Francis Schaeffer war ein US-amerikanischer evangelikaler Theologe, der insbesondere im englischsprachigen Raum durch seine gesellschaftskritischen Veröffentlichungen und durch die Gründung der Kommunität L’Abri in der Schweiz bekannt wurde. Einige seiner Bücher sind auch in Logos enthalten. In diesem Artikel stellen wir Ihnen Schaeffers Werk „Die Preisgabe der Vernunft: Eine scharfsinnige Analyse des modernen Denkens” näher vor. Lesen Sie hier, welche Ideen und kulturellen Entwicklungen diese Epoche prägten und welche Antworten Schaeffer darauf aus evangelikaler Perspektive formulierte.
Hinführung zur Analyse der Moderne
Zwei Gründe für die Lektüre
Gerade weil das Buch schon einige Jahrzehnte auf dem Markt ist, lohnt es sich besonders, es zu lesen. Dafür gibt es zwei plausible Gründe. Zum einen handelt es sich um ein Buch, das zeitgleich mit dem Aufkommen der Postmoderne veröffentlicht wurde. Schaeffers Kritik der Moderne ist frisch und lebendig. Das führt zum zweiten Grund: Es ist ein historisches Buch geworden. Es zeigt, wie ein großer evangelikaler Denker des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Moderne und der Postmoderne als ihrem Höhepunkt umgeht. Diesen Umgang möchte ich Ihnen in den nächsten 7 Minuten vorstellen.
Über den Autor und sein Ziel
Francis A. Schaeffer (1912–1984) galt als einer der vier bedeutendsten evangelikalen Theologen des 20. Jahrhunderts. Er studierte bei Cornelius Van Til am Westminster Theological Seminary in Glenside, Pennsylvania und später am Faith Theological Seminary in Wilmington, Delaware. Nach einigen Jahren als Pastor in verschiedenen Gemeinden gründete er 1955 gemeinsam mit seiner Frau Edith die Kommunität L’Abri in der Schweiz.
Neben dieser Arbeit in der Gemeinschaft machte sich Schaeffer auch als Autor einen Namen. Er wurde vor allem durch gesellschaftskritische und kulturphilosophische Werke bekannt. Dies spiegelt sich auch in “Die Preisgabe der Vernunft” wider. Das Buch erschien bereits 1968 unter dem Originaltitel: Escape from Reason. Es wurde vom Verlag Haus der Bibel übersetzt und aktualisiert (1970 und 2018).
Schaeffer setzte sich in diesem Werk über den Aufstieg und Fall der Moderne zum Ziel, die paradoxen Denkvoraussetzungen dieser Epoche darzustellen und praktische Impulse für die Verkündigung des Wortes Gottes in dieser Zeit zu geben. Dabei kommt seine Kritik an der Moderne nicht zu kurz. Um sie jedoch richtig kritisieren zu können, muss man sie erst einmal verstanden haben. Das scheint bei Schaeffer der Fall zu sein. Er beginnt seine Erzählung über die Entstehung der Moderne sogar mit Thomas von Aquin:
„Wenn wir die Denkrichtungen unserer Zeit verstehen wollen, müssen wir den geschichtlichen Ablauf bis zur heutigen Situation verfolgen und auch die Entwicklung der philosophischen Denkformen in einigen wesentlichen Zügen betrachten.” – Francis A. Schaeffer
Rezension
Der Weg in die Moderne
In den ersten Kapiteln führt Schaeffer eine detaillierte Analyse der historischen Entwicklungen durch, die zur gegenwärtigen kulturellen und epistemologischen Krise geführt haben. Er setzt sich kritisch mit Ideen wie Relativismus, Materialismus und Individualismus auseinander und untersucht deren Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Menschen. Dabei bezieht er sich auf historische Ereignisse und philosophische Strömungen, um die Wurzeln der modernen Probleme aufzuzeigen. Bis zur Reformation galten Gott und die Gnade als das Wichtigste und Unumstößliche. Spätestens mit der Renaissance und dann mit der Aufklärung wurden unsere Vernunft und unser Wissen als wichtiger angesehen als transzendente Wahrheiten. Über die ersten Wissenschaftler kann Schaeffer noch sagen:
„Die frühen Wissenschaftler vertraten auch die Auffassung des Christentums, dass Gott ein vernünftiger Gott ist, der ein vernünftiges Universum geschaffen hat, und dass der Mensch, indem er seine Vernunft gebraucht, den Aufbau des Universums erforschen kann.” – Francis A. Schaeffer
Nach Schaeffer hat sich die akademische Welt spätestens im 20. Jahrhundert, zumindest in den philosophischen Fakultäten, von dieser Sichtweise verabschiedet. Etwas Surreales, Transzendentes kann nicht bewiesen werden, existiert also nicht und hat folglich für den Menschen keine Relevanz mehr.
