Adolf Schlatter verbrachte die letzten 40 Jahre seines Lebens als Professor in Tübingen. Er erlebte in der schwäbischen Universitätsstadt eine große theologische Blütephase, musste sich aber auch mit schwerem persönlichem Verlust und Leid auseinandersetzen. Lesen Sie im 2. Teil der Reihe „Leben und Theologie von Adolf Schlatter, mit welchen Ereignissen und Schicksalsschlägen er konfrontiert wurde und wie er damit umging.
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Inhalt
Adolf Schlatter in Tübingen (1898–1938)
Adolf Schlatter zog im Jahr 1898 mit seiner Familie von Berlin nach Tübingen und verbrachte die verbleibenden 40 Jahre seines Lebens als Professor für Neues Testament in der schwäbischen Universitätsstadt. Zusätzlich hielt er Vorlesungen in der Systematischen Theologie. Die Zeit in Tübingen entwickelte sich zu Schlatters intensivster Schaffensphase, in der er sein Lebenswerk abschließen konnte. Gleichzeitig war dieser Lebensabschnitt von tiefen Erschütterungen und großem persönlichen Leid geprägt.
Auftakt in eine prägende Zeit
Der Start von Adolf Schlatter in Tübingen wurde mit Spannung erwartet. Besonders im Vorfeld seiner Antrittsvorlesung im Tübinger Stift wurden Vorbehalte laut, schließlich galt Schlatter einigen als “unwissenschaftlicher Biblizist”.
Einer seiner damaliger Studenten, Fritz von Bodelschwingh der Jüngere, beschreibt seine Erinnerung an die Antrittsvorlesung Schlatters wie folgt:
„Der große Hörsaal ist bis zum letzten Platz gefüllt. Um uns herum sehen wir manche kritischen Gesichter. Die meisten Schwaben hielten Schlatter damals für einen unwissenschaftlichen Mann … So war der Saal mit Spannung gefüllt. Da hörten wir hinter uns einen lauten Knall. Schlatter hatte den Raum betreten und die Tür hinter sich mit aller Macht zugeworfen. Das krachte durch das ganze schon ein wenig altersschwache Haus, als sollte es bis in seine Fundamente erschüttert werden. Als nun der neue Professor mit raschen Schritten auf das Katheder sprang und ohne einleitendes Wort die Vorlesung begann, ahnten manche von uns, daß in diesem Augenblick die Tür einer vergangen Geschichte theologischer Wissenschaft zugeworfen und ein neuer Weg in das heilige Land echter Gottesgelehrsamkeit aufgeschlossen wurde.“
In Tübingen sprachen die Zahlen bald für Adolf Schlatter. Nach seiner Ernennung zum Professor stiegen die Studierendenzahlen merklich an. Schlatter wirkte wie ein Magnet auf die Studenten.
Adolf Schlatter als Seelsorger
Adolf Schlatter war nicht nur ein begnadeter Wissenschaftler, sondern nahm sich auch viel Zeit für seine Studenten und kümmerte sich um sie. Jeden Tag bot er Sprechstunden für sie an, die häufig auch einen seelsorglichen Charakter hatten. Montags lud er sie zu einem “Offenen Abend” zu sich ein, führte mit den Teilnehmenden offene Gespräche, Diskussionen und öffnete ihnen einen Raum für ihre Fragen. Einige seiner Studenten bezeichneten diese Gesprächsabende später als ermutigend und befreiend.
Adolf Schlatter und das dunkle Tal des erfahrenen Leides
Adolf Schlatter blieb in seinem Leben nicht von tiefen menschlichen Leiderfahrungen verschont. Er hatte bereits eine seiner Schwestern verloren, als er selbst noch ein Kind gewesen war. In der Anfangsphase in Tübingen verstarben zudem kurz nacheinander Schlatters älteste Schwester Lydia sowie eine Schwägerin, beide noch in sehr jungen Jahren.
Der schlimmste Verlust ereignete sich jedoch am 9. Juli 1907, als Schlatters geliebte Ehefrau Susanna nach nahezu 30 Jahren Ehe infolge einer Operation zu Tode kam. Adolf Schlatter wurde von diesem Schicksalsschlag völlig unvorbereitet getroffen. Kurz vor seinem 55. Geburtstag wurde er Witwer und zog seine fünf Kinder fortan allein groß.
Der tiefe Schmerz über den Verlust seiner Ehefrau sollte nicht der letzte bleiben. Im Jahr 1914 begann der Erste Weltkrieg. Adolf Schlatters jüngster Sohn Paul wurde noch im selben Jahr als Soldat in die Armee einberufen und kurze Zeit später schwer verwundet in ein Lazarett gebracht. Mitte Oktober 1914 erlag er seinen Verletzungen, die durch einen Granatsplitter hervorgerufen worden waren.
Adolf Schlatter nahm der Tod seines Sohnes stark mit. Das Erlebte verfolgte ihn noch lange Zeit. Er beschrieb später, wie ihn das Grauen des Todes erfasste und quälte, bis ihm das Wort Jesu in den Sinn kam: „Lazarus, unser Freund, schläft.“ Mitten in allem Leid schöpfte Schlatter neue Kraft und Hoffnung bei Jesus.
