Fremde neue Welt: Postmoderne Identität

Fremde neue Welt: Identität in der Postmoderne

Dis­clai­mer: Arti­kel auf deutsch​.logos​.com stel­len die Mei­nung des jewei­li­gen Autors dar und spie­geln nicht grund­sätz­lich die Mei­nung der Redak­ti­on wider.

Die Fra­gen nach Iden­ti­tät, Sexua­li­tät und gesell­schaft­li­chen Nor­men prä­gen unse­re Zeit wie kaum ein ande­res The­ma. Carl R. True­man unter­sucht in sei­nem Buch, wie sich die­se Kon­zep­te his­to­risch und phi­lo­so­phie­ge­schicht­lich ent­wi­ckelt haben und wel­che Aus­wir­kun­gen sie heu­te haben. Wie genau kam es zu die­ser Trans­for­ma­ti­on?” Wie kam es bei­spiels­wei­se dazu, dass der Satz „Ich iden­ti­fi­zie­re mich als eine Frau, die in einem Män­ner­kör­per gefan­gen ist“ kein Auf­se­hen mehr erregt? Wie kommt es dazu, dass er heu­te in der brei­ten, west­li­chen Gesell­schaft eher nor­mal ist? Unse­re Urgroß­vä­ter hät­te so einen Satz stark irri­tiert. Was hat sich geän­dert? Wie ist es dazu gekom­men, dass eine tra­di­tio­nel­le Ansicht über Sexua­li­tät und Iden­ti­tät in eini­gen Län­dern geäch­tet, als dis­kri­mi­nie­rend und straf­bar behan­delt wird? Die­se und wei­te­re Fra­gen aus dem Buch “Frem­de neue Welt: Wie Phi­lo­so­phen und Akti­vis­ten Iden­ti­tät umde­fi­niert und die sexu­el­le Revo­lu­ti­on ent­facht haben” von Carl R. True­man wer­den Ihnen in den nächs­ten 17 Minu­ten die­ser Rezen­si­on genau­er dargelegt.

Ein Kom­men­tar vor­ab: Die­ses Buch behan­delt bri­san­te The­men. Für eine dif­fe­ren­zier­te und fun­dier­te Dar­stel­lung ist der Blog­bei­trag zu kurz. Ich tei­le weder voll die Mei­nung des Autors noch leh­ne ich das Gesell­schafts­bild, das er in die­sem Buch ana­ly­siert, kom­plett und kon­se­quent ab.

Wenn Sie sich also eine Mei­nung zu die­sem The­ma bil­den wol­len, lesen Sie mehr als die­sen Blog, lesen Sie sein Buch, lesen Sie ande­re Bücher zu die­sem The­ma. Wenn Sie Fra­gen haben, zögern Sie nicht, die­se in den Kom­men­ta­ren zu stellen.

Infos zum Buch

Der refor­mier­te und evan­ge­li­ka­le Kir­chen­his­to­ri­ker Carl R. True­man (Gro­ve City Col­lege) ver­fass­te im Jahr 2020 das auch auf Deutsch erhält­li­che Buch Der Sie­ges­zug des moder­nen Selbst: Kul­tu­rel­le Amne­sie, expres­si­ver Indi­vi­dua­lis­mus und der Weg zur sexu­el­len Revo­lu­ti­on. Auf­grund hoher Anfra­ge nach einem zugäng­li­che­ren Werk ließ er zuerst das Hör­buch und dann 2022 einen kür­ze­ren Band fol­gen, der in die­ser Rezen­si­on näher betrach­tet wird: Frem­de neue Welt: Wie Phi­lo­so­phen und Akti­vis­ten Iden­ti­tät umde­fi­niert und die sexu­el­le Revo­lu­ti­on ent­facht haben. (Ursprüng­lich ist das Buch als Stran­ge New World: How Thin­kers and Acti­vists Rede­fi­ned Iden­ti­ty and Spark­ed the Sexu­al Revo­lu­ti­on bei Cross­way erschie­nen). Bei­de Bücher wur­den vom Ver­bum Medi­en Ver­lag in Zusam­men­ar­beit mit dem Netz­werk Evan­ge­li­um 21 auf Deutsch veröffentlicht.

