Augustinus und die Exegese schwieriger Bibeltexte

Von Dorothea Weiland

Exegese, Kirchengeschichte
Vor 10 Monaten

Augus­ti­nus, der wohl bedeu­tends­te Kir­chen­va­ter der Kir­chen­ge­schich­te war ein lei­den­schaft­li­cher Exeget. Sein beson­de­res Augen­merk galt schwer ver­ständ­li­chen bibli­schen Tex­ten. Lesen Sie hier, wie Augus­ti­nus mit sol­chen Stel­len umging und was wir heu­te von ihm in Bezug auf exege­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen ler­nen können.

Aus dem Eng­li­schen von Bla­ke Adams

Lese­dau­er: ca. 20 min.

Wenn ein Wort oder ein Bibel­ab­schnitt mehr als eine Bedeu­tung haben kann, kommt es zur soge­nann­ten exege­ti­schen Mehr­deu­tig­keit. Die­se kann dazu füh­ren, dass man sich inten­si­ver mit dem jewei­li­gen Bibel­text aus­ein­an­der­setzt. Sie kann aber auch frus­trie­ren oder Ver­zweif­lung her­vor­ru­fen. Viel­leicht hilft es, sich klar­zu­ma­chen, dass die­ses Pro­blem nicht neu ist. Die exege­ti­sche Mehr­deu­tig­keit gehört als fes­tes Ele­ment zu der Spra­che, die uns von Gott geschenkt wur­de. Bei Pro­ble­men, die ihrem Wesen nach uni­ver­sell sind, kön­nen die Men­schen der Anti­ke auch in unse­re Zeit hin­ein­spre­chen. Obwohl Augus­ti­nus die meis­ten der moder­nen exege­ti­schen Metho­den nicht kann­te, war er zwei­fel­los einer der her­aus­ra­gen­den Exege­ten der Anti­ke und – wie wir noch sehen wer­den – hat sein pas­to­ra­ler Ansatz zeit­lo­se Anziehungskraft.

Wer war Augustinus von Hippo?

Augus­ti­nus war ein nord­afri­ka­ni­scher Bischof, der Anfang des 5. Jahr­hun­derts starb. Mit Aus­nah­me viel­leicht von Pau­lus hat kein ande­rer Theo­lo­ge die west­li­che Theo­lo­gie so sehr beein­flusst wie er. Augus­ti­nus war vie­les – Phi­lo­soph, Bischof, Apo­lo­get – am meis­ten sehn­te er sich jedoch danach, ein Exeget zu sein. Exege­se war für ihn – anders als wir es heu­te viel­leicht den­ken – nicht ein­fach nur eine Kom­pe­tenz eines Gelehr­ten. Exege­se war eine Art zu leben. Augus­ti­nus sag­te ein­mal, dass ein Exeget so in der Schrift lebt wie ein Reh in einem gro­ßen Wald:

Nicht umsonst hast du [Gott] ja gewollt, dass auf so vie­len Blät­tern so dunk­le Geheim­nis­se ver­zeich­net wur­den. Oder haben nicht auch die Wäl­der ihre Hir­sche, die sich in sie zurück­zie­hen, sich dort erqui­cken und erge­hen, dar­in wei­den, ruhen und wiederkäuen?

(Conf. XI.2, 3)

Ein Exeget zu sein, bedeu­te­te unge­fähr das­sel­be wie ein Lie­ben­der zu sein: Es umfass­te das gan­ze Leben und das gan­ze Sein der Person.

Augustinus als leidenschaftlicher Exeget

Die Bibel zu ver­ste­hen, war ein Unter­fan­gen, das die gesam­te Exis­tenz, die Bil­dung und die Ener­gie des Ein­zel­nen erfor­der­te. Augus­ti­nus klag­te dar­über, dass sei­ne Auf­ga­ben in der Kir­che ihn davon abhiel­ten, sein Leben als Exeget voll und ganz genie­ßen zu kön­nen. Kurz nach sei­ner (unfrei­wil­li­gen) Ordi­na­ti­on zum Pries­ter im Jahr 391 n. Chr. bat Augus­ti­nus sei­nen Bischof um eine tem­po­rä­re Aus­zeit, um die Hei­li­ge Schrift stu­die­ren zu kön­nen und sich auf sei­ne neue Beru­fung vor­zu­be­rei­ten (Ep. 21).

Vier Jah­re spä­ter wur­de Augs­ti­nus zum Bischof geweiht. Nun klag­te er, dass es ihm immer schwe­rer fal­le, Zeit für sei­ne exege­ti­sche Arbeit zu fin­den (Conf. XI.2,2; ein The­ma, in dem sich vie­le Pas­to­ren in der heu­ti­gen Zeit eben­falls wie­der­fin­den). Trotz aller For­de­run­gen, die an ihn gestellt wur­den, ver­brach­te Augus­ti­nus jede freie Minu­te damit, sich „in der Aus­le­gung der Hei­li­gen Schrift zu üben“ (Ep. 213, I). Es gelang ihm, unzäh­li­ge Kom­men­ta­re, Pre­dig­ten und Abhand­lun­gen zu ver­fas­sen, die sei­nen erstaun­li­chen Scharf­sinn sicht­bar mach­ten. Exege­se bedeu­te­te für Augus­ti­nus kei­ne Anstren­gung eines Gelehr­ten und auch kei­ne Quel­le für die Pre­digt am nächs­ten Sonn­tag. Sie war für ihn der Lohn für sei­ne Arbeit.

Augus­ti­nus war mit dem Pro­blem der Mehr­deu­tig­keit der Hei­li­gen Schrift bes­tens ver­traut. Die Gemein­de in Hip­po zeich­ne­te sich durch eine gro­ße Viel­falt und intel­lek­tu­el­le Akti­vi­tät aus. Es exis­tier­ten vie­le ver­schie­de­ne Aus­le­gun­gen und nicht alle von die­sen wur­den von Irr­leh­rern oder irgend­wel­chen Ein­falts­pin­seln vor­ge­bracht. Tat­säch­lich war es gera­de die­se Viel­falt von gül­ti­gen Aus­le­gun­gen, die Augus­ti­nus‘ Inter­es­se weck­te. Denn die­se waren am schwie­rigs­ten auf Grund­la­ge der Bibel und der Ver­nunft zu lösen.

Augustinus’ zwei Phasen der Exegese

Für uns ist an die­ser Stel­le von Inter­es­se, wie Augus­ti­nus mit Mehr­deu­tig­kei­ten in der Bibel umging und wel­che Tipps er ande­ren Exege­ten gab. Er tat das in zwei Phasen.

In Pha­se 1 muss der Exeget in einem zwei­stu­fi­gen Pro­zess die Zahl der mög­li­chen Aus­le­gun­gen ein­gren­zen, indem er die­je­ni­gen aus­schließt, die Irr­leh­ren sind oder die sich nicht aus dem grö­ße­ren lite­ra­ri­schen Kon­text erge­ben. Die­se ers­te Pha­se wird im zwei­ten Buch von Über die christ­li­che Leh­re [De doc­tri­na chris­tia­na] beschrieben.

In Pha­se 2 muss der Exeget die Gül­tig­keit der (wahr­schein­lich) vie­len ver­blei­ben­den Aus­le­gun­gen bestä­ti­gen und für jede von ihnen eine pas­to­ra­le Anwen­dung fin­den. Dabei muss die Inten­ti­on des Autors berück­sich­tigt wer­den. Die­se zwei­te Pha­se wird im zwölf­ten Buch von Bekennt­nis­se [Con­fes­sio­nes] beschrieben.

