Im Alten Testament gibt es viele erbauliche Texte. Es gibt aber auch Texte, die uns befremden oder sogar abstoßen. Inwieweit hat dieser „veraltete“ Teil unserer Bibel für uns heute noch einen Wert in der Gemeinde und in unserem persönlichen Alltag als Christen? Wenn überhaupt noch über Texte aus dem Alten Testament gepredigt wird – wie gehen wir mit diesen uns fremd erscheinenden Texten um? Schließlich finden wir dort manchmal Bilder eines gewalttätigen und brutalen Gottes.
Wir finden im Alten Testament einen Gott, der uns nicht passt.
Inhalt
Hinführung zum Alten Testament
Wie gehen wir mit einem solchen Gott um? Unser christlich-sozialisiertes Gottesbild passt oft nicht mit den Texten aus dem Alten Testament zusammen. Müssen wir unser Gottesbild ändern? Sollten wir gar die Texte abändern oder ihnen weniger Gewicht geben? Müssen wir eine neue Perspektive darauf gewinnen?
Jedenfalls fehlt es an Verständnis für einen guten Umgang mit dem Alten Testament. Ein großer Teil davon dürfte auf den Mangel an deutschsprachiger Literatur zu diesem Thema zurückzuführen sein. Tatsächlich findet man in Webshops, Bibliotheken oder im christlichen Buchhandel nur wenig Material und Bücher zu den schwierigen Stellen im Alten Testament. Auch ist oft kaum Grundlagenwissen über das Alte Testament vorhanden.
Der in Logos erhältliche Sammelband “Der Gott, der uns nicht passt”, der aus drei Teilen mit 11 Beiträgen besteht, will bewusst diese Lücke schließen und das Alte Testament für seine Leser zugänglicher und verständlicher machen. Ich möchte Ihnen dieses Werk im Folgenden näher bringen.
Kurzer Blick ins Buch
Teil 1: Grundsätzliche Überlegungen zum Alten Testament
Im ersten Teil dieses Bandes werden grundsätzliche Überlegungen zum Alten Testament angestellt. Welches Problem hat unsere moderne westliche Kultur mit dem Alten Testament? Wie gewann es eigentlich seine Gestalt? Wie steht es im Verhältnis zum Neuen Testament? Was hat es mit den sogenannten Apokryphen auf sich?
Teil 2: Texte aus dem AT und konkrete ethische Fragen
Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich verschiedenen Texten aus dem Alten Testament, die konkrete ethische Fragen aufwerfen. Dazu zählen beispielsweise der von Gott befohlene Völkermord, schwierige Gesetzestexte, die für unseren Alltag oft kaum verständlich sind, sowie die Geschichte einer Frau, die nach einer Gruppenvergewaltigung zerstückelt und deren sterbliche Überreste in ganz Israel verstreut wurden. Was können wir aus diesen Geschichten lernen? Können wir einem Gott vertrauen, der solche Taten begeht oder zumindest zulässt? Am Ende dieses Teils geht es auch um Gottes Zorn und die Frage, ob heute noch Rachepsalmen gebetet werden sollten.
Teil 3: Die Anwendung im Alltag
Schließlich sollte die Anwendbarkeit nicht vernachlässigt werden. Wie kann man über verschiedene Texte aus dem Alten Testament predigen? Der dritte Teil des Sammelbandes schließt daher mit einer Beispielpredigt, in deren Mittelpunkt ein verstörender Text aus dem Alten Testament steht: Auf den Fluch des Propheten Elisa hin zerreißen zwei Bärinnen 42 Kinder, weil diese den Propheten zuvor als Glatzkopf verspottet haben.
An welches Zielpublikum ist der Sammelband gerichtet?
Wenn Sie Pastor oder Dozent sind, oder auch einfach hin und wieder Bibelabende halten und in der Sonntagsschule unterrichten, kann dieses Buch sehr hilfreich sein. Es ist übrigens in einem einfachen Stil geschrieben und die hebräischen und griechischen Wörter werden transkribiert (jedoch ohne Vokalisation der hebräischen Wörter). Das macht es für den wissenschaftlichen Leser etwas schwieriger, hebräische Begriffe zu erkennen, stellt aber für den interessierten Laien keine unnötige Hürde dar.
