Adolf Schlatter: Sein Leben und seine Theologie (2/​4)

Von Johannes Traichel

Schlatter
Vor 8 Monaten

Adolf Schlat­ter ver­brach­te die letz­ten 40 Jah­re sei­nes Lebens als Pro­fes­sor in Tübin­gen. Er erleb­te in der schwä­bi­schen Uni­ver­si­täts­stadt eine gro­ße theo­lo­gi­sche Blü­te­pha­se, muss­te sich aber auch mit schwe­rem per­sön­li­chem Ver­lust und Leid aus­ein­an­der­set­zen. Lesen Sie im 2. Teil der Rei­he „Leben und Theo­lo­gie von Adolf Schlat­ter, mit wel­chen Ereig­nis­sen und Schick­sals­schlä­gen er kon­fron­tiert wur­de und wie er damit umging.

Lese­zeit: ca. 5 Minuten

Adolf Schlatter in Tübingen (1898–1938)

Adolf Schlat­ter zog im Jahr 1898 mit sei­ner Fami­lie von Ber­lin nach Tübin­gen und ver­brach­te die ver­blei­ben­den 40 Jah­re sei­nes Lebens als Pro­fes­sor für Neu­es Tes­ta­ment in der schwä­bi­schen Uni­ver­si­täts­stadt. Zusätz­lich hielt er Vor­le­sun­gen in der Sys­te­ma­ti­schen Theo­lo­gie. Die Zeit in Tübin­gen ent­wi­ckel­te sich zu Schlat­ters inten­sivs­ter Schaf­fens­pha­se, in der er sein Lebens­werk abschlie­ßen konn­te. Gleich­zei­tig war die­ser Lebens­ab­schnitt von tie­fen Erschüt­te­run­gen und gro­ßem per­sön­li­chen Leid geprägt.

Auftakt in eine prägende Zeit

Der Start von Adolf Schlat­ter in Tübin­gen wur­de mit Span­nung erwar­tet. Beson­ders im Vor­feld sei­ner Antritts­vor­le­sung im Tübin­ger Stift wur­den Vor­be­hal­te laut, schließ­lich galt Schlat­ter eini­gen als “unwis­sen­schaft­li­cher Biblizist”. 

Einer sei­ner dama­li­ger Stu­den­ten, Fritz von Bodel­schwingh der Jün­ge­re, beschreibt sei­ne Erin­ne­rung an die Antritts­vor­le­sung Schlat­ters wie folgt:

Der gro­ße Hör­saal ist bis zum letz­ten Platz gefüllt. Um uns her­um sehen wir man­che kri­ti­schen Gesich­ter. Die meis­ten Schwa­ben hiel­ten Schlat­ter damals für einen unwis­sen­schaft­li­chen Mann … So war der Saal mit Span­nung gefüllt. Da hör­ten wir hin­ter uns einen lau­ten Knall. Schlat­ter hat­te den Raum betre­ten und die Tür hin­ter sich mit aller Macht zuge­wor­fen. Das krach­te durch das gan­ze schon ein wenig alters­schwa­che Haus, als soll­te es bis in sei­ne Fun­da­men­te erschüt­tert wer­den. Als nun der neue Pro­fes­sor mit raschen Schrit­ten auf das Kathe­der sprang und ohne ein­lei­ten­des Wort die Vor­le­sung begann, ahn­ten man­che von uns, daß in die­sem Augen­blick die Tür einer ver­gan­gen Geschich­te theo­lo­gi­scher Wis­sen­schaft zuge­wor­fen und ein neu­er Weg in das hei­li­ge Land ech­ter Got­tes­ge­lehr­sam­keit auf­ge­schlos­sen wurde.“

In Tübin­gen spra­chen die Zah­len bald für Adolf Schlat­ter. Nach sei­ner Ernen­nung zum Pro­fes­sor stie­gen die Stu­die­ren­den­zah­len merk­lich an. Schlat­ter wirk­te wie ein Magnet auf die Studenten.

Adolf Schlatter als Seelsorger

Adolf Schlat­ter war nicht nur ein begna­de­ter Wis­sen­schaft­ler, son­dern nahm sich auch viel Zeit für sei­ne Stu­den­ten und küm­mer­te sich um sie. Jeden Tag bot er Sprech­stun­den für sie an, die häu­fig auch einen seel­sorg­li­chen Cha­rak­ter hat­ten. Mon­tags lud er sie zu einem “Offe­nen Abend” zu sich ein, führ­te mit den Teil­neh­men­den offe­ne Gesprä­che, Dis­kus­sio­nen und öff­ne­te ihnen einen Raum für ihre Fra­gen. Eini­ge sei­ner Stu­den­ten bezeich­ne­ten die­se Gesprächs­aben­de spä­ter als ermu­ti­gend und befreiend.