True­man meint, tief in die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te ein­tau­chen zu müs­sen, um die ein­gangs gestell­ten Fra­gen sinn­voll beant­wor­ten zu kön­nen. Mit mehr als 500 Sei­ten für sein ers­tes Werk hat er dies sicher­lich gründ­lich getan. Um sei­ne Erkennt­nis­se einem brei­te­ren Leser­kreis zugäng­lich zu machen, hat er sei­ne Gedan­ken im neu­en Buch prä­gnan­ter und weni­ger aus­führ­lich niedergeschrieben.

Wer sollte das Buch lesen?

Nach Pfar­rer Ulrich Par­za­ny soll­ten die­je­ni­gen das Buch lesen, „die die rapi­den Ver­än­de­run­gen ver­ste­hen wol­len, die sich in unse­rer Gesell­schaft gegen­wär­tig voll­zie­hen. Selbst­ver­ständ­lich sind wir Chris­ten dar­an betei­ligt und davon betrof­fen“ (S. 8). Da wir als Chris­ten der Welt zuge­wandt sein soll­ten, darf es uns nicht egal sein, was gera­de „en vogue“ ist. Nicht, dass wir die Mei­nung der brei­ten Gesell­schaft zu über­neh­men oder kom­plett zu ver­wer­fen hät­ten. Wenn wir jedoch auf unser Gegen­über ein­ge­hen wol­len, um ihnen die bes­te Bot­schaft der Welt zu über­mit­teln, soll­ten wir ver­ste­hen, wie unser Gegen­über denkt.

Genau davon han­delt die­ses Buch. Und somit soll­te jeder, der von gewis­sen poli­ti­schen Ent­schei­den über­rascht ist und der mehr über die Aus­wir­kun­gen der 68er-Bewe­gung und des­sen phi­lo­so­phi­schen Her­kunft erfah­ren will, die­ses Buch lesen. Es ist gewis­ser­ma­ßen eine Bau­an­lei­tung für das west­li­che Den­ken im 21. Jahr­hun­dert. Und die­ses fin­det nach­voll­zieh­ba­rer­wei­se außer­halb und inner­halb der Kir­chen­mau­ern statt. Nun möch­te ich Ihnen einen Kurz­über­blick des Buches vorstellen.

Überblick über den Inhalt

17. und 18. Jahrhundert (erstes und zweites Kapitel)

Das in neun Kapi­tel geglie­der­te Buch ord­net sich his­to­risch. Wäh­rend das ers­te Kapi­tel ledig­lich als Ein­lei­tung und Begriffs­de­fi­ni­tio­nen dient, beginnt beim zwei­ten Kapi­tel die Geschich­te die­ser „Sexu­el­len Revo­lu­ti­on“, wie True­man sie nennt. Über Des­car­tes, Rous­se­au und die Roman­ti­ker (1795–1848) kommt er zum Schluss, dass die kul­ti­vier­te Gesell­schaft damals schlecht war und dass man laut Rous­se­au mehr auf sei­nen Instinkt hören soll­te. Das heißt, man sol­le auf sei­ne inne­re Stim­me hören. Man soll das, was man denkt, auch aus­spre­chen. In einem gewis­sen Sin­ne geht es also um Authen­ti­zi­tät. Wer offen­bar so redet und lebt, wie es mit der Per­sön­lich­keit über­ein­stimmt, ist „echt“ und lebt „bes­ser“.

Wir ver­ste­hen nun bes­ser, war­um der Poli­ti­ker, der sich dane­ben benimmt und eine vul­gä­re Spra­che benutzt, belieb­ter ist als der höf­li­che Typ. In einer Welt, in der man so ist, wie die eige­ne Stim­me einem sagt, gilt man als authen­tisch. Der ande­re stellt nur eine öffent­li­che Per­so­na dar und han­delt pri­vat mög­li­cher­wei­se nicht so, wie er in der Öffent­lich­keit erscheint. In Bezug auf die The­men sexu­el­le Iden­ti­tät und Authen­ti­zi­tät fol­gert Tru­man ent­spre­chend: Eine trans­se­xu­el­le Per­son, die als Mann gebo­ren wur­de, aber behaup­tet, eine Frau zu sein, ist zu ver­eh­ren. Denn sie bringt die äuße­re Vor­stel­lung end­lich mit der inne­ren Rea­li­tät in Ein­klang (S. 57).