Der Sammelband soll Ihnen als Hilfestellung dienen, um sich mit kritischen Themen auseinandersetzen zu können. Dabei geht es eben nicht um spitzfindige Fragen, die nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun haben. Vielmehr geht es um den Stellenwert und die Bedeutung des größeren Teils unserer Bibel. Dieses Buch hilft Ihnen dabei, diesen Stellenwert zu entdecken.
Wir wissen nun, an wen der Sammelband gerichtet ist. Doch woher kommt es? Wer kam auf diese gute Idee, ein Themenbuch mit verschiedenen Autoren zu den schwierigen Texten des Alten Testaments zu erarbeiten?
Die Herausgeber …
Das Buch gehört zu einer fünfteiligen Buchreihe, welche vom “Forum Theologie & Gemeinde” (FThG) herausgegeben wurde. Dieses Forum ist ein Arbeitszweig des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) Deutschland. Das Buch liegt mittlerweile in der dritten Auflage vor (2020) und wurde 2015 erstmals veröffentlicht. Der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden ist Mitglied der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF). Aktuell gehören 872 Gemeinden in Deutschland dem Bund an, die wöchentlich von rund 117.000 Menschen besucht werden.
Die meisten der sechs Autoren dieses Sammelbandes arbeiten als Pastoren und Dozenten an freikirchlichen Ausbildungsstätten mit charismatischem Hintergrund (Theologisches Seminar Erzhausen und Theologische Akademie Stuttgart). Einige der Autoren sind an ihrer Bibelschule Fachbereichsleiter des Alten Testaments.
… und ihr Ziel
Das Ziel dieses Buches kommt in einem Wunsch zum Ausdruck, den man in Bibelschulen oft hört:
„Wir wünschen den Lesern dieses Buches auch weiterhin, dass ihnen die hier vorliegenden Beiträge den Zugang zum oftmals fremd empfundenen Wesen des Alten Testaments sowie dessen Lebens- und Erlebenswelt erleichtern.“ (S. 12)
Die Autoren versuchen, das Alte Testament in überblicksartigen und gehaltvollen Beiträgen für den heutigen Leser interessant und verständlich zu machen. In Gemeinden wird über das Alte Testament kaum noch gepredigt. Vielleicht sogar zurecht. Denn der Gott, den wir darin finden, hat durchaus Seiten an sich, die für uns unangenehm sind. Er ist ein Gott, der uns nicht passt. Doch genau darum gibt es dieses Buch. Es will nicht um den heißen Brei herumreden, sondern die schwierigen Passagen des Alten Testaments beleuchten. Und diese Lampe, die uns die Autoren symbolisch in die Hand geben, wirft tatsächlich ein Licht auf manche Themen, das zumindest ich mir nicht mehr nehmen lasse.
Die Aufsätze des Buches
Dieses Ziel verfolgen die Herausgeber auf 350 Seiten. Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die wiederum in Aufsätze aufgeteilt sind. Hier ein kurzer Überblick:
Teil 1: Einführung und Grundlagen
Aufsatz 1: Das Alte Testament als Herausforderung, von Rudolf Fichtner
Der erste Aufsatz behandelt die Herausforderung des Alten Testaments grundlegend. Zudem wird bereits hier die Kontinuität vom Alten und Neuen Testament angesprochen. Passend platziert, wie ich finde. Denn viele Leserinnen und Leser schauen oft vom Neuen Testament aufs Alte.
Aufsatz 2: Vom Werden des Alten Testaments, von Mathias Nell
Der zweite Aufsatz beinhaltet die ganze Entstehung des Kanons, dessen Auswirkungen auf das Neue Testament und allgemeine, leicht verständliche Informationen zum hebräischen und griechischen Alten Testament.
Aufsatz 3: Das Verhältnis vom Alten zum Neuen Testament, von Mark Schröder
Dieser Aufsatz enthält einige Anregungen zur Bibel der ersten Christen und einen Versuch, die beiden Testamente stärker miteinander zu lesen.