Phase 1 der Exegese: Eingrenzung der möglichen Auslegungen

Die ers­te Pha­se beschreibt Augus­ti­nus in sei­ner Ein­lei­tung zu Über die christ­li­che Leh­re [De Doc­tri­na Chris­tia­na]. Über die christ­li­che Leh­re beschreibt als Hand­buch eine Rei­he von Regeln, mit deren Hil­fe die best­mög­li­che Aus­le­gung gefun­den wer­den kann, wenn es zu Mehr­deu­tig­kei­ten kommt. Wir beschrän­ken uns hier auf die ers­ten bei­den Regeln.

Schritt 1: Betrachte die Glaubensregel (Regula fidei)

Eines der Prin­zi­pi­en für die Exege­se, an das sich alle Kir­chen­vä­ter hiel­ten, lau­te­te: Die in der Bibel ein­deu­ti­gen Stel­len legen die Stel­len aus, die unklar oder zwei­deu­tig sind. Die Bibel spricht an man­chen Stel­len ganz offen. An ande­ren Stel­len wird die­sel­be Idee jedoch auf eine Art und Wei­se aus­ge­drückt, deren Bedeu­tung dem Leser eher ver­bor­gen bleibt. In die­sen Fäl­len schreibt Augus­ti­nus: „Zum Zwe­cke der Beleuch­tung dunk­ler Redens­ar­ten sol­len Bele­ge von Stel­len genom­men wer­den, die einem kla­rer sind, und gewis­se Zeug­nis­se von bestimmt lau­ten­den Sät­zen sol­len Zwei­fel über unbe­stimm­te Sät­ze ent­fer­nen.“ (De Doc­tri­na chris­tia­na. 2, 9; 14)

Für Augus­ti­nus stand die­ses Prin­zip eng mit der Glau­bens­re­gel in Ver­bin­dung. Tat­säch­lich emp­fahl er Exege­ten, die sich mit Zwei­deu­tig­kei­ten in der Schrift aus­ein­an­der­set­zen, sich mit der Glau­bens­re­gel zu befas­sen „die man aus Stel­len gezo­gen hat, die deut­li­cher sind, und die uns die Lehr­au­tori­tät der Kir­che zur Ver­fü­gung stellt“ (De Doc­tri­na chris­tia­na 3.2.2 [Her­vor­he­bung durch Bla­ke Adams]). Der zwei­te Teil der Aus­sa­ge – „die Lehr­au­tori­tät der Kir­che“ – benennt die Glau­bens­re­gel als nor­ma­ti­ve Leh­re der Kir­che: Eine Zusam­men­fas­sung des­sen, was man für die apos­to­li­sche Ver­kün­di­gung hielt, die auf Jesus Chris­tus zurück­zu­füh­ren war und von ihm über die Apos­tel an die Kir­chen­lei­ter der Gegen­wart wei­ter­ge­ge­ben (wört­lich „über­lie­fert“) wurde.

Die Glau­bens­re­gel ist also kei­ne alter­na­ti­ve Quel­le der Offen­ba­rung neben der Bibel. Sie weist Ähn­lich­kei­ten mit ihr auf und stimmt mit ihr über­ein: Die Regu­la fidei besteht aus hei­li­gen Wor­ten, die „in der Schrift zer­streut sind“ (De Sym­bo­lo ad Catechu­me­nos 1,1) und dort gesam­melt zusam­men­ge­stellt wur­den, damit man sie stu­die­ren und aus­wen­dig ler­nen kann und Zugang zu ihnen hat. Die Regu­la fidei fasst die Bibel kon­zen­triert in ihren „deut­lichs­ten“ und grund­le­gends­ten Punk­ten zusammen.

Der Inhalt der Regula fidei

Was war der Inhalt der Glau­bens­re­gel? Obwohl Augus­ti­nus oft auf sie Bezug nimmt, for­mu­liert er die Glau­bens­re­gel nir­gend­wo aus­drück­lich. Die Gelehr­ten haben sie jedoch aus sei­nen ver­schie­de­nen Schrif­ten in den fol­gen­den zwölf Arti­keln zusammengetragen:

  1. Ich glau­be an Gott, den Vater, den Allmächtigen.
  2. Und an Jesus Chris­tus, sei­nen ein­zi­gen Sohn, unse­ren Herrn
  3. Gezeugt aus dem Hei­li­gen Geist und gebo­ren von der Jung­frau Maria.
  4. Gekreu­zigt und begra­ben unter Pon­ti­us Pilatus.
  5. Am drit­ten Tage auf­er­stan­den von den Toten.
  6. Auf­ge­fah­ren in den Himmel.
  7. Er sitzt zur Rech­ten des Vaters.
  8. Von dort wird er kom­men, zu rich­ten die Leben­den und die Toten.
  9. Ich glau­be an den Hei­li­gen Geist,
  10. Die hei­li­ge christ­li­che Kirche.
  11. An die Ver­ge­bung der Sünden,
  12. An die Auf­er­ste­hung des Lei­bes und das ewi­ge Leben2

Mög­li­cher­wei­se haben Sie bemerkt, wie sehr die Glau­bens­re­gel des Augus­ti­nus dem Nizä­ni­schen Glau­bens­be­kennt­nis ähnelt. Tat­säch­lich könn­te man das Glau­bens­be­kennt­nis ein­fach als Glau­bens­re­gel auf­fas­sen, die in eine fes­te Form gegos­sen wur­de (als sol­ches wäre das Nizä­ni­sche Glau­bens­be­kennt­nis weni­ger eine Sys­te­ma­ti­sie­rung der Leh­re der Kir­che, son­dern eine For­mu­lie­rung in Kon­ti­nui­tät mit einer bereits bestehen­den Tra­di­ti­on der Ver­kün­di­gung). Ich wür­de tat­säch­lich vor­schla­gen, dass das Glau­bens­be­kennt­nis für uns die­sel­be Funk­ti­on über­neh­men kann, wie es die Glau­bens­re­gel bei Augus­ti­nus tat: Sie war ein Werk­zeug der Hermeneutik.

Das Glaubensbekenntnis als Maßstab für das richtige Bibelverständnis

Der sichers­te Weg zu wis­sen, dass wir die Bibel rich­tig lesen – so wie sie selbst ver­stan­den wer­den möch­te – ist, dies in Über­ein­stim­mung mit der Glau­bens­re­gel zu tun. Augus­ti­nus war aus die­sem Grund der Ansicht, dass die Glau­bens­re­gel häu­fig kon­sul­tiert wer­den und bei allen Schwie­rig­kei­ten her­an­ge­zo­gen wer­den soll­te, vor die sich Exege­ten gestellt sahen, dar­un­ter auch Zweideutigkeiten.

Die Glau­bens­re­gel war das ulti­ma­ti­ve Kri­te­ri­um, um die Trag­fä­hig­keit einer Aus­le­gung über­prü­fen zu kön­nen. Tat­säch­lich galt sie als Stan­dard, um die Bibel und deren Leh­re ver­ste­hen zu kön­nen. In die­ser Hin­sicht bestand der Zweck der Glau­bens­re­gel dar­in, Aus­le­gun­gen zu über­prü­fen (Drei­und­acht­zig ver­schie­de­ne Fra­gen 69,1). Der Exeget soll­te „in Über­ein­stim­mung mit der Glau­bens­re­gel bestä­ti­gen, was bestä­tigt wer­den soll­te und zurück­wei­sen, was zurück­ge­wie­sen wer­den soll­te (De Natu­ra Et Ori­gi­ne Ani­mae 2,17; 23).