19. Jahrhundert (Drittes Kapitel)

Im drit­ten Kapi­tel unter­sucht Carl R. True­man die Ideen von Marx, Nietz­sche und Oscar Wil­de und zeigt, wie sie die heu­ti­ge Kul­tur beein­flusst haben. Phi­lo­so­phen wie Marx und Nietz­sche ver­war­fen tran­szen­den­te Moral und präg­ten eine Welt­an­schau­ung, die Sexua­li­tät und Iden­ti­tät politisierte:

  • Marx’ Ein­fluss: Er betont, dass sozia­le Bezie­hun­gen im Kern öko­no­misch sind, was dazu führt, dass alles poli­tisch wird. Dies hat zur Poli­ti­sie­rung vie­ler gesell­schaft­li­cher The­men geführt.
  • Marx und Nietz­sche: Bei­de leh­nen eine fes­te, tran­szen­den­te Moral ab. Für Marx dient Moral der Auf­recht­erhal­tung des unge­rech­ten Wirt­schafts­sys­tems, wäh­rend Nietz­sche sie als Werk­zeug der Unter­drü­ckung sieht. Bei­de betrach­ten Reli­gi­on als hin­der­lich für wah­re Freiheit.
  • Nietz­sche und Wil­de: Nietz­sche pro­pa­giert künst­le­ri­sche Selbst­er­schaf­fung, um sich von kon­ven­tio­nel­ler Moral zu befrei­en. Wil­de ver­kör­pert die­se Idee als hedo­nis­ti­scher Künst­ler, für den Ver­gnü­gen und Ästhe­tik zen­tra­le Wer­te sind.

Die Ideen die­ser Den­ker haben zu der heu­ti­gen Vor­stel­lung geführt, dass die mensch­li­che Natur kei­ne fes­te mora­li­sche Struk­tur hat. Moral ist kon­text­ab­hän­gig, und Selbst­in­sze­nie­rung, beson­ders in den sozia­len Medi­en, ist weit ver­brei­tet. Die­se Ent­wick­lun­gen sind oft von einer sexu­el­len Rebel­li­on geprägt, was zum The­ma des nächs­ten Kapi­tels überleitet.

Ausgehendes 20. Jahrhundert (Viertes bis sechstes Kapitel)

In die­sen Kapi­tel ana­ly­siert True­man die Rol­le von Sig­mund Freud in der Ent­wick­lung des moder­nen Selbst­ver­ständ­nis­ses. Freud hat das psy­cho­lo­gi­sier­te Selbst, das durch Rous­se­au und die Roman­ti­ker geprägt wur­de, mit einer sexu­el­len Dimen­si­on ver­se­hen. Für Freud ist die sexu­el­le Begier­de zen­tral für die Iden­ti­tät eines Men­schen; Sex wird nicht mehr als Hand­lung, son­dern als Daseins­zu­stand betrach­tet. Dadurch gewin­nen Begrif­fe wie „hete­ro­se­xu­ell“, „schwul“ oder „bise­xu­ell“ mehr und mehr an Bedeu­tung, unab­hän­gig von tat­säch­li­cher sexu­el­ler Erfah­rung. Somit funk­tio­niert laut True­man der alte Spruch „Lie­be den Sün­der, has­se die Sün­de“ heut­zu­ta­ge nicht mehr. Da homo­se­xu­el­le Hand­lun­gen nicht bloß Hand­lun­gen sind, son­dern zum Wesen, zur Iden­ti­tät des Akteurs gehören.

Wil­helm Reich und sei­ne Nach­fol­ger zei­gen die poli­ti­schen Kon­se­quen­zen die­ser Ent­wick­lung auf. Wenn das sexu­el­le Ver­lan­gen (und die sexu­el­le Ori­en­tie­rung) die Iden­ti­tät eines Men­schen defi­niert, wird die Art und Wei­se, wie die Gesell­schaft mit die­sem Ver­lan­gen umgeht, zu einer poli­ti­schen Fra­ge. Die Unter­drü­ckung wei­tet sich nun auch auf psy­cho­lo­gi­sche Aspek­te aus, was Aus­wir­kun­gen auf sexu­el­le Nor­men, Kin­der­er­zie­hung und gesell­schaft­li­che Ein­stel­lun­gen hat. Sobald Iden­ti­tät psy­cho­lo­gisch ver­stan­den wird, kön­nen Wor­te und Gedan­ken, die die­se Iden­ti­tä­ten angrei­fen, als schäd­lich ange­se­hen wer­den, was Aus­wir­kun­gen auf tra­di­tio­nel­le Frei­hei­ten wie Reli­gi­ons- und Rede­frei­heit hat.