Teil 2: Das Alte Testament und seine Stolpersteine
Aufsatz 4: Völkermord im Alten Testament – Auftrag eines liebenden Gottes?, von Tobias Wolff (unten mehr dazu)
Aufsatz 5: Keine Hosen für Frauen – Zur Auslegung schwieriger Gesetzestexte, von Mathias Nell
Es gibt Gesetze im Alten Testament, bei denen man sich fragen muss: Was bedeuten diese und wofür sind sie eigentlich da? Was sollte das Volk Israel mit diesen Gesetzen anfangen? Diesen Fragen geht Nell nach.
Aufsatz 6: Die Schandtat von Gibea – Eine Exegese von Richter 19, von Mathias Nell
Die Erzählung über die sogenannte „Schandtat von Gibea“ in Richter 19 stellt für Bibelausleger und Prediger noch immer eine große Herausforderung dar. Die Frage dieses Aufsatzes lautet daher, ob – und falls ja, wie – die Erzählung von Ri 19 biblisch-theologisch zu bewerten ist.
Aufsatz 7: Menschenzorn und Gottes Zorn, von Mark Schröder
Wie steht es mit dem Zorn Gottes? Wenn der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, dann muss Gott auch der Maßstab dafür sein, wie wir mit unserem Zorn umgehen. Wenn der Mensch nicht zornig sein darf, warum darf Gott es dann? Diese Fragen versucht Schröder in seinem Aufsatz zu beantworten.
Aufsatz 8: „Selig, wer deine Kindlein am Felsen zerschmettert“?, von Rudolf Fichtner
Fichtner geht in seinem Aufsatz der Frage nach, was die Klagepsalmen damals bedeuteten und wie wir sie auf heute übertragen können. Dabei stellt er Überlegungen zu Klagepsalmen mit gewalttätigem Inhalt an.
Teil 3: Das Alte Testament in der Verkündigung
Aufsatz 9: „Es war einmal“ – Literarische Gattungen im Alten Testament, von Mathias Nell
Einen guten Überblick über alle literarischen Gattungen, wie er oft auch in Einleitungen und Werken zur Theologie des Alten Testaments zu finden ist, liefert Nell in diesem Aufsatz.
Aufsatz 10: Predigthilfen zu verschiedenen Textgattungen, von Stefan Striefler
Strieflers Aufsatz ist praxisorientiert. Er teilt Kurzpredigten und die Methodik zu den verschiedenen Gattungen mit uns, wie wir sie im neunten Aufsatz bereits kennengelernt haben.
Aufsatz 11: Beispielpredigt: „Bethels Kinder“, von Reimer Dietze
Den Abschluss des Buches bildet eine transkribierte Predigt von Reimer Dietze aus dem Jahr 2014. Bei dem Predigttext handelt es sich um die Erzählung vom Propheten Elisa, der auf einer Reise 42 freche Kinder verflucht, die daraufhin von Bären gefressen werden.
Im Folgenden gönnen wir uns einen etwas tieferen Einblick in den Sammelband. Ich werde Ihnen den Aufsatz “Völkermord im Alten Testament – Auftrag eines liebenden Gottes?” etwas näher vorstellen. Weiterführende Literatur zu diesem Thema finden Sie im Literaturverzeichnis am Ende dieses Artikels.
Völkermord im Alten Testament
Der Beitrag bildet den Anfang von Teil 2 des Sammelbandes und wurde von Tobias Wolff verfasst. Der Aufsatz umfasst circa 50 Seiten (S. 101–154) und ist damit überdurchschnittlich lang. Bekanntlich ist Völkermord ein schwieriges Thema, an dem manche Gläubige, aber auch Atheisten und Agnostiker zu verzweifeln scheinen. So findet der Atheist Richard Dawkins harte Worte:
„Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten – die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur: Er ist eifersüchtig und auch noch stolz darauf; ein kleinlicher, ungerechter, nachtragender Überwachungsfanatiker; ein rachsüchtiger, blutrünstiger ethnischer Säuberer; ein frauenfeindlicher, homophober, rassistischer, Kinder und Völker mordender, ekliger, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann.” (Aus: “Der Gotteswahn”, S. 45.)
Obwohl ich Dawkins gerne ein paar Rückfragen stellen würde, die vorwiegend metaethischer und erkenntnistheoretischer Natur sind, scheint er einen wunden Punkt des Juden- und Christentums getroffen zu haben. Viele gläubige Menschen tun sich offensichtlich schwer mit dem Gott, der ihnen im Alten Testament begegnet.