Augus­ti­nus bemerkt zudem wie­der­holt: „Wel­che Aus­le­gung sich auch immer ergibt – sie muss mit der Glau­bens­re­gel über­ein­stim­men“ (Enna­ra­tio­nes in Psal­mos 74,12). Die Glau­bens­re­gel war beson­ders dann hilf­reich, wenn sich Bibel­stel­len dem Anschein nach wider­spra­chen (De tri­ni­ta­te Buch 2, Kapi­tel 10,7). Tat­säch­lich war die Glau­bens­re­gel (Regu­la) das ursprüng­li­che Prin­zip, das der bibli­schen Exege­se einen Rah­men gab.

Exegese nach Augustinus – ein praktisches Beispiel

Als Bei­spiel für die prak­ti­sche Anwen­dung der Glau­bens­re­gel führt Augus­ti­nus Johan­nes 1,1–2a an. Zu Augus­ti­nus‘ Leb­zei­ten ent­hiel­ten Bibeln nur sel­ten Satz­zei­chen, wodurch es in den Tex­ten häu­fig zu Mehr­deu­tig­kei­ten kam. Augus­ti­nus hät­te den Vers so gele­sen, wie er auch in unse­ren Bibeln zu fin­den ist:

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Er war am Anfang bei Gott.

Die Aria­ner zogen es jedoch vor, den Vers fol­gen­der­ma­ßen mit einer Inter­punk­ti­on zu versehen:

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war. Die­ses Wort war am Anfang bei Gott.

Dadurch ver­än­der­te sich die Bedeu­tung des Ver­ses. Die­se aria­ni­sche Les­art leg­te nahe, dass das Wort, sprich, die zwei­te Per­son der Tri­ni­tät, also der Sohn, nicht seit Ewig­keit bei Gott war und auch nicht mit ihm zu iden­ti­fi­zie­ren ist. Er beglei­te­te Gott ledig­lich zu einem bestimm­ten Zeit­punkt. Der Aus­druck „Gott war“ impli­ziert, dass das Wort zu einem bestimm­ten Zeit­punkt eben nicht exis­tier­te. Ohne Zei­chen­set­zung waren tech­nisch betrach­tet bei­de Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten zuläs­sig. Augus­tin stell­te hin­sicht­lich der aria­ni­schen Les­art klar: „Die­ser Irr­tum muss aus der Glau­bens­re­gel, die uns die Gleich­heit der Drei­fal­tig­keit lehrt, wider­legt wer­den“ (De Doc­tri­na chris­tia­na 3, 2.3). Die Ver­wen­dung der Glau­bens­re­gel als her­me­neu­ti­sches Werk­zeug bedeu­te­te, dass die Hei­li­ge Schrift nicht so aus­ge­legt wer­den durf­te, dass sie der Glau­bens­re­gel wider­sprach. Das hät­te bedeu­tet, dass die Bibel sich selbst wider­spro­chen hätte.

Die Glaubensregel als Härtetest

Sowohl recht­gläu­bi­ge Chris­ten als auch Häre­ti­ker lasen die­sel­be Bibel. Die Glau­bens­re­gel zeig­te daher die größ­te Wir­kung, wenn sie dazu dien­te Schluss­fol­ge­run­gen aus­zu­schlie­ßen, die der wah­ren Leh­re nicht gerecht wur­den. Das allein brach­te zwar bereits Fort­schrit­te hin­sicht­lich der Erschlie­ßung der Bedeu­tung eines Bibel­tex­tes, den­noch blieb nach wie vor Raum für ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­tio­nen. Zwar schuf die Glau­bens­re­gel Gren­zen für die Recht­gläu­big­keit, den­noch gab es inner­halb die­ser Gren­zen wei­ter­hin viel Platz für exege­ti­sche Freiheiten.

Augus­ti­nus führt in De Doc­tri­na chris­tia­na wei­ter aus, dass vie­le Zwei­deu­tig­kei­ten in bibli­schen Tex­ten exis­tie­ren, bei denen kei­ne der Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten dem Glau­ben wider­spre­chen (3,2, 4–5). Als regu­lie­ren­des Prin­zip für die Exege­se konn­te die Glau­bens­re­gel zwar auf­zei­gen, wel­che Aus­le­gun­gen mög­lich waren und ande­re Aus­le­gun­gen dem­entspre­chend aus­schlie­ßen, doch die Mehr­deu­tig­keit in bibli­schen Tex­ten war damit nicht voll­stän­dig aus der Welt geschafft. Für sich allein genom­men, konn­ten mit der Glau­bens­re­gel noch immer Bele­ge für meh­re­re, unter Umstän­den sogar sich wider­spre­chen­de Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten gefun­den werden.

Schritt 2: Untersuche den breiteren literarischen Kontext

Wenn nach der Kon­sul­ta­ti­on der Glau­bens­re­gel nach wie vor meh­re­re Bedeu­tun­gen für ein Wort oder einen Bibel­ab­schnitt mög­lich sind, emp­fiehlt Augustinus:

Dann bleibt nur noch übrig, den Text­zu­sam­men­hang selbst zu befra­gen, und zwar sowohl in den Tei­len, die der in der Mit­te lie­gen­den Zwei­deu­tig­keit vor­aus­lie­gen, als in denen, die ihr nach­fol­gen, dann wird man schon sehen, wel­che der ver­schie­de­nen Sin­ne, die mög­lich sind, der Zusam­men­hang begüns­tigt und mit sich ver­ei­ni­gen lässt.

(De Doc­tri­na chris­tia­na 3.2, 2)

Augus­ti­nus gibt ein Bei­spiel und auch hier ist die Zwei­deu­tig­keit eine Fra­ge der Inter­punk­ti­on. In Phil­ip­per 1,22–24 in der latei­ni­schen Bibel, die Augus­ti­nus benutz­te, konn­ten die Wor­te des Apos­tels Pau­lus ent­we­der als „Ich bin zwi­schen zwei Din­gen hin- und her­ge­ris­sen“ oder als „Ich habe ein Ver­lan­gen nach zwei Din­gen“ gele­sen wer­den. Die ers­te Les­art legt nahe, dass Pau­lus zwi­schen zwei [nicht gleich­wer­ti­gen] Din­gen hin- und her­ge­ris­sen ist – näm­lich sei­nem Wunsch bei Chris­tus zu sein und der Not­wen­dig­keit, mit den Brü­dern in der Welt zu sein. Die zwei­te Les­art impli­ziert, dass Pau­lus zwei gleich­wer­ti­ge Wün­sche hat und bei­de ger­ne erfüllt sehen wür­de. Bei­de Les­ar­ten drü­cken unter­schied­li­che Gemüts­zu­stän­de in Pau­lus‘ Inne­rem aus. Im ers­ten Bei­spiel zögert Pau­lus sei­nen Wunsch bei Chris­tus zu sein um der Brü­der wil­len lie­be­voll hin­aus. Im zwei­ten Bei­spiel scheint er nicht zu wis­sen, was bes­ser ist: bei Chris­tus oder bei den Chris­ten in Phil­ip­pi zu sein.

