor ein wahnsinnig wertvolles und in Umfang und Konzept wohl unübertroffenes Hilfsmittel.