Das Problem
Im sechsten Buch der Bibel erhält der junge Josua den Auftrag, das Volk Israel ins gelobte Land zu führen und den Auftrag Jahwes auszuführen. Dabei soll er keine Angst vor den Bewohnern des Landes haben, sondern Männer, Frauen, Kinder, Alte und Junge töten, vernichten und ausrotten. Nichts, was atmet, soll am Leben bleiben (Jos 1,9: Jos 6,21 und Dtn 20,16).
Was sind die Gründe für solch brutale und abscheuliche Verbrechen? Warum werden sogar Zivilisten, darunter unschuldige Kinder und wehrlose Frauen, rücksichtslos getötet? Heute würde man solche Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen, als Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.
Widerspricht das nicht der Lehre Jesu, seine Feinde zu lieben statt zu hassen und für sie zu beten, statt sie zu töten (Mt 5,44; Lk 6,27f.)? Wie verträgt sich der auffällige Kontrast zwischen dem Gebot der Feindesliebe und dem Befehl zum Völkermord mit unserem Gottesbild? Bedeuten diese Texte wirklich das, was wir gemeinhin damit verbinden:: dass Gott der Initiator von Völkermord ist?
Wolff kommt auf einen interessanten Gedanken, wenn er schreibt:
„So manch einer würde die entsprechenden Seiten wohl gerne aus seiner Bibel säuberlich herausschneiden. Das tut natürlich keiner. Aber ist es nicht das Gleiche, wenn sie in der Verkündigung in unseren Gemeinden einfach übergangen werden?“ (S. 102)
Und es ist ja gerade das Ziel der Autoren, dass das Alte Testament verkündigt und verstanden wird! So trifft Wolff mit diesem „Stolperstein“ den Nagel auf den Kopf. Schaut man sich die angloamerikanische Literatur zu diesem Thema an, ist allein die Auswahl bereits riesig und unüberschaubar. Im deutschsprachigen Raum hingegen ist sie Mangelware. Zeit, dies zu ändern, dachte sich wohl Tobias Wolff, als er seine Abschlussarbeit zu diesem Thema einreichte.
Vorarbeiten
Wolff nähert sich dem Thema systematisch und gut strukturiert. Nach einer einleitenden Problembeschreibung und der Formulierung einer Forschungsfrage gibt er eine Einführung in den sogenannten Vernichtungskrieg im und außerhalb des jüdischen Kontextes. Aus den Vorarbeiten kristallisieren sich zwei Themenschwerpunkte heraus.
Zum einen stellt er das Verhältnis zwischen dem jüdischen Gott Jahwe und den Kriegen dar. Gott stellt sich im Alten Testament immer wieder als gewalttätiger und zorniger Gott vor. Der vermutlich älteste Hymnus preist Jahwe für die Vernichtung der ägyptischen Streitmacht. Erinnert sei hier an den poetischen Klang aus Exodus 15,21: „Singt Jahwe, denn hoch erhaben ist er, Pferd und Reiter warf er ins Meer!“
In einem weiteren Siegeslied wird spürbar, dass Jahwe an Kriegen aktiv beteiligt ist. So findet man im Richterbuch den Kampfspruch: „Für Jahwe und für Gideon“ (Ri 7,18; vgl. 7,20). Auch in anderen Kulturen und Völkern scheint es selbstverständlich gewesen zu sein, dass Gottheiten eine aktive Rolle in Kriegen spielten.
„Dass die Gottheit eines Volkes Anteil hat am Krieg und Jahwe als Krieger bezeichnet wird, ist im Alten Vorderen Orient völlig normal.“ (S. 108)
Das hebräische Wort חרם
Zum anderen gibt Wolff einen kurzen Überblick über das hebräische Wort (חרם: chrm), das in den deutschen Bibeln bisher meist mit “Bann” oder selten mit “der Vernichtung weihen” übersetzt wird. Dieses Wort kommt im Alten Testament 29 Mal im Zusammenhang mit Krieg vor, davon 13 Mal im Buch Josua.