Adolf Schlatter und das dunkle Tal des erfahrenen Leides

Adolf Schlat­ter blieb in sei­nem Leben nicht von tie­fen mensch­li­chen Lei­d­er­fah­run­gen ver­schont. Er hat­te bereits eine sei­ner Schwes­tern ver­lo­ren, als er selbst noch ein Kind gewe­sen war. In der Anfangs­pha­se in Tübin­gen ver­star­ben zudem kurz nach­ein­an­der Schlat­ters ältes­te Schwes­ter Lydia sowie eine Schwä­ge­rin, bei­de noch in sehr jun­gen Jahren.

Der schlimms­te Ver­lust ereig­ne­te sich jedoch am 9. Juli 1907, als Schlat­ters gelieb­te Ehe­frau Susan­na nach nahe­zu 30 Jah­ren Ehe infol­ge einer Ope­ra­ti­on zu Tode kam. Adolf Schlat­ter wur­de von die­sem Schick­sals­schlag völ­lig unvor­be­rei­tet getrof­fen. Kurz vor sei­nem 55. Geburts­tag wur­de er Wit­wer und zog sei­ne fünf Kin­der fort­an allein groß.

Der tie­fe Schmerz über den Ver­lust sei­ner Ehe­frau soll­te nicht der letz­te blei­ben. Im Jahr 1914 begann der Ers­te Welt­krieg. Adolf Schlat­ters jüngs­ter Sohn Paul wur­de noch im sel­ben Jahr als Sol­dat in die Armee ein­be­ru­fen und kur­ze Zeit spä­ter schwer ver­wun­det in ein Laza­rett gebracht. Mit­te Okto­ber 1914 erlag er sei­nen Ver­let­zun­gen, die durch einen Gra­nat­split­ter her­vor­ge­ru­fen wor­den waren. 

Adolf Schlat­ter nahm der Tod sei­nes Soh­nes stark mit. Das Erleb­te ver­folg­te ihn noch lan­ge Zeit. Er beschrieb spä­ter, wie ihn das Grau­en des Todes erfass­te und quäl­te, bis ihm das Wort Jesu in den Sinn kam: „Laza­rus, unser Freund, schläft.“ Mit­ten in allem Leid schöpf­te Schlat­ter neue Kraft und Hoff­nung bei Jesus.

Adolf Schlatter und der Erste Weltkrieg

Adolf Schlat­ter ver­folg­te auf­merk­sam das poli­ti­sche Zeit­ge­sche­hen. Auch für ihn war der Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs ein scho­ckie­ren­des und ein­schnei­den­des Erleb­nis. Den­noch war er nicht naiv, was den Kriegs­aus­bruch betraf. Er hat­te bereits in den Jah­ren zuvor mit Kampf­hand­lun­gen auf euro­päi­schem Boden gerechnet. 

Schlat­ter bil­de­te sich selbst eine Mei­nung zum poli­ti­schen Zeit­ge­sche­hen. Als Zuwan­de­rer aus der Schweiz war er zwar kein ein­ge­fleisch­ter Patri­ot, ver­tei­dig­te aber gleich­wohl eini­ge der Sicht­wei­sen des Deut­schen Rei­ches und stell­te sich auf des­sen Sei­te. Schuld und Ver­sa­gen konn­te er auf bei­den Sei­ten erken­nen und es auch anpran­gern, beson­ders, wenn Unschul­di­ge vom Leid des Krie­ges betrof­fen waren. 

Schlatters Kritik an den Kriegsparteien

Adolf Schlat­ters Kri­tik rich­te­te sich häu­fig gegen die Entente-Mäch­te. Die Rol­le Frank­reichs betrach­te­te er sehr kri­tisch und aggres­siv. Von den Eng­län­dern war er ent­täuscht, da er sich erhofft hat­te, dass die­se sich aus dem Krieg her­aus­hal­ten würden. 

Über Eng­land und die See­blo­cka­de gegen das Deut­sche Reich schrieb Schlatter:

Die Eng­län­der mach­ten dage­gen unse­ren Hun­ger zu ihrer Waf­fe, grif­fen also unser aller Leben an, nicht nur das der Kämp­fen­den, und betrie­ben die Ver­nich­tung des gan­zen Volkes.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 244)

Aber auch die enge Anbin­dung von Deutsch­land an Öster­reich und das damit ein­her­ge­hen­de Hin­ein­schlit­tern in den Kon­flikt mit Ser­bi­en und auch mit Russ­land, wer­te­te Schlat­ter als fatal. Er schrieb dazu:

Denn ich wünsch­te nicht, daß Bis­marcks Poli­tik, die die Erhal­tung Öster­reichs anstrebt und uns mit ihm zusam­men­band, end­gül­tig das Geschick unse­res Vol­kes lei­te. Die Anleh­nung Ber­lins an Wien macht mir für die inne­re Gesund­heit unse­res Vol­kes Sor­gen. Und nun wur­de der gan­ze Bestand und alle Kraft unse­res Vol­kes und das Leben der Tau­sen­den, auch das mei­nes Soh­nes, für die Herr­schaft der Habs­bur­ger und den Fort­be­stand des so tief zer­rüt­te­ten Öster­reich eingesetzt.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 242)