Schlüssel zum Verständnis
Um Schaeffers Werk in seiner Ganzheit zu erfassen, muss man seine Metapher von „oben” und „unten” verstehen. Er benutzt diese beiden Bereiche, die durch eine scharfe Linie getrennt sind, um das Rationale vom Irrationalen zu trennen. Er verwendet die Metapher der Linie, um die traditionellen Vorstellungen von Wahrheit und Wirklichkeit zu beschreiben. In diesem Zusammenhang steht das „Oben” der Linie für den Bereich der Gnade, der Transzendenz, der Göttlichkeit oder der metaphysischen Realität, während das „Unten” der Linie die Welt der Natur, des Rationalismus, des Materialismus und der faktischen Wahrheit darstellt. Schaeffer argumentiert, dass der Verlust des Verständnisses von Transzendenz und des Glaubens an absolute Werte zu einem moralischen und geistigen Verfall der Gesellschaft führt. Er beschreibt diese moderne Verschiebung vom Rationalen zum „Höheren” wie folgt:
„Wenn der Mensch unterhalb der Linie tot ist, so ist er oberhalb, nach dem nicht-rationalen Sprung, aller Kategorien beraubt. Es gibt dort keine Kategorien, weil diese von Rationalität und Logik abhängig sind. Es steht somit keine Wahrheit im Gegensatz zur Nichtwahrheit, auch nicht Gutes gegen Böses – haltlos treiben wir dahin.” – Francis A. Schaeffer
Die Moderne
Schaeffer kommt in seinem Werk zu dem zentralen Gedanken, dass die Moderne im unteren Bereich durch die Wissenschaft so ziemlich alles erklären konnte. Mit der Zeit wurde der untere Bereich jedoch langweilig. Man wagte einen „Sprung” in den oberen Bereich, ohne von Gott oder ähnlichem zu sprechen. Dieser „Sprung” bezieht sich auf den Übergang von einem Weltbild, das auf einem festen Fundament absoluter Werte und Wahrheiten beruhte, zu einem Weltbild, das von Relativismus, Skeptizismus und der Ablehnung objektiver Maßstäbe geprägt war.
Schaeffer argumentiert, dass dieser „Sprung” zu einem moralischen und intellektuellen Verfall geführt hat, der die Grundlagen der westlichen Zivilisation untergräbt. Er ruft dazu auf, diesen „Sprung” zu überdenken und zu den traditionellen Werten und Wahrheiten zurückzukehren, die einst das Fundament der Gesellschaft bildeten.
Das christliche Weltbild als Grundlage von Vernunft und Moral
Ein zentraler Punkt des Buches ist die Verteidigung des christlichen Weltbildes als mögliche Grundlage von Vernunft und Moral. Schaeffer argumentiert für die Wiederherstellung absoluter Werte und einer objektiven Wahrheit, die im christlichen Glauben verankert sind. Dabei setzt er sich mit theologischen Begriffen wie der Souveränität Gottes, der Schöpfung und der Erlösung auseinander und zeigt deren Bedeutung für das Verständnis der Welt auf. Schaeffer stellt kritische Fragen an die moderne Gesellschaft und hinterfragt ihre Werte und Annahmen. Er kritisiert den Verlust absoluter Werte und die Zunahme von Relativismus und Pragmatismus in der Kultur. Gleichzeitig entwirft er eine Vision für eine bessere Zukunft, die auf der Wiederherstellung der Grundlagen der Vernunft und des Glaubens beruht.
Fazit
Schaeffer führt in seinem Werk verschiedene Stränge zusammen und bietet eine umfassende Analyse der modernen Kultur aus christlicher Perspektive. Er zeigt auf, wie Ideen und Strömungen der Vergangenheit die heutige Situation geprägt haben und fordert dazu auf, die Grundlagen von Vernunft und Glaube wiederherzustellen. Dabei bietet er keine einfachen Lösungen, sondern regt mit spannenden Fragen zum Nachdenken und zur Diskussion an.
Postmoderne, was ist das?
Was in diesem Buch auf jeden Fall fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Moderne und Postmoderne. Schaeffer spricht in diesem Buch ausschließlich von der Moderne. Moderne wird hier verstanden als das, was seit der Romantik begonnen hat. Nun gut. Allerdings fehlt bei ihm eine Abgrenzung zur philosophischen Postmoderne. Schaeffer kann z.B. Michel Foucault zitieren, um die Moderne zu definieren. Aber Foucault hatte als Philosoph mindestens so viele Vorbehalte gegen die Epoche der Moderne wie Schaeffer.
In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass das Buch schon etwas älter ist; als es erschien, war das Wort Postmoderne noch kein allgemein gebräuchlicher Begriff in akademischen Kreisen, geschweige denn in der Gesellschaft. Die Postmoderne steckte damals noch in den Kinderschuhen. Dennoch wäre es für den heutigen Leser wichtig und hilfreich, etwas über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne zu erfahren.
Postmoderne kurz & bündig
Schaeffer beschreibt in seinem Buch oft die eigentliche Postmoderne. Das ist der Wendepunkt, an dem die säkularen Gelehrten, allen voran die Philosophen, den Begriff der Wahrheit neu definieren. Wahrheit ist nicht mehr das, was wissenschaftlich und faktisch war. Dieses Verständnis hat sich seit der Aufklärung in der Moderne durchgesetzt. Nun ist man inhaltlich an ein Ende gekommen, man hat sich fast alles erklärt, und damit ist der untere Teil unspektakulär geworden. Das Neue in der Postmoderne ist, dass man oberhalb des Striches beginnt, Wahrheiten zu platzieren. In der Moderne, so Schaeffer, gab es entweder Gott für die Gläubigen oder gar keinen Glauben. Aber in der Postmoderne lautet der Slogan: Entscheide selbst, was in der oberen Schicht sein soll, entscheide selbst, wer oder was Gott für dich ist.
Dieser Unterschied zwischen modernem und postmodernem Denken hätte durchaus stärker sein können. Wer sich einen Überblick über die Postmoderne verschaffen will, dem empfehle ich folgendes Buch: Postmodernism 101. Wenn es etwas ausführlicher sein darf, ist Grenz’ Werk eine ideale Einführung.
Abschluss
Schaeffers Schreibstil ist akademisch und für manche Leser möglicherweise schwer zugänglich. Seine Argumentation ist komplex und erfordert ein gewisses Maß an theologischem Verständnis. Dennoch ist das Buch gut strukturiert und bietet jedem der sich für die Schnittstelle von Glaube und Kultur interessiert, eine Quelle von Gedanken und Anregungen. Alles in allem ist „Die Preisgabe der Vernunft” von Francis Schaeffer ein bedeutendes Werk, das eine wichtige Perspektive auf die kulturellen Herausforderungen der Gegenwart bietet. Auch wenn es nicht mehr auf dem neuesten Stand ist, bietet es doch wertvolle Einsichten in vergangene Denkweisen und kann als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen und Untersuchungen dienen.