„Allerdings hat der Begriff chrm im Alten Testament eine ganz andere Bedeutung als das, was man im Deutschen unter „Bann“ versteht. Es gibt in der deutschen Sprache kein passendes Äquivalent für chrm. Was das Wort eigentlich bedeutet, lässt sich nicht in zwei Sätzen sagen, wenn es sich überhaupt genau bestimmen lässt.“ (S. 104)
Das hört sich definitiv nach einem Stolperstein an! Offensichtlich muss dieser Begriff durch die Exegese einzelner Texte weiter untersucht und erhellt werden. Genau das beabsichtigt Wolff mit seinem Aufsatz. Diese Exegesen erstrecken sich einerseits auf Gesetzestexte aus dem Buch Deuteronomium, andererseits behandeln sie konsequenterweise auch Perikopen, die von der Landnahme handeln (Josua 6–12).
Exegetische Untersuchungen
Grundsätzlich war Israel eine friedliebende Nation, die nur zur eigenen Verteidigung kämpfte. Im Falle eines Angriffskrieges wurde zunächst eine friedliche politische Lösung gesucht. Erst wenn der König eines Volkes den Frieden ablehnte, durfte das Volk diese Stadt belagern. Es gibt jedoch auch Texte, in denen Gott ein solches Friedensangebot verbietet. Konkret betrifft dies sechs Völker. Diese Völker haben gemeinsam, dass sie sich auf dem Territorium des heutigen Israel westlich des Jordans befinden. Die Vernichtung dieser Völker wird gefordert, was eine extreme Maßnahme darstellt. Die Hauptbegründung dafür ist folgende:
„Es ist Jahwes Eigentumsvolk aus seiner freien Erwählung und als solches ein heiliges Volk. Diese und die folgenden Verse zielen auf die Befolgung vor allem des ersten Gebotes ab: Jahwe allein ist der Gott Israels (V. 9; Ex 20,2f.; Dtn 6,4). Dies zu gewährleisten, ist eine Begründung für die Vernichtung der Völker, die im Deuteronomium gegeben wird.“ (S. 121)
Zusammenfassend lassen sich bezüglich der Begründungen für die Tötung und Vernichtung der Völker Kanaans im Deuteronomium zwei weitere Aussagen treffen:
- Die Gräueltaten der Völker sollen für Israel nicht zum Vorbild werden, damit sie nicht gegen das erste Gebot verstoßen.
- Die Gräueltaten der Völker und ihre Gottlosigkeit sind der Grund, warum Jahwe sie aus dem Land vertreibt.
Die Art und Weise der Landnahme ist zweifellos anstößig. Insbesondere die drastische Ausrottung der Völker, wie sie in Josua 6,21 geschildert wird, bei der Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, ist mit dem christlichen Gottesbild – auch mit den Begründungen des Deuteronomium nur schwer in Einklang zu bringen. Offensichtlich liefern die exegetischen Untersuchungen keine vernünftige Antworten auf die Fragestellung. Wolff kommt daher zu verschiedenen hermeneutischen Ansätzen, um dem Problem zu begegnen.
Vier Ansätze des Verstehens
Die erste Variante, dieses Problem zu lösen, ist eine antihistorische. Diese in der liberalen Theologie begründete Auffassung verneint, dass solche Ereignisse jemals stattgefunden haben. Das Problem des zornigen Gottes wird entsprechend auf eine rein hypothetische Ebene verlagert.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Genozid aus der Perspektive des Kreuzes zu betrachten. Diese christozentrische Methode versucht, folgende Frage zu stellen (und letztlich natürlich auch zu beantworten): Hätte Jesus einen Krieg und die Vernichtung ganzer Städte samt Kindern, Frauen und alten Menschen gebilligt? Die neutestamentliche Ethik relativiert in der Person Jesu also das alttestamentliche Bild eines mitunter grausamen Gottes. Jesus vertrat eine Ethik des Friedens und der Liebe und dieser Ansatz lenkt den Blick auf den gewaltlosen Gott des Neuen Testaments. Problematisch wird hier jedoch die Diskontinuität zum Alten Testament, weshalb Wolff diesen Ansatz für zu schwach hält.
Der dritte Ansatz besteht darin, Gott und sein Handeln als ein Geheimnis zu betrachten, das wir nicht verstehen können. Gott ist rätselhaft und anders. Aber auch dieser Ansatz erklärt nicht, wie das grausame Handeln Gottes zu rechtfertigen ist. Man löst das Problem nicht, sondern verschiebt es in eine eschatologische Zukunft, in der sich alle Fragen klären werden.