Betrach­tet man den brei­te­ren lite­ra­ri­schen Kon­text, löst sich die­se Zwei­deu­tig­keit jedoch bei­na­he von selbst auf: „So weiß ich nicht, was ich wäh­len soll. Denn es setzt mir bei­des hart zu. Ich habe Lust, aus der Welt zu schei­den und bei Chris­tus zu sein, was auch viel bes­ser wäre; Aber es ist nöti­ger, im Fleisch zu blei­ben um euret­wil­len.“ Pau­lus sagt hier aus­drück­lich, dass es „viel bes­ser ist“ bei Chris­tus zu sein und dass „es nöti­ger ist“, im Fleisch zu blei­ben. Die ers­te Les­art ist also die richtige.

Den Kontext beachten heißt, sich mit dem Bibeltext vertraut machen

Wäh­rend die­se Regel den Exege­ten dazu anhält, die Ver­se unmit­tel­bar vor und nach dem mehr­deu­ti­gen Bibel­ab­schnitt zu lesen, kann­te der idea­le Leser nach Augus­ti­nus das gan­ze Buch. Der „eif­rigs­te Schrift­for­scher wird also der sein, der sie zu aller­erst ein­mal ganz gele­sen hat“ (De Doc­tri­na chris­tia­na 2.8, 12). Idea­ler­wei­se lernt er gro­ße Tei­le aus­wen­dig, doch zu Beginn muss er noch nicht ver­ste­hen, was er gele­sen hat. Das Ziel ist ledig­lich, mit dem Text bes­ser ver­traut zu wer­den. Damit wird nicht nur die Grund­la­ge für eine tie­fer­ge­hen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Bibel geschaf­fen, son­dern auch der brei­te­re kano­ni­sche Kon­text für jeden mög­li­chen Bibel­text abgesteckt:

Hat man ein­mal eine gewis­se Ver­traut­heit mit der Spra­che der gött­li­chen Schrif­ten gewon­nen, so hat sich das wei­te­re Stre­ben dar­auf zu rich­ten, dunk­le Stel­len zu eröff­nen und zu beleuch­ten. Zum Zwe­cke der Beleuch­tung dunk­ler Redens­ar­ten sol­len Bele­ge von Stel­len genom­men wer­den, die einem kla­rer sind, und gewis­se Zeug­niss von bestimmt lau­ten­den Sät­zen sol­len Zwei­fel über unbe­stimm­te Sät­ze ent­fer­nen. Dabei leis­tet ein gutes Gedächt­nis die bes­ten Diens­te; man­gelt ein sol­ches, so kann es auch durch mei­ne Vor­schrif­ten nicht gege­ben werden.

(De Doc­tri­na chris­tia­na 2.9, 14)

Fazit aus Phase 1 der Exegese

Bei­de die­ser bis­her vor­ge­stell­ten Regeln gehö­ren zu einem bestimm­ten Typus, näm­lich zu mehr­deu­ti­gen „Weg­wei­sern“ (d.h. Inter­punk­ti­on). Augus­ti­nus ver­si­chert sei­nen Lesern jedoch, dass die­se bei­den Regeln bei jeder Art von Mehr­deu­tig­keit in der Bibel ange­wen­det wer­den kön­nen. „Sofern der Leser nicht durch man­geln­de Sorg­falt geschwächt ist“, soll­ten alle Mehr­deu­tig­kei­ten lexi­ka­lisch-gram­ma­ti­ka­li­scher Art

nach den Regeln des Glau­bens und nach dem gan­zen Zusam­men­hang des Tex­tes ver­bes­sert wer­den. Kann aber kei­nes von die­sen bei­den Mit­teln zur Ver­bes­se­rung ange­wen­det wer­den und bleibt die Beto­nung nicht weni­ger zwei­fel­haft, so trifft den Leser kei­ne Schuld, wie er auch beto­nen mag.

(De Doc­tri­na chris­tia­na 3.3, 6)

Die Ein­schät­zung des lite­ra­ri­schen Kon­tex­tes und die Kon­sul­ta­ti­on der Glau­bens­re­gel bie­ten hilf­rei­che Gren­zen, doch inner­halb die­ser Gren­zen besteht nach wie vor eine gro­ße exege­ti­sche Frei­heit. Der Exeget hat die Frei­heit, aus den noch ver­blei­ben­den Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten zu wäh­len (sie­he De Doc­tri­na chris­tia­na 3.2.5). Trotz die­ser Frei­heit besteht das Ziel die­ser ers­ten Pha­se dar­in, die Zahl der mög­li­chen Aus­le­gun­gen so weit wie mög­lich ein­zu­gren­zen. Im Prin­zip sind die zwei Regeln von Augus­ti­nus Werk­zeu­ge zur Ein­gren­zung. Wäre dies bereits alles, was Augus­ti­nus zum The­ma Exege­se zu sagen hat, hät­ten wir die Frei­heit, die exege­ti­sche Arbeit als rein reduk­tio­nis­tisch zu betrachten.

Eine reduk­tio­nis­ti­sche Exege­se arbei­tet mit dem Ziel (bzw. der Nei­gung) des Exege­ten, für jede Bibel­stel­le nur eine ein­zi­ge Aus­le­gungs­mög­lich­keit zu fin­den. Die­se Nei­gung bewer­tet die Exis­tenz ver­schie­de­ner Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten als grund­le­gend pro­ble­ma­tisch und sieht in ihnen einen Hin­weis dar­auf, dass die Exege­se noch nicht fer­tig ist. Moder­ne Exege­se ist häu­fig reduk­tio­nis­tisch. Augus­ti­nus wider­spricht die­ser Ansicht. Er hält es für nötig, die Band­brei­te an akzep­ta­blen Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten mit­hil­fe der Glau­bens­re­gel und dem brei­te­ren lite­ra­ri­schen Kon­text der Hei­li­gen Schrift ein­zu­gren­zen. Der Höhe­punkt der Exege­se ist jedoch die Betrach­tung der Inten­ti­on des Autors, die uns unter ande­rem dazu führt, den Bibel­text nicht als abs­trak­ten Text zu lesen, son­dern ihn als ein Pro­dukt von nichts Gerin­ge­rem als einem weit bli­cken­den und viel­schich­ti­gen Geist zu betrach­ten. Das lässt die Mög­lich­keit offen, dass der Autor zum Nut­zen des Lesers zumin­dest eini­ge Mehr­deu­tig­kei­ten mit Absicht in den Text ein­ge­baut hat.

Phase 2 der Exegese: Pastorale Anwendung verschiedener Auslegungen

Die wohl umfas­sends­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Mehr­deu­tig­kei­ten in bibli­schen Tex­ten in Augus­ti­nus‘ Wer­ken – und viel­leicht in der gesam­ten anti­ken Lite­ra­tur der Chris­ten­heit – fin­det sich in Augus­ti­nus‘ wohl berühm­tes­tem Werk Bekennt­nis­se [Con­fes­sio­nes] Augus­ti­nus wid­met das gesam­te 12. Buch der Exege­se eines ein­zi­gen Bibel­ver­ses und unter­sucht, wel­che der vie­len Aus­le­gun­gen zuläs­sig sind: „Am Anfang schuf Gott Him­mel und Erde“ (Gen 1,1) [LUT2017]. Die­se Vor­ge­hens­wei­se war ange­mes­sen, da die rich­ti­ge Sicht­wei­se auf die Schöp­fung oft­mals ein Schlüs­sel­the­ma – wenn nicht sogar das Schlüs­sel­the­ma – in der Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Chris­ten und Irr­leh­ren bzw. Hei­den war.

Eine Frage von Himmel und Erde

Wie legte Augustin Genesis 1,1 aus?