Adolf Schlatter und der Erste Weltkrieg
Adolf Schlatter verfolgte aufmerksam das politische Zeitgeschehen. Auch für ihn war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein schockierendes und einschneidendes Erlebnis. Dennoch war er nicht naiv, was den Kriegsausbruch betraf. Er hatte bereits in den Jahren zuvor mit Kampfhandlungen auf europäischem Boden gerechnet.
Schlatter bildete sich selbst eine Meinung zum politischen Zeitgeschehen. Als Zuwanderer aus der Schweiz war er zwar kein eingefleischter Patriot, verteidigte aber gleichwohl einige der Sichtweisen des Deutschen Reiches und stellte sich auf dessen Seite. Schuld und Versagen konnte er auf beiden Seiten erkennen und es auch anprangern, besonders, wenn Unschuldige vom Leid des Krieges betroffen waren.
Schlatters Kritik an den Kriegsparteien
Adolf Schlatters Kritik richtete sich häufig gegen die Entente-Mächte. Die Rolle Frankreichs betrachtete er sehr kritisch und aggressiv. Von den Engländern war er enttäuscht, da er sich erhofft hatte, dass diese sich aus dem Krieg heraushalten würden.
Über England und die Seeblockade gegen das Deutsche Reich schrieb Schlatter:
“Die Engländer machten dagegen unseren Hunger zu ihrer Waffe, griffen also unser aller Leben an, nicht nur das der Kämpfenden, und betrieben die Vernichtung des ganzen Volkes.”
(Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, S. 244)
Aber auch die enge Anbindung von Deutschland an Österreich und das damit einhergehende Hineinschlittern in den Konflikt mit Serbien und auch mit Russland, wertete Schlatter als fatal. Er schrieb dazu:
“Denn ich wünschte nicht, daß Bismarcks Politik, die die Erhaltung Österreichs anstrebt und uns mit ihm zusammenband, endgültig das Geschick unseres Volkes leite. Die Anlehnung Berlins an Wien macht mir für die innere Gesundheit unseres Volkes Sorgen. Und nun wurde der ganze Bestand und alle Kraft unseres Volkes und das Leben der Tausenden, auch das meines Sohnes, für die Herrschaft der Habsburger und den Fortbestand des so tief zerrütteten Österreich eingesetzt.”
(Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, S. 242)
Über den Zerfall des Kaiserreiches Österreich-Ungarn und des russischen Zarenreichs war Schlatter nicht traurig. Er schrieb:
“Vor der Wiener Hofburg, den habsburgischen Traditionen, graute mir. Darin, daß dieses Kaisertum versank, sah ich eine große Wohltat, wie im Sturz des Zaren.”
(Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, S. 250)
Adolf Schlatters Rechtfertigung des Kriegseintritts
Gleichzeitig vertrat Schlatter auch die Meinung, dass der Kampf am Ende unvermeidlich gewesen sei. Er betrachtete den deutschen Kriegseintritt als gerechtfertigt, auch wenn seitens der deutschen Regierung Fehler gemacht worden seien. Schlatter sah das Deutsche Reich in die Defensive gedrängt – eine Meinung, die in seiner Zeit in Deutschland weit verbreitet war (zu den vielschichtigen Ursachen des Krieges siehe Christopher Clark, “Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog”).
Schlatter schrieb:
“Unser Eintritt in den Krieg war eine sittlich richtige Tat gewesen und hatte darum unseren Aufblick zu Gott nicht gehemmt, sondern gestärkt. Der Friede von Versailles war dagegen ein Verbrechen, dessen giftige Wirkungen auch mich berührten.”
(Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, S. 251).
Schlatters Positionierung zum Krieg – eine Einordnung
Aus heutiger Perspektive klingen viele dieser Aussagen düster und sind vielfach kritisch einzuordnen. Auf dem Hintergrund seiner eigenen Zeit betrachtet, lag Schlatter jedoch mit seinen Einschätzungen auf einer Linie mit vielen seiner Zeitgenossen. Er lebte in einer Zeit, die stark vom Nationalismus und Militarismus geprägt war – ein Umstand, der sich in den Folgejahren als fatal erweisen und in Form des von Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieges in einem noch schlimmeren Höllensturz enden sollte.
Sehr befremdlich wirkt Schlatters Rolle im Zusammenhang mit dem so genannten „Manifest der 93 Intellektuellen”. Dabei handelte es sich um ein von der deutschen kulturellen Élite herausgegebenes Dokument, das die Kriegspolitik des Deutschen Reichs unterstützte und den Angriff auf das neutrale Belgien und damit verbundene Kriegsverbrechen herunterspielte. Schlatter unterzeichnete es im Oktober 1914, also 2 Monate nach Kriegsbeginn.
Auf internationaler Ebene stellte dieses Propaganda-Dokument, zu dessen weiteren Unterzeichnern z.B. auch Adolf von Harnack gehörte, die deutsche kulturelle Élite ins Abseits. Es ist nicht klar, ob und in welchem Ausmaß Adolf Schlatter zum Zeitpunkt seiner Unterschrift Kenntnis von den Geschehnissen in Belgien hatte. Es ist jedoch stark anzunehmen, dass er sich nicht unbedingt einen allumfassenden Sieg, sondern einen gerechten und dauerhaften Frieden wünschte.
Im 3. Teil dieser Artikelserie erhalten Sie einen Überblick über die großen Werke Adolf Schlatters und lernen einige Grundzüge seines theologischen Denkens kennen. Sie werden auch sehen, welchen Einfluss Schlatter nach wie vor auf Theologen der heutigen Zeit hat.