Exkurs: Progressive Entwicklungen und traditionelle Auslegung

Vie­le christ­li­che Gemein­den ver­tre­ten die Ansicht, dass für eine Trau­ung jeweils ein Mann und eine Frau sich zusam­men­tun, mit der Absicht, ein Leben lang zusam­men­zu­blei­ben. Wenn nun tra­di­tio­nel­le Gemein­den durch die Bibel auf den Schluss kom­men, dass sexu­ell aus­ge­leb­te Homo­se­xua­li­tät nicht im ursprüng­li­chen Wil­len Got­tes liegt, könn­te und wird das für homo­se­xu­ell aus­le­ben­de Men­schen (ob gläu­big-reli­gi­ös oder nicht) einen Anstoß sein. Man fühlt sich dann nicht mehr als Mensch gewür­digt. So gibt es bereits in vie­len euro­päi­schen Staa­ten poli­ti­sche Wett­kämp­fe dar­um, ob die Ehe staats­recht­lich nur zwi­schen Mann und Frau oder eben auch gleich­ge­schlecht­lich defi­niert wird. Im Fal­le einer Öff­nung die­ser Geset­ze kann das star­ke Aus­wir­kun­gen auf ein­zel­ne Pfarrer/​Pastoren haben. Beson­ders dann, wenn der eige­ne Ver­band, Pfar­rei oder Kir­che nicht die­sel­be Mei­nung teilt wie man selbst. Zudem wird es zuneh­mend schwie­rig, sich auf die tra­di­tio­nel­le Sicht­wei­se zu behar­ren, da es dann schnell als “homo­phob” abge­stem­pelt wird.

Die­se Fra­gen rund um Sexua­li­tät, Iden­ti­tät und bibli­sche Leh­ren sind zwei­fel­los hei­kel und wer­fen tief­ge­hen­de mora­li­sche, gesell­schaft­li­che und theo­lo­gi­sche Fra­gen auf. Auf der einen Sei­te steht die tra­di­tio­nel­le christ­li­che Sicht­wei­se, die die Ehe als gött­li­che Ord­nung zwi­schen Mann und Frau ver­steht, und auf der ande­ren Sei­te die zuneh­mend lau­te­re und brei­te­re Akzep­tanz von gleich­ge­schlecht­li­chen Bezie­hun­gen, die auch inner­halb der Kir­che immer mehr zur Dis­kus­si­on steht. Für vie­le homo­se­xu­el­le oder que­e­re Men­schen, ins­be­son­de­re inner­halb der christ­li­chen Gemein­schaft, kann der Gegen­satz zwi­schen bibli­scher Leh­re und per­sön­li­cher Iden­ti­tät zu einem ernst­haf­ten inne­ren Kon­flikt füh­ren. Die­ser Kon­flikt ist nicht nur emo­tio­nal und spi­ri­tu­ell, son­dern hat auch gesell­schafts­po­li­ti­sche Impli­ka­tio­nen. Die Her­aus­for­de­rung für Chris­ten besteht dar­in, respekt­voll und ver­ständ­nis­voll mit­ein­an­der umzu­ge­hen, auch wenn unter­schied­li­che Über­zeu­gun­gen und Hal­tun­gen existieren.

Dabei geht es nicht nur um die Fra­ge, wie die Bibel zu Sexua­li­tät steht, son­dern auch dar­um, wie wir als Gesell­schaft und als Chris­ten ler­nen kön­nen, ein­an­der in unse­ren Unter­schied­lich­kei­ten anzu­neh­men und respekt­voll zu behan­deln. Die Debat­ten über Homo­se­xua­li­tät und Geschlecht sind weit mehr als nur theo­lo­gi­sche Streit­fra­gen – sie betref­fen das Leben vie­ler Men­schen auf sehr per­sön­li­che Wei­se und ver­lan­gen einen sen­si­blen, dif­fe­ren­zier­ten Dia­log. Es bleibt zu hof­fen, dass sol­che Gesprä­che in einer Atmo­sphä­re des Respekts, der Nächs­ten­lie­be und des Ver­ständ­nis­ses geführt wer­den, ohne vor­schnel­le Urtei­le und Stig­ma­ti­sie­rung. Das The­ma wird uns noch lan­ge beschäf­ti­gen, und es ist ent­schei­dend, dass wir in der Lage sind, sowohl die bibli­sche Wahr­heit als auch die mensch­li­che Rea­li­tät anzu­er­ken­nen und mit­ein­an­der in einen offe­nen, respekt­vol­len Dia­log zu treten.