Augus­ti­nus geht davon aus, dass es sich bei „Him­mel“ und „Erde“ in die­sem Abschnitt um zwei ver­schie­de­ne geschaf­fe­ne Din­ge han­delt, die bei­de zur sel­ben Zeit und ex nihi­lo [aus dem Nichts] vor der Erschaf­fung der Zeit ent­stan­den (Bekennt­nis­se XII. 12, 15). „Him­mel“ ist der Ort, den die Bibel an ande­rer Stel­le als „Him­mel des HERRN“ (z. B. Psalm 115,16) bezeich­net: Der „Him­mel ist eine rein geist­li­che Ort (oder um es mit Augus­ti­nus zu sagen „intel­lek­tu­el­le“) Schöp­fung und Got­tes „Haus­halt“ (Bekennt­nis­se XII.11, 12; sie­he Mt 5,34). Bei der zwei­ten Schöp­fung, der „Erde“ han­del­te es sich um die form­lo­se Mate­rie (oft als „Urflut“ bezeich­net), aus der an den sechs Schöp­fungs­ta­gen der Kos­mos geschaf­fen wur­de, ein­schließ­lich des Gebil­des über der Erde, das wir „Him­mel“ nen­nen. Es wur­de am zwei­ten Schöp­fungs­tag erschaf­fen (Gen 1,7–8) und besteht damit eben­falls aus der­sel­ben form­lo­sen Mate­rie wie die Erde unter ihm.

In Kür­ze bedeu­tet dies: Die zwei­te Schöp­fung – die Erde – ist mate­ri­ell, die ers­te Schöp­fung – der Him­mel – hin­ge­gen imma­te­ri­ell. Die Erde war gestalt­los, der Him­mel hin­ge­gen „uranfäng­lich gestal­tet“ (Conf. XII.13,16). Die Erde war gestalt­los, da die Zeit noch nicht geschaf­fen wor­den war, eben­so wenig wie For­men. Der Him­mel jedoch befand sich außer­halb der Ein­fluss­sphä­re der Zeit, weil er an der Ewig­keit Got­tes Anteil hat­te, auch wenn er nicht eben­so wie Gott ewig war, son­dern einen Anfang hat­te. Außer dem Him­mel gab es nichts Grö­ße­res als Gott, außer der Erde nichts Klei­ne­res (Conf. XII.7, 7). Bei­des wur­de erschaf­fen noch bevor es Tag und Nacht gab. Sie wur­den also nicht am ers­ten Schöp­fungs­tag oder spä­ter erschaf­fen, son­dern „am Anfang“, noch bevor die Zeit exis­tier­te. Oder wie Augus­ti­nus es aus­drückt: „Am Anfang schuf Gott die Him­mel und die Erde“.

Welche Standpunkte vertraten die Gegner von Augustinus?

Wir brau­chen uns nicht mit den Ein­zel­hei­ten der exege­ti­schen Argu­men­ta­ti­on von Augus­ti­nus zu befas­sen. Es geht nicht dar­um, ob sei­ne Aus­le­gung rich­tig oder falsch ist, son­dern dar­um wie er sei­ne eige­ne Inter­pre­ta­ti­on gegen­über den vie­len ande­ren ver­tei­digt. Er beteu­ert zwar, dass sei­ne eige­nen Ansich­ten „vor­läu­fig“ sind (Conf. XII.13, 16), beweist jedoch auf intel­lek­tu­el­ler Ebe­ne auch Mut und ver­tei­digt sei­ne Posi­ti­on mit aller Ernsthaftigkeit.

Je län­ger Augus­ti­nus ver­schie­de­ne Aus­le­gun­gen mit­ein­an­der ver­gleicht, des­to kla­rer wird: Sei­ne „Geg­ner“ sind Men­schen wie er selbst. Sie sind weder Irr­leh­rer, noch Hei­den, noch daher­ge­lau­fe­ne Ein­falts­pin­sel. Wie Augus­ti­nus auch hal­ten sie die Hei­li­ge Schrift in Ehren und räu­men ihr das höchs­te Anse­hen ein, wider­spre­chen Augus­ti­nus aber doch in dem einen oder ande­ren Punkt (sie­he Conf. XII. 16,23; XII. 15,22).

Alle Geg­ner von Augus­ti­nus beja­hen die ortho­do­xe Theo­lo­gie. Sie bestrei­ten bei­spiels­wei­se nicht, dass Gott allein ewig ist. „Er will auch nicht bald die­ses, bald jenes, son­dern nur ein­mal und zugleich und immer will er alles, was er will […] was aber ver­än­der­lich ist, ist nicht ewig; unser Gott aber ist ewig“ (Conf. XII.15, 18). Sie bestrei­ten auch nicht, dass Gott der ein­zi­ge Ursprung der Schöp­fung ist. Auch bestrei­ten sie nicht die Exis­tenz des Him­mels oder dass der Kos­mos aus der Urma­te­rie gebil­det wur­de, die ihrer­seits ex nihi­lo geschaf­fen wur­de (Conf. XII.25, 19).

Was bedeuten die Begriffe „Himmel” und „Erde”?
Himmel und Erde als „die ganze sichtbare Welt”

Der strit­ti­ge Punkt ist eher in der Bedeu­tung wich­ti­ger Begrif­fe und Sät­ze zu suchen. Bei­spiels­wei­se bestand ein Stand­punkt dar­in, zu behaup­ten, dass Mose mit „Him­mel“ und „Erde“ schlicht und ein­fach „die gan­ze sicht­ba­re Welt“ gemeint habe – umfas­send, sozu­sa­gen oben und unten – und dass die nächs­ten sechs Schöp­fungs­ta­ge ein­fach der Rei­he nach auf­zäh­len wie die Schöp­fung umfas­send ent­stan­den ist. In einem Anflug his­to­risch-kul­tu­rel­ler exege­ti­scher Argu­men­ta­ti­on erklä­ren Anhän­ger die­ser Posi­ti­on: „Denn jenes rohe, nur am Sinn­li­chen hän­gen­de Volk, zu dem er [Mose] sprach, bestand aus Men­schen der Art, daß er glaub­te, ihnen nur die sicht­ba­ren Wer­ke Got­tes vor­füh­ren zu dür­fen“ (Conf. XII.17, 24).

Himmel und Erde als Urmaterie

Ver­tre­ter eines zwei­ten Stand­punk­tes argu­men­tie­ren, dass sich „Him­mel“ und „Erde“ glei­cher­ma­ßen auf die form­lo­se Urma­te­rie bezie­hen, aus der der Kos­mos spä­ter geschaf­fen wur­de. Augus­ti­nus fasst die­se Posi­ti­on zusam­men und erklärt, dass die­se form­lo­se Mas­se „ mit die­sen Begrif­fen [Him­mel und Erde] bezeich­net wer­den kann, da aus die­ser unse­re Welt ent­stand und voll­endet wur­de“ (Conf. XII.17, 25). Nach die­ser Auf­fas­sung bezeich­nen also „Him­mel“ und „Erde“ das Anfangs­sta­di­um der sicht­ba­ren Schöp­fung. Zudem wird die Urma­te­rie in Vor­weg­nah­me ihrer künf­ti­gen Gestalt „Him­mel und Erde“ genannt und drit­tens bezieht sich das ursprüng­li­che „Him­mel und Erde“ buch­stäb­lich auf „Him­mel“ und „Erde wie sie am zwei­ten und drit­ten Tag der Schöp­fung geschaf­fen wurden.

Himmel und Erde als sichtbare und unsichtbare Urmaterie

Ein drit­ter Stand­punkt ist dem zwei­ten inso­fern ähn­lich, dass bei­de mit den Begrif­fen „Him­mel“ und „Erde“ Bezug auf die Urma­te­rie neh­men. Der drit­te Stand­punkt iden­ti­fi­ziert nach der Schöp­fung nun damit jedoch das Unsicht­ba­re bzw. Sicht­ba­re. Auch hier räumt Augus­ti­nus ein, dass die­ser Gebrauch „nicht unpas­send“ sei, da die Geschöp­fe aus dem Nichts und nicht aus Gott erschaf­fen wor­den sei­en. Folg­lich sei­en sie auch nicht „mit Gott glei­chen Wesens“ (Conf. XII.17, 25). Die­ser von einem von Augus­ti­nus‘ Geg­nern stam­men­de Stand­punkt bewahrt wie die ande­ren den Unter­schied zwi­schen Geschöpf und Schöp­fer, das für die Ortho­do­xie so wesent­lich ist und in der Glau­bens­re­gel zum Aus­druck kommt.

Himmel und Erde als schöpferisches Potenzial der Urmaterie

Augus­ti­nus führt noch einen vier­ten Stand­punkt an. Die­ser wur­de nicht von bestimm­ten Zeit­ge­nos­sen ver­tre­ten, son­dern kann von jedem ver­tre­ten wer­den, „der auf die­se Wei­se denkt“ (Conf. XII.17, 26). Hier han­delt es sich um eine ech­te Hypo­the­se, die besagt, dass die Begrif­fe „Him­mel“ und „Erde“ das schöp­fe­ri­sche Poten­zi­al bezeich­nen, das in der Urma­te­rie liegt.

[Der] noch gestalt­lo­se Ent­wurf der Din­ge, das gestal­tungs- und bil­dungs­fä­hi­ge Sein sei damit bezeich­net wor­den; denn in ihm sei bereits, wenn auch in wir­rem Durch­ein­an­der, das noch nicht durch sei­ne beson­de­ren Eigen­schaf­ten und For­men geschie­den, das vor­han­den, was jetzt in sei­ner Aus­ge­stal­tung Him­mel und Erde hei­ße, wobei jener die geis­ti­ge Schöp­fung, die­se die Kör­per­welt bedeute.

(Conf. XII.17, 26)

Augustinus als Verfechter der exegetischen Freiheit

Es wer­den noch wei­te­re Mei­nun­gen und Stand­punk­te erwo­gen. Augus­ti­nus unter­sucht die­se aus­führ­lich in Buch XII. Moder­ne Exege­ten reagie­ren mög­li­cher­wei­se frus­triert auf die Tat­sa­che, dass es mehr als eine gül­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on gibt. Augus­ti­nus ließ sich davon jedoch nicht beirren.

Wenn ich mich nun zu die­sen [Gebo­ten] mit glü­hen­der Lie­be beken­ne, mein Gott, du ‚Licht mei­ner Augen’ im Ver­bor­ge­nen, was kann es mir da scha­den, wenn die­se Wor­te, die des­sen unge­ach­tet wahr blei­ben, ver­schie­de­ne Auf­fas­sun­gen zulassen?

(Conf. XII.18, 27)

Dies zeigt eine gro­ße exege­ti­sche Frei­heit, wie Augus­ti­nus wei­ter bekräf­tigt: „Eben­so nimmt, was das Ver­ständ­nis […] anbe­trifft, aus den ver­schie­de­nen wah­ren Auf­fas­sun­gen der eine sich die, der ande­re die“ (Conf. XII.21, 30). Ein­mal von ihrer Wahr­heit über­zeugt, ist Augus­ti­nus nicht wei­ter dar­an inter­es­siert, die Lis­te der zuläs­si­gen Aus­le­gun­gen wei­ter ein­zu­gren­zen. Er geht sogar so weit, Ein­wän­de gegen eini­ge Aus­le­gun­gen sei­ner Geg­ner vor­weg­zu­neh­men und sie jeweils kurz zu ver­tei­di­gen (sie­he Conf. XII.22, 31). Dabei zeigt er auf, dass eine Viel­falt mög­li­cher Inter­pre­ta­tio­nen eines Bibel­tex­tes nicht not­wen­di­ger­wei­se ein Sym­ptom für Untreue gegen­über der Recht­gläu­big­keit oder der Hei­li­gen Schrift sein muss. Ganz im Gegen­teil: Exege­ten kön­nen sich in die­sen Punk­ten einig sein und doch zu unter­schied­li­chen Aus­le­gun­gen kom­men. Augus­ti­nus bekräf­tigt, dass die­se Stand­punk­te, obwohl sie sehr ver­schie­den sind, den­noch nicht falsch sind.

Am Ende blei­ben Augus­ti­nus fünf ver­schie­de­ne Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten. Alle von die­sen haben sei­ne ers­ten bei­den Tests bestan­den: Alle fünf berück­sich­ti­gen den brei­te­ren lite­ra­ri­schen Kon­text und kei­ne von ihnen wider­spricht der Glaubensregel.

Und was jetzt?

Augustinus und die Absicht der biblischen Autoren

Das eigent­li­che Ziel der Exege­se war für Augus­ti­nus, die ursprüng­li­che Absicht des Ver­fas­sers eines bibli­schen Buches zu ver­ste­hen. Augus­ti­nus war sich der Tat­sa­che bewusst, dass ein Text bei sei­nem Leser eine Wir­kung ent­fal­ten kann, die der Autor ursprüng­lich nicht unbe­dingt beab­sich­tig­te. Dar­in könn­te manch­mal das Wir­ken des Hei­li­gen Geis­tes gese­hen wer­den, der durch den Text zum Leser spricht (Conf. XII.32, 43). Doch der Exeget soll­te sich nicht dar­auf ver­las­sen, auto­ma­tisch eine direk­te Offen­ba­rung durch den Hei­li­gen Geist zu erhal­ten, wenn er in der Bibel liest. Augus­ti­nus erklärt, dass „die Absicht des Autors zu erken­nen, der dir [Gott] dient, die rich­tigs­te und bes­te Art der Exege­se ist“ (sie­he Conf. XII.32, 43). Die Haupt­auf­ga­be eines Exege­ten besteht nach Augus­ti­nus dar­in, die Inten­ti­on des Autors zu verstehen.

Welche Absicht verfolgte Mose in Genesis 1,1?

Im letz­ten Drit­tel von Buch XII voll­zieht Augus­ti­nus einen Per­spek­tiv­wech­sel. Nach­dem er alle übli­chen Ver­fah­ren der Exege­se aus­ge­schöpft hat, beginnt er sich für die Per­son und das Den­ken des Ver­fas­sers, Mose, zu inter­es­sie­ren. Nun geht es nicht mehr dar­um, wel­che Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten exege­tisch trag­fä­hig sind, son­dern dar­um, wel­che der fünf mög­li­chen Inter­pre­ta­tio­nen Mose wohl kom­mu­ni­zie­ren woll­te. Augus­ti­nus bedau­ert es, dass Mose nicht mehr selbst erklä­ren kann, was er mit Gene­sis 1,1 meinte:

So hat Moses geschrie­ben; er hat es geschrie­ben und ist geschie­den, ist hin­über­ge­gan­gen von hin­nen von dir zu dir [d.h. er ist gestor­ben] und ist nun nicht mehr vor mir. Denn wäre er noch hier, so wür­de ich ihn fest­hal­ten und ihn fra­gen und ihn bei dir beschwö­ren, dass er mir die­se Wor­te erkläre.

(Conf. XI.3, 5)

Augus­tin heg­te ernst­haf­te Zwei­fel dar­an, dass ein Exeget zu einer defi­ni­ti­ven Ent­schei­dung dar­über kom­men kann, dass Mose eine bestimm­te Aus­le­gung beabsichtigte:

Sieh also, wie töricht die fre­vel­haf­te Behaup­tung ist, Moses habe aus einer so gro­ßen Anzahl ganz wah­rer Ansich­ten, die man aus Wor­ten ent­neh­men kann, gera­de eine bestimm­te beabsichtigt.

(Conf. XII.25, 35)

Augustinus und der Umgang mit verengten Sichtweisen

Die­je­ni­gen, die beharr­ten „Moses hat das nicht gemeint, was du sagst, son­dern er hat das gemeint, was ich sage“ sei­en weni­ger an einem Ver­fas­ser wie Mose und eher an sich selbst inter­es­siert, „weil sie voll Stolz sind und die Ansicht des Moses nicht ken­nen, son­dern nur die ihri­ge lie­ben, nicht weil sie die wah­re, son­dern weil sie die ihri­ge ist“ (Conf. XII.25, 34).

Augus­tin fragt noch einmal:

Doch wer von uns wird aus so vie­len Wahr­hei­ten, die sich bei so ver­schie­de­ner Auf­fas­sung der frag­li­chen Wor­te dem For­scher auf­drän­gen, gera­de den Sinn her­aus­fin­den, so dass er eben­so zuver­sicht­lich sagen kann, dies habe Moses gemeint und so habe er sei­nen Bericht ver­stan­den wis­sen wol­len, wie er behaup­tet, sei­ne Auf­fas­sung ent­spre­che der Wahr­heit, ob es nun Moses so oder so gemeint habe?

(Conf. XII.24, 33)

Augus­ti­nus ver­nein­te, dass Exege­ten in der Lage sind, zu sagen, dass Mose nur eine der fünf mög­li­chen Aus­le­gun­gen, aber kei­ne der ande­ren im Sinn gehabt hät­te. Mose hat sicher­lich nichts Unwah­res geschrie­ben. Doch das bedeu­tet ledig­lich, dass er jede der fünf mög­li­chen Inter­pre­ta­tio­nen im Sinn gehabt haben könnte:

Ich sehe mit Gewiss­heit, dass bei­de Ansich­ten in Wahr­heit aus­ge­spro­chen wer­den kön­nen, aber was sich Moses in Wirk­lich­keit gedacht, das sehe ich nicht eben­so klar. Mag aber jener gro­ße Mann, als er die­se Wor­te nie­der­schrieb, eine der von mir ange­führ­ten Ansich­ten oder eine ande­re im Sin­ne gehabt haben, ich zweif­le kei­nes­wegs, dass er die Wahr­heit erkannt und sie in geeig­ne­ter Form aus­ge­spro­chen hat.

(Conf. XII.24, 33)

Aus die­sem Grund hat­te Augus­ti­nus kei­ne Geduld mit Men­schen, die fest behaup­te­ten, dass Mose genau das im Sin­ne gehabt habe, was sie sag­ten und nichts ande­res. Das ist eine Ver­ken­nung der viel­fäl­ti­gen exege­ti­schen Möglichkeiten.

In der Fol­ge unter­bricht Augus­ti­nus die­sen Gedan­ken­gang und betet – auf der Grund­la­ge des Gebots, sei­nen Nächs­ten zu lie­ben wie sich selbst -, dass er es sich nicht vor­stel­len kön­ne, dass er, Augus­ti­nus, „ein schlech­te­res Geschenk erhal­ten hät­te“, als das, was Mose, „dein treu­er Die­ner“ erhal­ten hat, wenn es Augus­ti­nus‘ Auf­ga­be gewe­sen wäre, das Buch Gene­sis zu schreiben.

Er fährt fort:

Wäre ich also damals an sei­ner [Moses] Stel­le gewe­sen und hät­test du [Gott] mir auf­ge­tra­gen, das Buch Gene­sis zu schrei­ben, so hät­te ich gewünscht, mir wäre eine sol­che Kraft der Rede, eine sol­che Fähig­keit, mei­ne Gedan­ken dar­zu­stel­len, ver­lie­hen wor­den, daß die­je­ni­gen, die sich noch nicht zur Ein­sicht erhe­ben kön­nen, wie Gott schafft, mei­ne Wor­te nicht als ihre Fas­sungs­kraft über­stei­gend ver­wer­fen, daß die­je­ni­gen aber, die ich bereits zu die­ser Ein­sicht erho­ben, in den weni­gen Wor­ten dei­nes Die­ners den wah­ren Sinn, zu dem sie viel­leicht ihr eige­nes Nach­den­ken geführt, nicht über­gan­gen fin­den Und daß, wenn ein ande­rer im Lich­te der Wahr­heit wie­der eine ande­re Auf­fas­sung erschau­te, auch die­se unter jenen Wor­ten ver­stan­den wer­den könnte.

(Conf. XII.26, 36)

Zwischenfazit: Es gibt mehr als nur eine richtige Auslegung der Bibel

Vie­le Stand­punk­te und Mei­nun­gen haben den Sieb der exege­ti­schen Regeln durch­lau­fen. Fünf davon sind übrig geblie­ben. Doch war­um soll­te Mose nicht alle fünf im Sinn gehabt haben? Das ist min­des­tens genau­so gut mög­lich wie dass er nur die eine oder ande­re für bedeut­sam hielt.

War­um nicht lie­ber bei­des, wenn bei­des wahr ist? Und wenn einer noch eine drit­te oder eine vier­te oder über­haupt etwas ganz ande­res in die­sen Wor­ten fin­det, wofern es nur wahr ist, war­um sol­len wir nicht glau­ben, daß Moses all das gese­hen, er, durch den der eine Gott die hei­li­gen Schrif­ten dem Ver­ständ­nis­se so vie­ler ange­paßt hat, so daß sie, wenn auch Ver­schie­de­nes, so doch nur Wahr­heit in ihnen finden?

(Conf. XII.31, 42)

Kurz gesagt: Augus­ti­nus drängt uns, uns selbst zu fra­gen, ob gera­de eine Viel­zahl von Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten die eigent­li­che Absicht des Ver­fas­sers war. War­um eigent­lich nicht? Noch ein­mal: Augus­ti­nus‘ beharr­li­che Appel­le, dass der inspi­rier­te Autor bibli­scher Tex­te auto­ri­ta­tiv ist, zwingt uns dazu, den Text mit einem tie­fe­ren Ver­ständ­nis für die gött­li­che Dimen­si­on zu betrach­ten, die durch eine reduk­tio­nis­ti­sche Exege­se unwei­ger­lich ver­lo­ren geht. Wenn wir bei­spiels­wei­se über eine mehr­deu­ti­ge Stel­le in Gedich­ten von T. S. Eli­ot stol­pern, neh­men wir an, dass das Absicht war. Die­se Mehr­deu­tig­keit macht den Text rei­cher und gibt unse­rem Gehirn etwas zum Nach­den­ken. T. S. .Eli­ot wird so immer wert­vol­ler für uns und wir fei­ern ihn dafür, dass er so schreibt. War­um soll­ten wir das bei Mose nicht auch tun? Augus­ti­nus war der Ansicht, dass genau das rich­tig war.

Bei der kri­ti­schen Betrach­tung von Mehr­deu­tig­kei­ten in bibli­schen Tex­ten kommt Augus­ti­nus nicht nur zu dem Schluss, dass meh­re­re Bedeu­tun­gen mög­lich sind, er hält es auch für mög­lich, dass das Absicht war.

Der pastorale Zweck vielfältiger Auslegungsmöglichkeiten

Nach die­sem Maß­stab muss Augus­ti­nus zwar ein­ge­ste­hen, dass alle fünf ver­blei­ben­den Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten glei­cher­ma­ßen wahr sind, doch das bedeu­tet nicht, dass sie auch alle glei­cher­ma­ßen hilf­reich sind. Eini­ge Aus­le­gun­gen sind zwar genau­so wahr wie ande­re, haben aber mehr „Sub­stanz“ und hel­fen unse­rem Ver­stand in grö­ße­rem Maße, bei­spiels­wei­se bei der wich­ti­gen reli­giö­sen Fra­ge „Wie kann man auf gott­ge­fäl­li­ge Wei­se über Gott nach­den­ken? (Gn. adu. Man. 2.29.43). Man­che Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten sind für Men­schen, die neu im Glau­ben sind, leich­ter zu ver­ste­hen. Ande­re sind viel­leicht schwe­rer zu ver­ste­hen, bau­en aber gereif­te Chris­ten auf auf. Vie­le ver­schie­de­ne Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten sind daher ein Segen, da sie sicher­stel­len, dass jeder Christ die Chan­ce hat, etwas aus der Bibel zu hören und zu ver­ste­hen, unab­hän­gig von sei­ner geist­li­chen Reife.

Wie eine Quel­le im engen Rau­me was­ser­rei­cher ist und in meh­re­ren Bächen grö­ße­re Flä­chen bewäs­sert als jeder ein­zel­ne Bach, der aus die­ser Quel­le her­vor­geht und über gro­ße Stre­cken dahin­fließt, so spru­delt auch die Erzäh­lung dei­nes Ver­mitt­lers, eine ergie­bi­ge Quel­le für vie­le Dol­met­scher der Zukunft, in ihrer ein­fa­chen Rede­wei­se Strö­me lau­te­rer Wahr­heit aus, aus denen sich ein jeder wenn auch auf län­ge­ren Umwe­gen soviel Wahr­heit, als er kann, der eine die­se, der ande­re jene ent­neh­men kann.

(Conf. XII.27, 37)

Eine Viel­zahl von Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten dient also einem pas­to­ra­len Zweck. Jeder Leser kann die Aus­le­gung für sich in Anspruch neh­men, für die er im Moment die Fähig­keit zur Auf­nah­me und die nöti­ge Rei­fe besitzt. Dadurch wird sicher­ge­stellt, dass nie­mand leer aus­geht und es bestä­tigt auch, dass die Bibel für alle Men­schen ist. Es han­delt sich um Tex­te, die „allen Völ­kern zum Segen gerei­chen“ (Conf. XII.26,36), die „eine ergie­bi­ge Quel­le für vie­le Dol­met­scher der Zukunft sind“, aus denen „Strö­me lau­te­rer Wahr­heit“ spru­deln, so dass jeder soviel Wahr­heit wie er kann, der eine die­se, der ande­re jene ent­neh­men kann (Conf. XII.27, 37). Ein reduk­tio­nis­ti­scher Ansatz, der sich auf eine ein­zi­ge gül­ti­ge Aus­le­gung beschränkt, wird kaum alle Glie­der des Lei­bes Chris­ti mit Nah­rung ver­sor­gen können.

Augustinus’ Fazit: Die Bibel ist für alle da!

Augus­ti­nus geht hier in Buch XII sei­ner Bekennt­nis­se sicher­lich wei­ter als in Über die christ­li­che Leh­re. Die Glau­bens­re­gel und der brei­te­re Kon­text eines Bibel­ab­schnitts bil­den nicht nur metho­di­sche Gren­zen. Augus­ti­nus räumt viel­mehr die Exis­tenz einer gro­ßen Viel­falt von Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten inner­halb die­ser Gren­zen ein. Er sagt nicht, dass Mose irgend­ei­ne die­ser mög­li­chen Aus­le­gun­gen im Sinn gehabt haben könn­te, son­dern alle. Er sagt nicht, dass alle glei­cher­ma­ßen wahr sein kön­nen, son­dern dass sie es alle sind – je nach­dem in wel­cher Ver­fas­sung sich der Leser befin­det oder wel­che geist­li­chen Bedürf­nis­se er hat. Anders als er es bei sei­ner Bemer­kung über die exege­ti­sche Frei­heit sag­te, die durch die Kon­sul­ta­ti­on der regu­la fidei ermög­licht wird, sagt er hier nicht, dass „der Wil­le des Lesers“ dar­über ent­schei­det „wel­che unter­schied­li­chen Aus­le­gun­gen“ gewählt wer­den (De Doc­tri­na chris­tia­na, 3.2.5). Er sagt, dass der Leser die Wahr­heit in all die­sen unter­schied­li­chen Aus­le­gungs­mög­lich­kei­ten aner­ken­nen muss.

Augus­tin schließt sein Buch XII. mit einem Gebet ab:

Bei die­ser Ver­schie­den­heit von Auf­fas­sun­gen, die doch alle wahr sind, möge die Wahr­heit selbst uns zur Einig­keit füh­ren, und erbar­men möge sich unser Gott, damit wir sein Gesetz recht­mä­ßig anwen­den in einer Lie­be, nach dem End­zwe­cke sei­nes Gebo­tes. Wenn mich daher jemand fragt, wel­che von die­sen Auf­fas­sun­gen die dei­nes Die­ners Moses gewe­sen, so lie­gen sol­che Erör­te­run­gen außer­halb des Berei­ches mei­ner Bekennt­nis­se, Und wenn ich es dir nicht beken­ne, so weiß ich es auch nicht. Und doch weiß ich, daß jene Ansich­ten wahr sind mit Aus­nah­me der grob sinn­li­chen, über die ich soviel als nötig mich aus­ge­spro­chen habe. Wir alle aber, die wir, wie ich geste­he, das Wah­re erken­nen und beken­nen, wir wol­len ein­an­der lie­ben und wol­len glei­cher­wei­se auch dich, unsern Gott, lie­ben, den Quell der Wahr­heit, wenn wir nicht nach eit­len Din­gen, son­dern nach der Wahr­heit selbst dürs­ten. Zugleich wol­len wir dadurch dei­nen von einem Geis­te erfüll­ten Die­ner, den Ver­fas­ser die­ser Schrift, also ehren, daß wir glau­ben, er habe, als er sie nie­der­schrieb, durch dei­ne Ein­ge­bung beson­ders dar­auf geach­tet, was durch das Licht der Wahr­heit und durch frucht­brin­gen­de Nütz­lich­keit den ers­ten Platz verdient. 

(Conf. XII.30, 41)


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Dorothea Weiland

Über den Autor

Dorothea ist Übersetzerin und evangelische Theologin. Nach zwei Jahren als Jugendreferentin in der württembergischen Landeskirche arbeitet sie nun im Bereich Content bei Logos und kümmert sich unter anderem um den deutschen Logos-Blog.
Sie liebt Kaffee, Fußball, Spaziergänge, Bücher und Reisen.

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