Gott, das Alte Testament und Gewalt

Von Joshua Ganz

Altes Testament, Gottesbild, schwierige Bibeltexte
Vor 3 Monaten

Im Alten Tes­ta­ment gibt es vie­le erbau­li­che Tex­te. Es gibt aber auch Tex­te, die uns befrem­den oder sogar absto­ßen. Inwie­weit hat die­ser „ver­al­te­te“ Teil unse­rer Bibel für uns heu­te noch einen Wert in der Gemein­de und in unse­rem per­sön­li­chen All­tag als Chris­ten? Wenn über­haupt noch über Tex­te aus dem Alten Tes­ta­ment gepre­digt wird – wie gehen wir mit die­sen uns fremd erschei­nen­den Tex­ten um? Schließ­lich fin­den wir dort manch­mal Bil­der eines gewalt­tä­ti­gen und bru­ta­len Gottes.

Wir fin­den im Alten Tes­ta­ment einen Gott, der uns nicht passt.

Hinführung zum Alten Testament

Wie gehen wir mit einem sol­chen Gott um? Unser christ­lich-sozia­li­sier­tes Got­tes­bild passt oft nicht mit den Tex­ten aus dem Alten Tes­ta­ment zusam­men. Müs­sen wir unser Got­tes­bild ändern? Soll­ten wir gar die Tex­te abän­dern oder ihnen weni­ger Gewicht geben? Müs­sen wir eine neue Per­spek­ti­ve dar­auf gewinnen?

Jeden­falls fehlt es an Ver­ständ­nis für einen guten Umgang mit dem Alten Tes­ta­ment. Ein gro­ßer Teil davon dürf­te auf den Man­gel an deutsch­spra­chi­ger Lite­ra­tur zu die­sem The­ma zurück­zu­füh­ren sein. Tat­säch­lich fin­det man in Web­shops, Biblio­the­ken oder im christ­li­chen Buch­han­del nur wenig Mate­ri­al und Bücher zu den schwie­ri­gen Stel­len im Alten Tes­ta­ment. Auch ist oft kaum Grund­la­gen­wis­sen über das Alte Tes­ta­ment vorhanden.

Der in Logos erhält­li­che Sam­mel­band “Der Gott, der uns nicht passt”, der aus drei Tei­len mit 11 Bei­trä­gen besteht, will bewusst die­se Lücke schlie­ßen und das Alte Tes­ta­ment für sei­ne Leser zugäng­li­cher und ver­ständ­li­cher machen. Ich möch­te Ihnen die­ses Werk im Fol­gen­den näher bringen.

Kurzer Blick ins Buch

Teil 1: Grundsätzliche Überlegungen zum Alten Testament

Im ers­ten Teil die­ses Ban­des wer­den grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen zum Alten Tes­ta­ment ange­stellt. Wel­ches Pro­blem hat unse­re moder­ne west­li­che Kul­tur mit dem Alten Tes­ta­ment? Wie gewann es eigent­lich sei­ne Gestalt? Wie steht es im Ver­hält­nis zum Neu­en Tes­ta­ment? Was hat es mit den soge­nann­ten Apo­kry­phen auf sich?

Teil 2: Texte aus dem AT und konkrete ethische Fragen

Der zwei­te Teil des Sam­mel­ban­des wid­met sich ver­schie­de­nen Tex­ten aus dem Alten Tes­ta­ment, die kon­kre­te ethi­sche Fra­gen auf­wer­fen. Dazu zäh­len bei­spiels­wei­se der von Gott befoh­le­ne Völ­ker­mord, schwie­ri­ge Geset­zes­tex­te, die für unse­ren All­tag oft kaum ver­ständ­lich sind, sowie die Geschich­te einer Frau, die nach einer Grup­pen­ver­ge­wal­ti­gung zer­stü­ckelt und deren sterb­li­che Über­res­te in ganz Isra­el ver­streut wur­den. Was kön­nen wir aus die­sen Geschich­ten ler­nen? Kön­nen wir einem Gott ver­trau­en, der sol­che Taten begeht oder zumin­dest zulässt? Am Ende die­ses Teils geht es auch um Got­tes Zorn und die Fra­ge, ob heu­te noch Rachep­sal­men gebe­tet wer­den sollten.

Teil 3: Die Anwendung im Alltag

Schließ­lich soll­te die Anwend­bar­keit nicht ver­nach­läs­sigt wer­den. Wie kann man über ver­schie­de­ne Tex­te aus dem Alten Tes­ta­ment pre­di­gen? Der drit­te Teil des Sam­mel­ban­des schließt daher mit einer Bei­spiel­pre­digt, in deren Mit­tel­punkt ein ver­stö­ren­der Text aus dem Alten Tes­ta­ment steht: Auf den Fluch des Pro­phe­ten Eli­sa hin zer­rei­ßen zwei Bärin­nen 42 Kin­der, weil die­se den Pro­phe­ten zuvor als Glatz­kopf ver­spot­tet haben. 

An wel­ches Ziel­pu­bli­kum ist der Sam­mel­band gerichtet?

Wenn Sie Pas­tor oder Dozent sind, oder auch ein­fach hin und wie­der Bibel­aben­de hal­ten und in der Sonn­tags­schu­le unter­rich­ten, kann die­ses Buch sehr hilf­reich sein. Es ist übri­gens in einem ein­fa­chen Stil geschrie­ben und die hebräi­schen und grie­chi­schen Wör­ter wer­den tran­skri­biert (jedoch ohne Voka­li­sa­ti­on der hebräi­schen Wör­ter). Das macht es für den wis­sen­schaft­li­chen Leser etwas schwie­ri­ger, hebräi­sche Begrif­fe zu erken­nen, stellt aber für den inter­es­sier­ten Lai­en kei­ne unnö­ti­ge Hür­de dar. 

Der Sam­mel­band soll Ihnen als Hil­fe­stel­lung die­nen, um sich mit kri­ti­schen The­men aus­ein­an­der­set­zen zu kön­nen. Dabei geht es eben nicht um spitz­fin­di­ge Fra­gen, die nichts mit der Lebens­wirk­lich­keit zu tun haben. Viel­mehr geht es um den Stel­len­wert und die Bedeu­tung des grö­ße­ren Teils unse­rer Bibel. Die­ses Buch hilft Ihnen dabei, die­sen Stel­len­wert zu entdecken.

Wir wis­sen nun, an wen der Sam­mel­band gerich­tet ist. Doch woher kommt es? Wer kam auf die­se gute Idee, ein The­men­buch mit ver­schie­de­nen Autoren zu den schwie­ri­gen Tex­ten des Alten Tes­ta­ments zu erarbeiten?

Die Herausgeber …

Das Buch gehört zu einer fünf­tei­li­gen Buch­rei­he, wel­che vom “Forum Theo­lo­gie & Gemein­de” (FThG) her­aus­ge­ge­ben wur­de. Die­ses Forum ist ein Arbeits­zweig des Bun­des Frei­kirch­li­cher Pfingst­ge­mein­den (BFP) Deutsch­land. Das Buch liegt mitt­ler­wei­le in der drit­ten Auf­la­ge vor (2020) und wur­de 2015 erst­mals ver­öf­fent­licht. Der Bund Frei­kirch­li­cher Pfingst­ge­mein­den ist Mit­glied der Ver­ei­ni­gung Evan­ge­li­scher Frei­kir­chen (VEF). Aktu­ell gehö­ren 872 Gemein­den in Deutsch­land dem Bund an, die wöchent­lich von rund 117.000 Men­schen besucht werden.

Die meis­ten der sechs Autoren die­ses Sam­mel­ban­des arbei­ten als Pas­to­ren und Dozen­ten an frei­kirch­li­chen Aus­bil­dungs­stät­ten mit cha­ris­ma­ti­schem Hin­ter­grund (Theo­lo­gi­sches Semi­nar Erz­hau­sen und Theo­lo­gi­sche Aka­de­mie Stutt­gart). Eini­ge der Autoren sind an ihrer Bibel­schu­le Fach­be­reichs­lei­ter des Alten Testaments.

… und ihr Ziel

Das Ziel die­ses Buches kommt in einem Wunsch zum Aus­druck, den man in Bibel­schu­len oft hört:

Wir wün­schen den Lesern die­ses Buches auch wei­ter­hin, dass ihnen die hier vor­lie­gen­den Bei­trä­ge den Zugang zum oft­mals fremd emp­fun­de­nen Wesen des Alten Tes­ta­ments sowie des­sen Lebens- und Erle­bens­welt erleich­tern.“ (S. 12)

Die Autoren ver­su­chen, das Alte Tes­ta­ment in über­blicks­ar­ti­gen und gehalt­vol­len Bei­trä­gen für den heu­ti­gen Leser inter­es­sant und ver­ständ­lich zu machen. In Gemein­den wird über das Alte Tes­ta­ment kaum noch gepre­digt. Viel­leicht sogar zurecht. Denn der Gott, den wir dar­in fin­den, hat durch­aus Sei­ten an sich, die für uns unan­ge­nehm sind. Er ist ein Gott, der uns nicht passt. Doch genau dar­um gibt es die­ses Buch. Es will nicht um den hei­ßen Brei her­um­re­den, son­dern die schwie­ri­gen Pas­sa­gen des Alten Tes­ta­ments beleuch­ten. Und die­se Lam­pe, die uns die Autoren sym­bo­lisch in die Hand geben, wirft tat­säch­lich ein Licht auf man­che The­men, das zumin­dest ich mir nicht mehr neh­men lasse.

Die Aufsätze des Buches

Die­ses Ziel ver­fol­gen die Her­aus­ge­ber auf 350 Sei­ten. Das Buch ist in drei Tei­le geglie­dert, die wie­der­um in Auf­sät­ze auf­ge­teilt sind. Hier ein kur­zer Überblick:

Teil 1: Einführung und Grundlagen

Auf­satz 1: Das Alte Tes­ta­ment als Her­aus­for­de­rung, von Rudolf Fichtner

Der ers­te Auf­satz behan­delt die Her­aus­for­de­rung des Alten Tes­ta­ments grund­le­gend. Zudem wird bereits hier die Kon­ti­nui­tät vom Alten und Neu­en Tes­ta­ment ange­spro­chen. Pas­send plat­ziert, wie ich fin­de. Denn vie­le Lese­rin­nen und Leser schau­en oft vom Neu­en Tes­ta­ment aufs Alte.

Auf­satz 2: Vom Wer­den des Alten Tes­ta­ments, von Mathi­as Nell

Der zwei­te Auf­satz beinhal­tet die gan­ze Ent­ste­hung des Kanons, des­sen Aus­wir­kun­gen auf das Neue Tes­ta­ment und all­ge­mei­ne, leicht ver­ständ­li­che Infor­ma­tio­nen zum hebräi­schen und grie­chi­schen Alten Testament.

Auf­satz 3: Das Ver­hält­nis vom Alten zum Neu­en Tes­ta­ment, von Mark Schröder

Die­ser Auf­satz ent­hält eini­ge Anre­gun­gen zur Bibel der ers­ten Chris­ten und einen Ver­such, die bei­den Tes­ta­men­te stär­ker mit­ein­an­der zu lesen.

Teil 2: Das Alte Testament und seine Stolpersteine

Auf­satz 4: Völ­ker­mord im Alten Tes­ta­ment – Auf­trag eines lie­ben­den Got­tes?, von Tobi­as Wolff (unten mehr dazu)

Auf­satz 5: Kei­ne Hosen für Frau­en – Zur Aus­le­gung schwie­ri­ger Geset­zes­tex­te, von Mathi­as Nell

Es gibt Geset­ze im Alten Tes­ta­ment, bei denen man sich fra­gen muss: Was bedeu­ten die­se und wofür sind sie eigent­lich da? Was soll­te das Volk Isra­el mit die­sen Geset­zen anfan­gen? Die­sen Fra­gen geht Nell nach.

Auf­satz 6: Die Schand­tat von Gibea – Eine Exege­se von Rich­ter 19, von Mathi­as Nell

Die Erzäh­lung über die soge­nann­te „Schand­tat von Gibea“ in Rich­ter 19 stellt für Bibel­aus­le­ger und Pre­di­ger noch immer eine gro­ße Her­aus­for­de­rung dar. Die Fra­ge die­ses Auf­sat­zes lau­tet daher, ob – und falls ja, wie – die Erzäh­lung von Ri 19 biblisch-theo­lo­gisch zu bewer­ten ist.

Auf­satz 7: Men­schen­zorn und Got­tes Zorn, von Mark Schröder

Wie steht es mit dem Zorn Got­tes? Wenn der Mensch nach dem Eben­bild Got­tes geschaf­fen ist, dann muss Gott auch der Maß­stab dafür sein, wie wir mit unse­rem Zorn umge­hen. Wenn der Mensch nicht zor­nig sein darf, war­um darf Gott es dann? Die­se Fra­gen ver­sucht Schrö­der in sei­nem Auf­satz zu beantworten.

Auf­satz 8: „Selig, wer dei­ne Kind­lein am Fel­sen zer­schmet­tert“?, von Rudolf Fichtner

Ficht­ner geht in sei­nem Auf­satz der Fra­ge nach, was die Kla­ge­psal­men damals bedeu­te­ten und wie wir sie auf heu­te über­tra­gen kön­nen. Dabei stellt er Über­le­gun­gen zu Kla­ge­psal­men mit gewalt­tä­ti­gem Inhalt an.

Teil 3: Das Alte Testament in der Verkündigung

Auf­satz 9: „Es war ein­mal“ – Lite­ra­ri­sche Gat­tun­gen im Alten Tes­ta­ment, von Mathi­as Nell

Einen guten Über­blick über alle lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen, wie er oft auch in Ein­lei­tun­gen und Wer­ken zur Theo­lo­gie des Alten Tes­ta­ments zu fin­den ist, lie­fert Nell in die­sem Aufsatz.

Auf­satz 10: Pre­digt­hil­fen zu ver­schie­de­nen Text­gat­tun­gen, von Ste­fan Striefler

Strief­lers Auf­satz ist pra­xis­ori­en­tiert. Er teilt Kurz­pre­dig­ten und die Metho­dik zu den ver­schie­de­nen Gat­tun­gen mit uns, wie wir sie im neun­ten Auf­satz bereits ken­nen­ge­lernt haben.

Auf­satz 11: Bei­spiel­pre­digt: „Bethels Kin­der“, von Rei­mer Dietze

Den Abschluss des Buches bil­det eine tran­skri­bier­te Pre­digt von Rei­mer Diet­ze aus dem Jahr 2014. Bei dem Pre­digt­text han­delt es sich um die Erzäh­lung vom Pro­phe­ten Eli­sa, der auf einer Rei­se 42 fre­che Kin­der ver­flucht, die dar­auf­hin von Bären gefres­sen werden.

Im Fol­gen­den gön­nen wir uns einen etwas tie­fe­ren Ein­blick in den Sam­mel­band. Ich wer­de Ihnen den Auf­satz “Völ­ker­mord im Alten Tes­ta­ment – Auf­trag eines lie­ben­den Got­tes?” etwas näher vor­stel­len. Wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur zu die­sem The­ma fin­den Sie im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis am Ende die­ses Artikels.

Völkermord im Alten Testament

Der Bei­trag bil­det den Anfang von Teil 2 des Sam­mel­ban­des und wur­de von Tobi­as Wolff ver­fasst. Der Auf­satz umfasst cir­ca 50 Sei­ten (S. 101–154) und ist damit über­durch­schnitt­lich lang. Bekannt­lich ist Völ­ker­mord ein schwie­ri­ges The­ma, an dem man­che Gläu­bi­ge, aber auch Athe­is­ten und Agnos­ti­ker zu ver­zwei­feln schei­nen. So fin­det der Athe­ist Richard Daw­kins har­te Worte:

Der Gott des Alten Tes­ta­ments ist – das kann man mit Fug und Recht behaup­ten – die unan­ge­nehms­te Gestalt in der gesam­ten Lite­ra­tur: Er ist eifer­süch­tig und auch noch stolz dar­auf; ein klein­li­cher, unge­rech­ter, nach­tra­gen­der Über­wa­chungs­fa­na­ti­ker; ein rach­süch­ti­ger, blut­rüns­ti­ger eth­ni­scher Säu­be­rer; ein frau­en­feind­li­cher, homo­pho­ber, ras­sis­ti­scher, Kin­der und Völ­ker mor­den­der, ekli­ger, grö­ßen­wahn­sin­ni­ger, sado­ma­so­chis­ti­scher, lau­nisch-bos­haf­ter Tyrann.” (Aus: “Der Got­tes­wahn”, S. 45.)

Obwohl ich Daw­kins ger­ne ein paar Rück­fra­gen stel­len wür­de, die vor­wie­gend metaethi­scher und erkennt­nis­theo­re­ti­scher Natur sind, scheint er einen wun­den Punkt des Juden- und Chris­ten­tums getrof­fen zu haben. Vie­le gläu­bi­ge Men­schen tun sich offen­sicht­lich schwer mit dem Gott, der ihnen im Alten Tes­ta­ment begegnet.

Das Problem

Im sechs­ten Buch der Bibel erhält der jun­ge Josua den Auf­trag, das Volk Isra­el ins gelob­te Land zu füh­ren und den Auf­trag Jah­wes aus­zu­füh­ren. Dabei soll er kei­ne Angst vor den Bewoh­nern des Lan­des haben, son­dern Män­ner, Frau­en, Kin­der, Alte und Jun­ge töten, ver­nich­ten und aus­rot­ten. Nichts, was atmet, soll am Leben blei­ben (Jos 1,9: Jos 6,21 und Dtn 20,16).

Was sind die Grün­de für solch bru­ta­le und abscheu­li­che Ver­bre­chen? War­um wer­den sogar Zivi­lis­ten, dar­un­ter unschul­di­ge Kin­der und wehr­lo­se Frau­en, rück­sichts­los getö­tet? Heu­te wür­de man sol­che Taten als Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit bezeich­nen, als Ver­stoß gegen das huma­ni­tä­re Völkerrecht.

Wider­spricht das nicht der Leh­re Jesu, sei­ne Fein­de zu lie­ben statt zu has­sen und für sie zu beten, statt sie zu töten (Mt 5,44; Lk 6,27f.)? Wie ver­trägt sich der auf­fäl­li­ge Kon­trast zwi­schen dem Gebot der Fein­des­lie­be und dem Befehl zum Völ­ker­mord mit unse­rem Got­tes­bild? Bedeu­ten die­se Tex­te wirk­lich das, was wir gemein­hin damit ver­bin­den:: dass Gott der Initia­tor von Völ­ker­mord ist?

Wolff kommt auf einen inter­es­san­ten Gedan­ken, wenn er schreibt:

So manch einer wür­de die ent­spre­chen­den Sei­ten wohl ger­ne aus sei­ner Bibel säu­ber­lich her­aus­schnei­den. Das tut natür­lich kei­ner. Aber ist es nicht das Glei­che, wenn sie in der Ver­kün­di­gung in unse­ren Gemein­den ein­fach über­gan­gen wer­den?“ (S. 102)

Und es ist ja gera­de das Ziel der Autoren, dass das Alte Tes­ta­ment ver­kün­digt und ver­stan­den wird! So trifft Wolff mit die­sem „Stol­per­stein“ den Nagel auf den Kopf. Schaut man sich die anglo­ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur zu die­sem The­ma an, ist allein die Aus­wahl bereits rie­sig und unüber­schau­bar. Im deutsch­spra­chi­gen Raum hin­ge­gen ist sie Man­gel­wa­re. Zeit, dies zu ändern, dach­te sich wohl Tobi­as Wolff, als er sei­ne Abschluss­ar­beit zu die­sem The­ma einreichte.

Vorarbeiten

Wolff nähert sich dem The­ma sys­te­ma­tisch und gut struk­tu­riert. Nach einer ein­lei­ten­den Pro­blem­be­schrei­bung und der For­mu­lie­rung einer For­schungs­fra­ge gibt er eine Ein­füh­rung in den soge­nann­ten Ver­nich­tungs­krieg im und außer­halb des jüdi­schen Kon­tex­tes. Aus den Vor­ar­bei­ten kris­tal­li­sie­ren sich zwei The­men­schwer­punk­te heraus.

Zum einen stellt er das Ver­hält­nis zwi­schen dem jüdi­schen Gott Jah­we und den Krie­gen dar. Gott stellt sich im Alten Tes­ta­ment immer wie­der als gewalt­tä­ti­ger und zor­ni­ger Gott vor. Der ver­mut­lich ältes­te Hym­nus preist Jah­we für die Ver­nich­tung der ägyp­ti­schen Streit­macht. Erin­nert sei hier an den poe­ti­schen Klang aus Exodus 15,21: „Singt Jah­we, denn hoch erha­ben ist er, Pferd und Rei­ter warf er ins Meer!“

In einem wei­te­ren Sie­ges­lied wird spür­bar, dass Jah­we an Krie­gen aktiv betei­ligt ist. So fin­det man im Rich­ter­buch den Kampf­spruch: „Für Jah­we und für Gideon“ (Ri 7,18; vgl. 7,20). Auch in ande­ren Kul­tu­ren und Völ­kern scheint es selbst­ver­ständ­lich gewe­sen zu sein, dass Gott­hei­ten eine akti­ve Rol­le in Krie­gen spielten.

Dass die Gott­heit eines Vol­kes Anteil hat am Krieg und Jah­we als Krie­ger bezeich­net wird, ist im Alten Vor­de­ren Ori­ent völ­lig nor­mal.“ (S. 108)

Das hebräische Wort חרם

Zum ande­ren gibt Wolff einen kur­zen Über­blick über das hebräi­sche Wort (חרם: chrm), das in den deut­schen Bibeln bis­her meist mit “Bann” oder sel­ten mit “der Ver­nich­tung wei­hen” über­setzt wird. Die­ses Wort kommt im Alten Tes­ta­ment 29 Mal im Zusam­men­hang mit Krieg vor, davon 13 Mal im Buch Josua.

Aller­dings hat der Begriff chrm im Alten Tes­ta­ment eine ganz ande­re Bedeu­tung als das, was man im Deut­schen unter „Bann“ ver­steht. Es gibt in der deut­schen Spra­che kein pas­sen­des Äqui­va­lent für chrm. Was das Wort eigent­lich bedeu­tet, lässt sich nicht in zwei Sät­zen sagen, wenn es sich über­haupt genau bestim­men lässt.“ (S. 104)

Das hört sich defi­ni­tiv nach einem Stol­per­stein an! Offen­sicht­lich muss die­ser Begriff durch die Exege­se ein­zel­ner Tex­te wei­ter unter­sucht und erhellt wer­den. Genau das beab­sich­tigt Wolff mit sei­nem Auf­satz. Die­se Exege­sen erstre­cken sich einer­seits auf Geset­zes­tex­te aus dem Buch Deu­te­ro­no­mi­um, ande­rer­seits behan­deln sie kon­se­quen­ter­wei­se auch Peri­ko­pen, die von der Land­nah­me han­deln (Josua 6–12).

Exegetische Untersuchungen

Grund­sätz­lich war Isra­el eine fried­lie­ben­de Nati­on, die nur zur eige­nen Ver­tei­di­gung kämpf­te. Im Fal­le eines Angriffs­krie­ges wur­de zunächst eine fried­li­che poli­ti­sche Lösung gesucht. Erst wenn der König eines Vol­kes den Frie­den ablehn­te, durf­te das Volk die­se Stadt bela­gern. Es gibt jedoch auch Tex­te, in denen Gott ein sol­ches Frie­dens­an­ge­bot ver­bie­tet. Kon­kret betrifft dies sechs Völ­ker. Die­se Völ­ker haben gemein­sam, dass sie sich auf dem Ter­ri­to­ri­um des heu­ti­gen Isra­el west­lich des Jor­dans befin­den. Die Ver­nich­tung die­ser Völ­ker wird gefor­dert, was eine extre­me Maß­nah­me dar­stellt. Die Haupt­be­grün­dung dafür ist folgende:

Es ist Jah­wes Eigen­tums­volk aus sei­ner frei­en Erwäh­lung und als sol­ches ein hei­li­ges Volk. Die­se und die fol­gen­den Ver­se zie­len auf die Befol­gung vor allem des ers­ten Gebo­tes ab: Jah­we allein ist der Gott Isra­els (V. 9; Ex 20,2f.; Dtn 6,4). Dies zu gewähr­leis­ten, ist eine Begrün­dung für die Ver­nich­tung der Völ­ker, die im Deu­te­ro­no­mi­um gege­ben wird.“ (S. 121)

Zusam­men­fas­send las­sen sich bezüg­lich der Begrün­dun­gen für die Tötung und Ver­nich­tung der Völ­ker Kanaans im Deu­te­ro­no­mi­um zwei wei­te­re Aus­sa­gen treffen:

  • Die Gräu­el­ta­ten der Völ­ker sol­len für Isra­el nicht zum Vor­bild wer­den, damit sie nicht gegen das ers­te Gebot verstoßen.
  • Die Gräu­el­ta­ten der Völ­ker und ihre Gott­lo­sig­keit sind der Grund, war­um Jah­we sie aus dem Land vertreibt.

Die Art und Wei­se der Land­nah­me ist zwei­fel­los anstö­ßig. Ins­be­son­de­re die dras­ti­sche Aus­rot­tung der Völ­ker, wie sie in Josua 6,21 geschil­dert wird, bei der Män­ner, Frau­en und Kin­der getö­tet wur­den, ist mit dem christ­li­chen Got­tes­bild – auch mit den Begrün­dun­gen des Deu­te­ro­no­mi­um nur schwer in Ein­klang zu brin­gen. Offen­sicht­lich lie­fern die exege­ti­schen Unter­su­chun­gen kei­ne ver­nünf­ti­ge Ant­wor­ten auf die Fra­ge­stel­lung. Wolff kommt daher zu ver­schie­de­nen her­me­neu­ti­schen Ansät­zen, um dem Pro­blem zu begegnen.

Vier Ansätze des Verstehens

Die ers­te Vari­an­te, die­ses Pro­blem zu lösen, ist eine anti­his­to­ri­sche. Die­se in der libe­ra­len Theo­lo­gie begrün­de­te Auf­fas­sung ver­neint, dass sol­che Ereig­nis­se jemals statt­ge­fun­den haben. Das Pro­blem des zor­ni­gen Got­tes wird ent­spre­chend auf eine rein hypo­the­ti­sche Ebe­ne verlagert.

Eine ande­re Mög­lich­keit besteht dar­in, den Geno­zid aus der Per­spek­ti­ve des Kreu­zes zu betrach­ten. Die­se chris­to­zen­tri­sche Metho­de ver­sucht, fol­gen­de Fra­ge zu stel­len (und letzt­lich natür­lich auch zu beant­wor­ten): Hät­te Jesus einen Krieg und die Ver­nich­tung gan­zer Städ­te samt Kin­dern, Frau­en und alten Men­schen gebil­ligt? Die neu­tes­ta­ment­li­che Ethik rela­ti­viert in der Per­son Jesu also das alt­tes­ta­ment­li­che Bild eines mit­un­ter grau­sa­men Got­tes. Jesus ver­trat eine Ethik des Frie­dens und der Lie­be und die­ser Ansatz lenkt den Blick auf den gewalt­lo­sen Gott des Neu­en Tes­ta­ments. Pro­ble­ma­tisch wird hier jedoch die Dis­kon­ti­nui­tät zum Alten Tes­ta­ment, wes­halb Wolff die­sen Ansatz für zu schwach hält.

Der drit­te Ansatz besteht dar­in, Gott und sein Han­deln als ein Geheim­nis zu betrach­ten, das wir nicht ver­ste­hen kön­nen. Gott ist rät­sel­haft und anders. Aber auch die­ser Ansatz erklärt nicht, wie das grau­sa­me Han­deln Got­tes zu recht­fer­ti­gen ist. Man löst das Pro­blem nicht, son­dern ver­schiebt es in eine escha­to­lo­gi­sche Zukunft, in der sich alle Fra­gen klä­ren werden.

Der letz­te Ver­such, die­se Tex­te zu ver­ste­hen, nennt Wolff die Stra­te­gie der Gegen­tex­te. Die­se Sicht­wei­se ver­sucht auf­zu­zei­gen, dass es im Alten Tes­ta­ment eine Hoff­nung auf Frie­den gibt. Die pro­ble­ma­ti­schen Tex­te über den Völ­ker­mord im Auf­trag Got­tes las­sen sich mit die­sem Ansatz weder erklä­ren noch abschwä­chen. Sie kön­nen nicht gegen­ein­an­der abge­wo­gen wer­den. Aber sie tra­gen dazu bei, zu erken­nen, dass das Alte Tes­ta­ment nicht aus­schließ­lich aus gewalt­tä­ti­gen Tex­ten besteht und dass das Bild vom Alten Tes­ta­ment als gewalt­tä­tig und dem Neu­en Tes­ta­ment als lie­be­voll ein­sei­tig und nicht stim­mig ist – zumal es auch Ansät­ze eines gewalt­tä­ti­gen Got­tes­bil­des im Neu­en Tes­ta­ment gibt.

Fazit zum Thema Völkermord

Letzt­lich liegt es an uns, auch die­se Sei­te Got­tes anzu­neh­men. Wir dür­fen ihm nicht unse­ren Wil­len auf­zwin­gen. Gott stellt sich selbst als „Ich bin, der ich bin” (Ex 3,14) vor, was auch sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät und Ent­schei­dungs­frei­heit ver­deut­licht. Die radi­ka­le Ver­nich­tung der Völ­ker Kanaans durch den von Gott ver­häng­ten Bann wird uns aber wohl immer unver­ständ­lich bleiben.

Fazit zu diesem Sammelband

Die­ser Sam­mel­band ist ein her­vor­ra­gen­des Hilfs­mit­tel für alle, die sich ver­tieft mit einer Theo­lo­gie des Alten Tes­ta­ments beschäf­ti­gen wol­len, ohne die Pri­mär­li­te­ra­tur durch­fors­ten zu müs­sen. Auch dient der Sam­mel­band Pas­to­ren, Stu­den­ten und Haus­krei­sen dazu, den Gott des Alten Tes­ta­ments bes­ser ken­nen­zu­ler­nen. Die Auf­sät­ze geben einen guten Über­blick und Ein­stieg in ver­schie­de­ne The­men, die gera­de auch unter apo­lo­ge­ti­schen Gesichts­punk­ten von gro­ßer Bedeu­tung sind.

Lese­rin­nen und Leser suchen jedoch ver­geb­lich Vor­schlä­ge für wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur. Eine Art Fazit mit einem Aus­blick wäre schön gewe­sen, um inter­es­sier­te Lese­rin­nen und Leser auf geeig­ne­te Lite­ra­tur hin­zu­wei­sen. Im Lite­ra­tur­ver­zeich­nis am Ende die­ses Arti­kels fin­den Sie jedoch eini­ge Vor­schlä­ge zu den im Sam­mel­band behan­del­ten Themen.

Ansons­ten ist der Band sehr über­sicht­lich gestal­tet und hilft, das alt­tes­ta­ment­li­che Got­tes­bild neu und tie­fer zu ver­ste­hen. Der prak­ti­sche Teil lädt Geist­li­che dazu ein, sich auf eine reflek­tier­te Ver­kün­di­gung des Alten Tes­ta­ments ein­zu­las­sen. „Der Gott, der uns nicht passt” ist eine prak­ti­sche Hil­fe für Men­schen, die in der Gemein­de Ver­ant­wor­tung im Bereich der Leh­re tra­gen und kri­ti­schen Fra­gen nicht aus­wei­chen wol­len. Das Buch ist jedoch auch ein Gewinn für jeden Bibel­le­ser, der die Bibel bes­ser ver­ste­hen möchte.

Literaturverzeichnis

Bücher zum The­ma Völ­ker­mord (Geno­zid):

Gute Bibel­kom­men­ta­re zum Buch Josua auf Englisch:

Gute Bibel­kom­men­ta­re zum Buch Josua auf Deutsch:


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Joshua Ganz

Über den Autor

Joshua ist seit seinem Bachelor in Theology als Jugendpastor in der Nordostschweiz tätig. In der Schweizer Armee dient er als Armeeseelsorger. Er liebt Theologie, sein Rennrad und Kaffee. Am liebsten alles miteinander, oder zumindest nacheinander ;)

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