True­man geht auf den Ein­fluss von Phi­lo­so­phen wie Freud und Nietz­sche ein, die das Selbst als psy­cho­lo­gisch und nicht mehr als mora­lisch oder reli­gi­ös ori­en­tiert betrach­te­ten. Die gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung, die zur zuneh­men­den Aner­ken­nung von Homo­se­xua­li­tät und Trans­gen­der-Rech­ten geführt hat, ist nicht nur das Resul­tat der poli­ti­schen Kämp­fe von Akti­vis­ten, son­dern auch einer tief­grei­fen­den phi­lo­so­phi­schen Umge­stal­tung. Für Trans­gen­der-Men­schen, deren Iden­ti­tät auf dem Gefühl beruht, im fal­schen Kör­per gebo­ren wor­den zu sein, ist die Trans­gen­der-Bewe­gung eine Mög­lich­keit, ihre eige­ne Iden­ti­tät zu fin­den. Chris­ten ste­hen die­ser Bewe­gung unter­schied­lich gegen­über: Wäh­rend kon­ser­va­ti­ve Chris­ten dazu ten­die­ren, die Trans­gen­der-Idee als unbi­blisch und falsch abzu­leh­nen, gibt es auch eine wach­sen­de Anzahl von Chris­ten, die sich inmit­ten die­ser Ver­än­de­rung für einen respekt­vol­len Umgang mit Trans­gen­der-Per­so­nen aus­spre­chen und gleich­zei­tig beto­nen, dass Iden­ti­tät in Chris­tus mehr zählt als das bio­lo­gi­sche Geschlecht.

Die­se Per­spek­ti­ven sind nicht nur rele­vant für eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den his­to­ri­schen und phi­lo­so­phi­schen Wur­zeln der sexu­el­len Revo­lu­ti­on, son­dern stel­len sich direkt den rea­len Fra­gen von Betrof­fe­nen. Es ist wich­tig zu erken­nen, dass unter­schied­li­che christ­li­che Grup­pen in Bezug auf Homo­se­xua­li­tät und Trans­gen­der-The­men unter­schied­li­che Mei­nun­gen ver­tre­ten, und dass die­se Fra­gen nicht nur theo­re­ti­sche Bedeu­tung haben, son­dern das täg­li­che Leben und den Umgang mit Men­schen prägen.

An die­sem Punkt könn­te man auch die Fra­ge stel­len: Was bedeu­tet es für einen homo­se­xu­el­len oder trans­gen­der Men­schen, in einer christ­li­chen Gemein­schaft zu leben, wenn die Hal­tung der Kir­che in die­ser Fra­ge nicht ein­deu­tig oder gar feind­lich ist? Das Buch bie­tet in die­ser Hin­sicht einen wert­vol­len Bei­trag, indem es zur Refle­xi­on ein­lädt – auch wenn es, wie bei vie­len theo­lo­gi­schen The­men, unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen gibt, was die Bibel in Bezug auf Sexua­li­tät und Geschlecht lehrt.

Identitätsanker

Im fünf­ten Kapi­tel erklärt True­man, war­um es zum Bruch vie­ler Tra­di­tio­nen gekom­men ist. Der Zusam­men­bruch tra­di­tio­nel­ler Iden­ti­täts­an­ker wie Reli­gi­on, Nati­on und Fami­lie habe zur Hin­wen­dung zum inne­ren Selbst geführt. Der tech­no­lo­gi­sche Fort­schritt för­dert die Vor­stel­lung, dass die Natur und die Welt form­ba­res Mate­ri­al ist, das nach Belie­ben geformt wer­den kann. Der Ver­lust einer soge­nann­ten hei­li­gen Ord­nung ver­stärkt die­sen Subjektivismus.

Die sexu­el­le Frei­heit, geför­dert durch Ver­hü­tungs­mit­tel, die Por­no­in­dus­trie und die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, wird als zen­tral für ein glück­li­ches Leben ange­se­hen. Eli­ten in Poli­tik, Bil­dung, Kul­tur und Wirt­schaft trei­ben die­se Ideo­lo­gie vor­an, ent­schlos­sen, die tra­di­tio­nel­len Wer­te hin­ter sich zu las­sen. Das expres­si­ve, sexu­el­le Selbst der moder­nen Kul­tur ist viel­leicht kei­ne zwin­gen­de Ent­wick­lung, aber all die­se Fak­to­ren machen es zu einer plau­si­blen und erklär­ba­ren Folge.

True­man erklärt, dass tra­di­tio­nel­le Iden­ti­täts­an­ker wie Nati­on, Kir­che und Fami­lie im aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­dert schwä­cher wur­den, wodurch der Kör­per als letz­te Quel­le sta­bi­ler Iden­ti­tät dien­te. Frü­her muss­te man sich nicht über sein Geschlecht ent­schei­den, da es als unver­än­der­li­che Tat­sa­che galt. Heu­te ist das Selbst jedoch voll­stän­dig form­bar, und selbst der Kör­per ist im Fluss, was zu einer fun­da­men­ta­len Unsi­cher­heit führt.

Die­se Insta­bi­li­tät hat zu einem Anstieg von Depres­sio­nen und Ängs­ten geführt, obwohl der Wohl­stand und die Sicher­heit im Wes­ten grö­ßer sind als je zuvor. Die Suche nach Iden­ti­tät und Zuge­hö­rig­keit wird in der heu­ti­gen Welt beson­ders her­aus­for­dernd. Die LGBTQ+-Bewegung bie­tet eine neue Art von Iden­ti­tät und Gemein­schaft, die den Men­schen ein Gefühl von Zuge­hö­rig­keit und Sicher­heit ver­mit­telt. Die vor­herr­schen­den Erzäh­lun­gen und gesell­schaft­li­chen Eli­ten för­dern eine Iden­ti­tät, die stark auf sexu­el­ler Ori­en­tie­rung basiert und stel­len sexu­el­le Erfül­lung als zen­tra­len Bestand­teil eines erfüll­ten Lebens dar. Die­se Nar­ra­ti­ve ver­lei­hen den Anlie­gen von mar­gi­na­li­sier­ten Grup­pen mora­li­schen Sta­tus und erschwe­ren es, sich gegen sie zu positionieren.

21. Jahrhundert (siebtes bis neuntes Kapitel)

True­man beschreibt, wie die LGBTQ+-Bewegung seit den 2000er-Jah­ren an Ein­fluss gewon­nen hat. Die Bewe­gung hat sich von einer mar­gi­na­len Grup­pe zu einer domi­nie­ren­den Kraft in der kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Land­schaft ent­wi­ckelt. Die­se Ent­wick­lung ist gekenn­zeich­net durch eine zuneh­men­de Aner­ken­nung und recht­li­che Absi­che­rung von LGBTQ+-Rechten. Ein zen­tra­ler Punkt ist die Aus­wei­tung der Defi­ni­ti­on von Geschlecht und sexu­el­ler Iden­ti­tät, die von tra­di­tio­nel­len binä­ren Vor­stel­lun­gen abweicht und zuneh­mend flui­de betrach­tet wird. True­man betont, dass die LGBTQ+-Bewegung nicht nur recht­li­che Fort­schrit­te gemacht hat, son­dern auch tief­grei­fen­de kul­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen bewirkt hat. Die The­men rund um Geschlecht und Sexua­li­tät sind nun zen­tra­ler Bestand­teil des öffent­li­chen Dis­kur­ses und beein­flus­sen Berei­che wie Bil­dung, Medi­en und Politik.

True­man unter­sucht, wie sich die LGBTQ+-Bewegung auf Frei­hei­ten wie Reli­gi­ons- und Rede­frei­heit aus­wirkt. Er sagt, dass die Aner­ken­nung von LGBTQ+-Rechten zu Kon­flik­ten mit tra­di­tio­nel­len reli­giö­sen und mora­li­schen Über­zeu­gun­gen geführt hat. Die Dis­kus­si­on um Trans-Rech­te hat dazu geführt, dass sich Befür­wor­ter und Geg­ner die­ser Rech­te immer weni­ger ver­ste­hen. True­man sagt, dass es immer schwie­ri­ger wird, in der Öffent­lich­keit zu sagen, dass man bestimm­te Aspek­te der LGBTQ+-Politik nicht gut fin­det. Man wird dann schnell als into­le­rant oder dis­kri­mi­nie­rend ange­se­hen. Die­se Ent­wick­lung hat gro­ße Aus­wir­kun­gen auf die Mei­nungs­frei­heit und die Rech­te von reli­giö­sen Gemeinschaften.

Im letz­ten Kapi­tel die­ses Buches blickt True­man in die Zukunft und spe­ku­liert über die mög­li­chen Ent­wick­lun­gen im Bereich der sexu­el­len Iden­ti­tät und der LGBTQ+-Rechte. Er warnt vor den mög­li­chen lang­fris­ti­gen Kon­se­quen­zen, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die wei­te­re Frag­men­tie­rung der Gesell­schaft und die Her­aus­for­de­run­gen für tra­di­tio­nel­le Insti­tu­tio­nen wie Fami­lie und Reli­gi­on. True­man hebt her­vor, dass die weit­rei­chen­den Ver­än­de­run­gen in der Gesell­schaft nicht nur kul­tu­rel­le, son­dern auch recht­li­che und sozia­le Fol­gen haben könn­ten. Er ist besorgt, dass die fort­schrei­ten­de Anpas­sung an neue Geschlechts­iden­ti­tä­ten und sexu­el­le Nor­men zu einem tie­fe­ren Ver­ständ­nis von Iden­ti­tät und Zuge­hö­rig­keit füh­ren könn­te, das bestehen­de gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren infra­ge stellt.

Fazit

Das Buch von Carl R. True­man, „Frem­de neue Welt: Wie Phi­lo­so­phen und Akti­vis­ten Iden­ti­tät umde­fi­niert und die sexu­el­le Revo­lu­ti­on ent­facht haben“, bie­tet einen tief­ge­hen­den und auf­schluss­rei­chen Über­blick über die Ent­wick­lun­gen, die zu unse­rer moder­nen Sicht auf Iden­ti­tät und Sexua­li­tät geführt haben. True­man gelingt es, kom­ple­xe his­to­ri­sche und phi­lo­so­phi­sche Pro­zes­se anschau­lich und ver­ständ­lich zu ver­mit­teln, was das Buch zu einer wert­vol­len Lek­tü­re für jeden macht, der die kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Ver­än­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts bes­ser ver­ste­hen möch­te. Beson­ders beein­dru­ckend ist sei­ne Fähig­keit, die Ent­wick­lung der moder­nen Iden­ti­täts­kon­zep­te zu beleuch­ten und die Ein­flüs­se gro­ßer Den­ker wie Rous­se­au, Marx und Nietz­sche aufzuzeigen.

Tru­mans Ansatz ermög­licht es den Lesern, sich mit den dar­ge­stell­ten Inhal­ten kri­tisch aus­ein­an­der­zu­set­zen und selbst zu reflek­tie­ren, wie die Welt­an­schau­un­gen des 21. Jahr­hun­derts ent­stan­den sind und wel­che Her­aus­for­de­run­gen sie mit sich brin­gen. Das Anlie­gen des Autors ist es, Wis­sen zu ver­mit­teln, das als Grund­la­ge für ein fun­dier­tes Gespräch über Iden­ti­tät, Kul­tur und Glau­be dient – unab­hän­gig davon, ob man sei­ne Per­spek­ti­ven teilt oder nicht. Auf die­se Wei­se eröff­net er einen Raum für Dia­log und Nach­den­ken, der sowohl für Chris­ten als auch für Nicht­chris­ten von gro­ßem Wert sein kann.

Die­ser Ansatz eröff­net nicht nur eine wert­vol­le Grund­la­ge für eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung, son­dern spricht auch Chris­ten an, die in ihrem Umfeld oder in ihrer eige­nen Bio­gra­fie exis­ten­zi­ell von The­men wie Homo­se­xua­li­tät oder Trans­gen­der betrof­fen sind. Unab­hän­gig davon, ob homo­se­xu­el­le oder trans­gen­der Gefüh­le aus­ge­lebt wer­den, bleibt die Fra­ge der Iden­ti­tät ein tief per­sön­li­ches The­ma, das von vie­len mit dem Glau­ben und bibli­schen Über­zeu­gun­gen ver­knüpft wird. Truem­ans Werk bie­tet die­sen Men­schen eine Ana­ly­se, die hilft, die kul­tu­rel­len und phi­lo­so­phi­schen Ein­flüs­se zu ver­ste­hen, die sol­che Iden­ti­täts­fra­gen prä­gen – unab­hän­gig davon, ob man sei­ne Per­spek­ti­ven teilt oder nicht.

Jedoch emp­fin­de ich als größ­te Schwä­che des Buches, dass die kom­ple­xen phi­lo­so­phi­schen Kon­zep­te, die die­se Ent­wick­lun­gen prä­gen, nur ober­fläch­lich behan­delt wer­den. Die detail­lier­te Aus­ein­an­der­set­zung mit den Wer­ken der gro­ßen Phi­lo­so­phen fehlt, und es wer­den nur weni­ge direk­te Zita­te ver­wen­det, was das tie­fer­ge­hen­de Ver­ständ­nis der phi­lo­so­phi­schen Grund­la­gen erschwert. Natür­lich ist die­se Aus­ein­an­der­set­zung in Tru­mans aus­führ­li­che­rem Werk kom­plett und detail­liert vor­han­den. Jedoch wer­den Leser, wel­che sich für die Kurz­fas­sung ent­schei­den, hier und dort über­for­dert werden.

Trotz die­ser nach­voll­zieh­ba­ren Lücke kann ich das Buch emp­feh­len, da es auf prä­gnan­te Wei­se die his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len Zusam­men­hän­ge dar­stellt und wich­ti­ge Denk­an­stö­ße bie­tet. Für Chris­ten, die sich mit der kul­tu­rel­len Trans­for­ma­ti­on und deren Aus­wir­kun­gen auf die Kir­che aus­ein­an­der­set­zen möch­ten, lie­fert die­ses Buch eine hilf­rei­che Ana­ly­se. Es zeigt, war­um ein tie­fes Ver­ständ­nis der heu­ti­gen Iden­ti­täts­kul­tur not­wen­dig ist, um mei­nen Nach­barn, den Leh­rer mei­ner Kin­der oder den Uni­pro­fes­sor bes­ser zu ver­ste­hen und mit ihnen in einen wert­vol­len Dia­log zu treten.

True­man hat es mei­ner Mei­nung nach geschafft, die Aus­wir­kun­gen und die Her­kunft gewis­ser phi­lo­so­phi­schen und poli­ti­schen Strö­mun­gen dif­fe­ren­ziert zu beleuch­ten und in den Kon­text der Bibel zu stel­len. Und zwar unab­hän­gig davon, zu wel­cher posi­ti­ven oder nega­ti­ven Ein­ord­nung man kommt. Truem­ans Anlie­gen ist es nicht, zu bewer­ten. Er möch­te viel­mehr ande­ren Men­schen zei­gen, wie das post­mo­der­ne 21. Jahr­hun­dert denkt.Und das ist ihm aus mei­ner Sicht gut gelungen.

Geschrieben von
Joshua Ganz

Joshua ist als Jugendpastor in der Nordostschweiz tätig. Aktuell studiert er systematische Theologie auf dem Master-Level und plant einen MTh. In der Schweizer Armee dient er als Armeeseelsorger. Er liebt Theologie, sein Rennrad und Kaffee. Am liebsten alles miteinander, oder zumindest nacheinander ;)

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2 Kommentare
  • Wie kommt es dazu, dass er heu­te völ­lig nor­mal ist? Was hat sich geändert?”

    Es ist NICHT nor­mal, son­dern es wird ver­langt die­se Din­ge als „nor­mal” zu defi­nie­ren und zu akzep­tie­ren. Abtrei­bun­gen, Schei­dun­gen und sexu­el­le Vari­an­ten außer­halb der (nor­ma­len= bibli­schen) Ehe sol­len ad absur­dum geführt wer­den und den Boden für noch wei­te­re Machen­schaf­ten ebnen.

    Dies sei modern, doch die Geschich­te zeigt es anders. Die­se Zusta­än­de gab es in Sodom id Gomor­rah eben­so, wie in ande­ren „Zivi­li­sa­tio­nen” und sie führ­ten nie in eine glor­rei­che Zukunft.

    Umso mehr ist es an uns, hier die Her­zen der Men­schen zu gewin­nen, uns zu mul­ti­pli­zie­ren und die Gemein­de mit der heil­sa­men Leh­re zu näh­ren und zu hei­len. Wir sind nicht Rich­ter, son­dern Zeu­gen der wirk­lich guten Nachricht.

    Was „nor­mal” ist, hat DER, der uns geschaf­fen hat bereits definiert.

    • Hal­lo Holger
      Ich habe ja nicht gesagt, dass du es als nor­mal anse­hen musst. Ich habe ledig­lich gezeigt, dass True­man die west­li­che Gesell­schaft so erlebt aktu­ell. Was dies dann in der Pra­xis für Ände­run­gen mit sich bringt und dass die dann aus­ser­halb des bibli­schen Spek­trums lie­gen, steht auf einem ande­ren Blatt. Aber wie du sagst, wir dür­fen die Gesell­schaft aktiv posi­tiv mit­prä­gen und unse­re Mit­men­schen lie­ben als christ­li­cher Grundauftrag.
      Gruss

Geschrieben von Joshua Ganz