Über den Zer­fall des Kai­ser­rei­ches Öster­reich-Ungarn und des rus­si­schen Zaren­reichs war Schlat­ter nicht trau­rig. Er schrieb:

Vor der Wie­ner Hof­burg, den habs­bur­gi­schen Tra­di­tio­nen, grau­te mir. Dar­in, daß die­ses Kai­ser­tum ver­sank, sah ich eine gro­ße Wohl­tat, wie im Sturz des Zaren.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 250)

Adolf Schlatters Rechtfertigung des Kriegseintritts

Gleich­zei­tig ver­trat Schlat­ter auch die Mei­nung, dass der Kampf am Ende unver­meid­lich gewe­sen sei. Er betrach­te­te den deut­schen Kriegs­ein­tritt als gerecht­fer­tigt, auch wenn sei­tens der deut­schen Regie­rung Feh­ler gemacht wor­den sei­en. Schlat­ter sah das Deut­sche Reich in die Defen­si­ve gedrängt – eine Mei­nung, die in sei­ner Zeit in Deutsch­land weit ver­brei­tet war (zu den viel­schich­ti­gen Ursa­chen des Krie­ges sie­he Chris­to­pher Clark, “Die Schlaf­wand­ler: Wie Euro­pa in den Ers­ten Welt­krieg zog”). 

Schlat­ter schrieb:

Unser Ein­tritt in den Krieg war eine sitt­lich rich­ti­ge Tat gewe­sen und hat­te dar­um unse­ren Auf­blick zu Gott nicht gehemmt, son­dern gestärkt. Der Frie­de von Ver­sailles war dage­gen ein Ver­bre­chen, des­sen gif­ti­ge Wir­kun­gen auch mich berührten.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 251).

Schlatters Positionierung zum Krieg – eine Einordnung

Aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve klin­gen vie­le die­ser Aus­sa­gen düs­ter und sind viel­fach kri­tisch ein­zu­ord­nen. Auf dem Hin­ter­grund sei­ner eige­nen Zeit betrach­tet, lag Schlat­ter jedoch mit sei­nen Ein­schät­zun­gen auf einer Linie mit vie­len sei­ner Zeit­ge­nos­sen. Er leb­te in einer Zeit, die stark vom Natio­na­lis­mus und Mili­ta­ris­mus geprägt war – ein Umstand, der sich in den Fol­ge­jah­ren als fatal erwei­sen und in Form des von Deutsch­land ver­schul­de­ten Zwei­ten Welt­krie­ges in einem noch schlim­me­ren Höl­len­sturz enden sollte.

Sehr befremd­lich wirkt Schlat­ters Rol­le im Zusam­men­hang mit dem so genann­ten „Mani­fest der 93 Intel­lek­tu­el­len”. Dabei han­del­te es sich um ein von der deut­schen kul­tu­rel­len Éli­te her­aus­ge­ge­be­nes Doku­ment, das die Kriegs­po­li­tik des Deut­schen Reichs unter­stütz­te und den Angriff auf das neu­tra­le Bel­gi­en und damit ver­bun­de­ne Kriegs­ver­bre­chen her­un­ter­spiel­te. Schlat­ter unter­zeich­ne­te es im Okto­ber 1914, also 2 Mona­te nach Kriegsbeginn. 

Auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne stell­te die­ses Pro­pa­gan­da-Doku­ment, zu des­sen wei­te­ren Unter­zeich­nern z.B. auch Adolf von Har­nack gehör­te, die deut­sche kul­tu­rel­le Éli­te ins Abseits. Es ist nicht klar, ob und in wel­chem Aus­maß Adolf Schlat­ter zum Zeit­punkt sei­ner Unter­schrift Kennt­nis von den Gescheh­nis­sen in Bel­gi­en hat­te. Es ist jedoch stark anzu­neh­men, dass er sich nicht unbe­dingt einen all­um­fas­sen­den Sieg, son­dern einen gerech­ten und dau­er­haf­ten Frie­den wünschte. 

Im 3. Teil die­ser Arti­kel­se­rie erhal­ten Sie einen Über­blick über die gro­ßen Wer­ke Adolf Schlat­ters und ler­nen eini­ge Grund­zü­ge sei­nes theo­lo­gi­schen Den­kens ken­nen. Sie wer­den auch sehen, wel­chen Ein­fluss Schlat­ter nach wie vor auf Theo­lo­gen der heu­ti­gen Zeit hat.


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Johannes Traichel

Über den Autor

Johannes Traichel ist Pastor der FeG in Donaueschingen.
Der Theologe verfasste die Bücher "Die christliche Taufe" (2020) und "Evangelikale und Homosexualität" (2022). Hinzu kommen Aufsätze in Themenbänden, die sich mit der Systematischen Theologie beschäftigen.
Dazu ist Traichel ein begeisterter und leidenschaftlicher Kaffeetrinker.

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