Der letzte Versuch, diese Texte zu verstehen, nennt Wolff die Strategie der Gegentexte. Diese Sichtweise versucht aufzuzeigen, dass es im Alten Testament eine Hoffnung auf Frieden gibt. Die problematischen Texte über den Völkermord im Auftrag Gottes lassen sich mit diesem Ansatz weder erklären noch abschwächen. Sie können nicht gegeneinander abgewogen werden. Aber sie tragen dazu bei, zu erkennen, dass das Alte Testament nicht ausschließlich aus gewalttätigen Texten besteht und dass das Bild vom Alten Testament als gewalttätig und dem Neuen Testament als liebevoll einseitig und nicht stimmig ist – zumal es auch Ansätze eines gewalttätigen Gottesbildes im Neuen Testament gibt.
Fazit zum Thema Völkermord
Letztlich liegt es an uns, auch diese Seite Gottes anzunehmen. Wir dürfen ihm nicht unseren Willen aufzwingen. Gott stellt sich selbst als „Ich bin, der ich bin” (Ex 3,14) vor, was auch seine Souveränität und Entscheidungsfreiheit verdeutlicht. Die radikale Vernichtung der Völker Kanaans durch den von Gott verhängten Bann wird uns aber wohl immer unverständlich bleiben.
Fazit zu diesem Sammelband
Dieser Sammelband ist ein hervorragendes Hilfsmittel für alle, die sich vertieft mit einer Theologie des Alten Testaments beschäftigen wollen, ohne die Primärliteratur durchforsten zu müssen. Auch dient der Sammelband Pastoren, Studenten und Hauskreisen dazu, den Gott des Alten Testaments besser kennenzulernen. Die Aufsätze geben einen guten Überblick und Einstieg in verschiedene Themen, die gerade auch unter apologetischen Gesichtspunkten von großer Bedeutung sind.
Leserinnen und Leser suchen jedoch vergeblich Vorschläge für weiterführende Literatur. Eine Art Fazit mit einem Ausblick wäre schön gewesen, um interessierte Leserinnen und Leser auf geeignete Literatur hinzuweisen. Im Literaturverzeichnis am Ende dieses Artikels finden Sie jedoch einige Vorschläge zu den im Sammelband behandelten Themen.
Ansonsten ist der Band sehr übersichtlich gestaltet und hilft, das alttestamentliche Gottesbild neu und tiefer zu verstehen. Der praktische Teil lädt Geistliche dazu ein, sich auf eine reflektierte Verkündigung des Alten Testaments einzulassen. „Der Gott, der uns nicht passt” ist eine praktische Hilfe für Menschen, die in der Gemeinde Verantwortung im Bereich der Lehre tragen und kritischen Fragen nicht ausweichen wollen. Das Buch ist jedoch auch ein Gewinn für jeden Bibelleser, der die Bibel besser verstehen möchte.
Literaturverzeichnis
- Der Gott, der uns nicht passt: Beiträge zum Verstehen des Alten Testaments. Von Fichtner, R., Nell, M., Wolff, T., Schröder, M., Striefler, S., & Dietze, R. (2020)
- Die ganze Reihe von Forum Theologie & Gemeinde (inklusive Exegese-Handbuch von Gordon Fee)
Bücher zum Thema Völkermord (Genozid):
- Show them no mercy. (Four Views on Genocide – Counterpoint Series) Von C. S. Cowles, Eugene H. Merrill, Daniel L. Gard, Tremper Longman Ill und Stanley N. Gundry
- Did God Really Command Genocide? Coming to Terms with the Justice of God Von Paul Copan
- Is God a Moral Monster?: Making Sense of the Old Testament God Von Paul Copan
- The Crucifixion of the Warrior God, vols. 1–2, Von Gregory A. Boyd
Gute Bibelkommentare zum Buch Josua auf Englisch:
- The Book of Joshua (The New International Commentary on the Old Testament | NICOT), Von Marten H. Woudstra
- Joshua: Evangelical Biblical Theology Commentary (EBTC) Von David G. Firth
- Joshua (The New American Commentary | NAC) Von David M. Howard Jr.
Gute Bibelkommentare zum Buch Josua auf Deutsch: