Weihnachten bedeutet: Gott kommt uns nahe! Er kommt auf die Welt, wird Mensch. Einer von uns. Er verzichtet lieber auf alles, was ihm an Größe und Macht zusteht, als dass er fern von uns bleibt.
Vor einigen Jahren hat sich Michael Herbst in einer Weihnachtspredigt mit dem Thema „Nähe und Ferne“auseinandergesetzt. Diese finden Sie auch im Michael Herbst-Predigtarchiv (2002–2020) und können sie im folgenden Artikel ungekürzt nachlesen – einschließlich des dazugehörigen Theaterstücks und der passenden Liedauswahl. Lassen Sie sich inspirieren! Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen!
Bibeltext zum Nachlesen: Lk 2,1–20
Begrüßungsmoderation: „Der Gastwirt“
Herzlich willkommen hier in meinem Gasthaus! Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause, lehnen Sie sich zurück und genießen Sie den Abend. Sie können der Band lauschen oder kräftig mitsingen, dafür gibt es auf Ihren Plätzen Liedblätter. Im unteren Stockwerk wird Kinderbetreuung angeboten, sodass auch Sie als Eltern sich so richtig entspannen können.
Wissen Sie, in meinem Gasthaus kommen die unterschiedlichsten Leute zusammen, da meint man schon einiges gewohnt zu sein. Aber vor einigen Jahren, da gab es hier eine ganz besondere Nacht… (räuspert sich) naja also jetzt auch nicht so besonders, sagen wir ungewöhnlich – ja genau eben nicht gewöhnlich. Naja dazu kommen wir später. Bitte hören und sehen sie selbst.
Theater (1. Szene): Joseph
Grundeinstellung: Er ist „Gott-nah“ aufgewachsen, er glaubt was seine Eltern und viele Generationen davor auch schon geglaubt haben. Im Laufe der Szene hinterfragt er diesen Glauben, bewegt sich von der Bühne weg. Er zweifelt an seiner Verlobten und was sie ihm über Gott erzählt. Zögernd bahnt er sich wieder seinen Weg zur Bühne – bleibt aber vorerst außerhalb des Stalls stehen.
„Ich bin seit einiger Zeit mit einer tollen Frau verlobt, sie ist schön, sie ist klug, sie ist sehr liebevoll und … naja ich dachte bisher auch sehr treu. Aber dann kommt sie mit dieser Geschichte um die Ecke! Sie sei schwanger, aber das kann doch gar nicht sein! Wissen Sie, wir haben noch nicht… also das gehört sich nicht vor der Ehe und wir haben uns streng daran gehalten – wie kann sie auf einmal schwanger sein und mir dann eine Geschichte von einem Engel auftischen, der ihr erzählt habe sie sei schwanger von Gott!!!
- Pause – Das passt alles nicht zu ihr – die Maria, die ich kenne und die ich liebe, diese Maria ist treu, die ist ehrlich, die ist wahrhaftig und die erzählt schon gar keine Lügen über unseren Gott! Unser Gott, an den bereits meine Väter und ihre Väter und deren Väter geglaubt haben und treu für ihn gelebt haben. Aber diese Geschichte passt auch nicht zu diesem Gott, von dem mir meine Eltern erzählt haben! Schwanger vom Geist Gottes… ein Engel überbringt die Botschaft… das ist viel zu klein, viel zu eng, ja viel zu nahbar für den herrlichen, vollkommenden, allmächtigen und großen Gott, über den ich unterrichtet wurde…Und was ist, wenn Gott anders ist als ich dachte? … Anders als ich es beigebracht bekommen habe…? Was ist, wenn Gott tatsächlich so nahbar ist, wie Maria sagt?
Theater (2. Szene): Lied der Maria „Be born in me“
Grundeinstellung: Sie ist hin und her gerissen zwischen Glaube und Zweifel. Dieses nahe unfassbare Erlebnis der Gottes Nähe bringt sie zum Staunen und versetzt sie in Ehrfurcht, aber die Auswirkungen, die Zweifel ihrer Familie und ihres Verlobten lassen sie zweifeln, vielleicht sogar verzweifeln. Letztlich hält sie jedoch an Gott fest und auch Joseph nähert sich ihr wieder. Sie geht während des Liedes auf der Bühne und vor dem Stall auf und ab, zum Ende des Liedes bleibt sie dicht vor Joseph stehen. Dieser nimmt sie nach einem Augenblick in den Arm und sie gehen gemeinsam in den Stall.
Text: Maria spricht nicht, sie singt ausschließlich die Übersetzung von „Be born in me“.
Infos zum Theaterstück: Maria und Joseph sind auf der Reise, haben nur noch einen Stall als Unterkunft für die Nacht gefunden – die Nacht, in der Maria ihren Sohn zur Welt bringt.
Du wirst ein Kind
Strophe 1: Alles in mir sucht nach Halt und Ordnung. Alles in mir will am liebsten fort. Ist der Schatten dort ein Krieger oder Engel? Wenn Go mir gnädig ist, woher kommt dann meine Angst? Bitte lass das alles nur ein Traum sein oder gib mir eine neue Sicht. Und noch bevor mein Kopf versteht, weiß mein Herz dass es geht. Heiliger Gott! So segnest du mich!
Chorus: Und wirst ein Kind! Du wirst mein Kind! Unglaublich, doch es ist wirklich wahr: Hast mich erwählt! Deswegen trag ich dich am Anfang. Und du trägst mich bis zum Schluss. Und mein ganzes Leben lang halt ich dich in meinem Herzen. Du wirst mein Kind.
Strophe 2: Diesen Tag erwarten wir seit langem. Wer wusste, dass du mich dafür gebrauchst? Wolltest du das alles wirklich ganz genau so? Damit wir sehn, wie deine Liebe ist.
Chorus: s.o.
Bridge: Ich hab kaum Mut. Hatte ihn nie. Ein offnes Herz ist das Einzige, was ich bieten kann. Bin eine Frau. Nicht viel mehr. Ich bin bereit. Ich bin Dein.
Chorus: s.o.
M: Francesca Battistelli | T: Andreas Scheuermann
Inhalt
Verkündigung (1. Teil): Die Geschichte dieser Nacht
Heute Abend habe ich eine schöne Aufgabe, liebe Gäste bei GreifBar. Ich darf Ihnen die Geschichte erzählen, die Geschichte von jener heiligen Nacht, die Geschichte, die wir hier gerade auf der Bühne sehen konnten. Die Geschichte von diesem Paar: Maria heißt sie, Josef er, einfache Leute, nichts Besonderes.
Sie hatten sich auf eine Reise gemacht. Nicht ganz freiwillig. Sie lebten zu einer Zeit, als der römische Kaiser der mächtigste Mann auf Erden war. Und dieser mächtigste Mann auf Erden befahl und alle gehorchten. Er befahl eine Art Volkszählung. Eine Art Volkszählung, denn wahrscheinlich ging es eher um Erfassung der Steuerzahler als um Statistik und Demografie. Das Verfahren war ein bisschen umständlich. Augustus – so hieß dieser römische Kaiser – wollte, dass sich jeder registrieren, also in die Steuerliste eintragen ließe, aber in der Stadt oder in dem Dorf, in dem er geboren worden war. Ich weiß nicht, ob das den Tourismus ankurbeln sollte; jedenfalls löste es eine gewaltige Reisewelle aus. Man stelle sich das Chaos vor, auch ohne Deutsche Bahn und kaputte Autobahnen. Jedenfalls war es nicht einfach, noch ein Quartier zu finden.
So ging es auch unserem Pärchen. Auch Maria und Josef waren unterwegs: Aus Nazareth im Norden des Landes kamen sie, Bethlehem im Süden war ihr Ziel. Und auch dort war man touristisch völlig überfordert. Es gab kein einziges freies Bett mehr. Josef und Maria klopften an alle Türen – ohne Erfolg. Am Ende hatten sie Glück, ein Wirt hatte zwar kein freies Zimmer, aber etwas Mitgefühl. Ein bisschen. Er ließ sie beim Vieh im Stall übernachten.
Eins muss man noch wissen: Maria war schwanger. Und da wird diese alltägliche Geschichte kleiner Leute geheimnisvoll. Es ist nämlich für Josef schwer zu schlucken, was seine Braut ihm da erzählt. Ein Kind erwartet sie? Schwanger ist sie? O.k., irgendwann ist es nicht zu übersehen. Aber er weiß sofort: Ich war das nicht!
Maria aber erzählt etwas Merkwürdiges, etwas, das Josef nicht wirklich fassen kann. Dieses Kind, das sie unter dem Herzen trägt, kommt von Gott. Dieses Kind, das sie unter dem Herzen trägt, ist der, nach dem sich die Menschen so lange schon sehnen: ein Retter und Helfer, einer, der fertig wird mit dem Dunklen und Bösen. Mit dem Dunklen und Bösen in uns und um uns herum. Dieses Kind trägt darum große Namen: Immanuel, das heißt: Gott bei uns. Und Jesus, jüdisch Jeschua, das heißt: Der Herr hilft, der Herr rettet.
Diese Geschichte ist großes Kino. Eigentliches eine alltägliche Story von kleinen Leuten in schweren Zeiten. Wir hätten nie davon gehört. Sie wäre längst vergessen. Wenn nicht! Wenn nicht ein Zauber über dieser Geschichte läge. Darum ist sie großes Kino.
Und darum bin ich so dankbar, dass ich diese Geschichte hier und heute erzählen darf. Eine Geschichte, die überall auf der Welt in diesen Tagen wieder und wieder erzählt und vorgelesen wird. Auch ich habe sie schon so oft erzählt. Ich habe sie meinen Kindern erzählt und werde sie meinen Enkeln vorlesen. Ich habe sie Jungen und Alten in der Kirche erzählt.
Einmal habe ich sie an einem sehr stillen Abend in einer Kinderklinik erzählt. Es war so still an diesem Abend, weil nur noch die Kinder in der Klinik waren, die beim besten Willen über Weihnachten nicht nach Hause durften. Zu ihnen bin ich noch einmal gegangen am Heiligen Abend, in die stille Klinik. Und ich dachte: Hier gehört sie hin. Die Geschichte von der großen Liebe, die in einem kleinen Kind zur Welt kommt, die Geschichte von einem Retter, den Gott aus dem Himmel auf die Erde sendet, und nicht nur auf die Erde, sondern an die Orte, an denen es dunkel ist, arm, stinkend, wehmütig, einsam, ängstlich, vielleicht sterbenskrank. Da muss es erzählt werden. Da sollen kleine Leute, bei denen es finster ist, ein helles Licht sehen. Denn Gott hat eine Mission: Wo es schwer ist, da muss er hin. Wo arme kleine Leute sind, da will er da sein. Ihr seid nicht allein: Immanuel – Gott ist bei euch. Ihr seid nicht verloren: Jesus, Jeschuah, der Herr kommt als Helfer und Retter in eure kleine Welt.
Aber wir sind noch gar nicht am Ende. Noch sind gar nicht alle auf der Bühne erschienen, die damals dabei waren. Da ist noch einiges zu erzählen. So viel darf ich verraten: Vornehmes Volk wird auch jetzt nicht erscheinen. Wer wird wohl kommen, um das Kind zu begrüßen und den Eltern Glück zu wünschen? Wer wird als erster diesem Baby in die Augen schauen und spüren: Das ist alles andere als irgendein Kind, hier passiert mehr als wir je zu hoffen wagten? Wer wird es sein? Könige? Reiche Gutsherren? Die wissenschaftliche Élite? Fromme Priester? Oder geht das etwa so weiter mit den kleinen Leuten in einer großen Geschichte? Aber schauen Sie selbst …
Theater (3. Szene): Die Hirten
Grundeinstellung: Die drei Hirten sind einfache, lustige und nahbare Gesellen. Sie sind Gott fern, zweifeln vielleicht nicht an seiner Existenz, glauben aber auch nicht, dass sie als einfache Hirten viel von ihm zu erwarten haben. Dennoch wagen sie es mutig und nur mehr oder weniger entschlossen, der Einladung der Engel zu folgen.
H1: Leute! (lautes Pfeifen) Das glaubt ihr nicht! Ich habe Engel gesehen!
H2: Stimmt – glaub ich nicht.
H3: Du spinnst ja.
H2: Na das ist ja nichts Neues.
H1: Aber sie waren da! Ganz viele, und sie haben gesungen und sahen echt krass aus! Und sie hatten eine Botschaft für uns!
H2: Für uns?
H3: Und die Botschaft lautet: Trinke den Kräuterlikör nicht ohne deine Kollegen aus?
H1: Jetzt hört mir doch mal zu! Ich meine es ernst! Und getrunken habe ich übrigens nichts, hier die Flasche ist noch voll! (drückt ihm die Schnapsflasche in die Hand)
H2: Tatsächlich!
H1: Also die Botschaft lautet wie folgt: Wir brauchen keine Angst haben. Es gibt einen großen Grund zu jubeln und das ganze Volk wird mit Freude erfüllt werden. Heute Nacht ist Gott selbst in einem Kind auf die Welt gekommen um uns zu retten. Was sagt ihr jetzt?
H2: Immer noch, dass du spinnst.
H3: Das ist so abgefahren, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.
H1: Leute, ich bin auch völlig baff, aber wir müssen dahin! Wenn da auch nur ein Fünkchen Wahrheit dran ist, will ich das sehen! – kurze Stille –
H2: Hm. Angenommen, du hast Recht… Warum sollten dann ausgerechnet WIR eingeladen werden, um Gott auf der Erde zu begrüßen? Ich meine, sollten nicht eher die religiösen Hampel da sein? Wir sind – falls du es vergessen hast – HIRTEN! Wir sind nicht die, die ständig beten oder die heilige Schrift lesen!
H3: Ich kann nicht mal lesen.
H2: Warum sollten WIR eingeladen werden? Wir – die wir Gott noch nie etwas gegeben haben und auch jetzt nichts zu geben haben.
H1: Ich weiß es auch nicht … Aber etwas in mir sagt, dass wir nichts zu verlieren haben, wenn wir uns einfach mal auf den Weg machen. Ich weiß auch nicht, vielleicht ist Gott ja auch ganz anders, als wir immer dachten…
H2 & H3 gucken sich an, zucken schließlich mit den Schultern.
H2: Hat er dir denn auch gesagt wo?
H1: Folgt mir.
Sie machen sie auf den Weg.
Lied zum Mitsingen: Kommet ihr Hirten Theater (4. Szene):
Der Gastwirt
Grundeinstellung: Der Gastwirt ist Gott total fern und bleibt das auch, er kann einfach nicht glauben, was sich direkt vor seinen Augen abzuspielen scheint – und er will es auch nicht. Dennoch ist er hin- und hergerissen zwischen seinem entschlossenen Nichtzweifel und der Neugier, was da denn wirklich los ist (vielleicht Anknüpfung für unsere Gäste, schließlich sind sie auch hier in dieser Veranstaltung – aus Neugier? Auch wenn sie schon sicher sind, dass der christliche Glaube nichts für sie ist). In dem Gastwirt wird Sehnsucht geweckt, der er aber nicht nachgeht, er bleibt mit seiner Laterne außerhalb des Stalles stehen, dem er sich vorher nur wenig und zurückhaltend genähert hat.
„Das ist doch wirklich eine sehr seltsame Nacht. Mein Gasthaus ist bis auf den letzten Winkel ausgebucht, alles voll – und dann kommt dieses junge Paar, sie hoch schwanger und schon mit Wehen – naja da wollte ich sie auch nicht gänzlich abweisen, also habe ich ihnen den Stall angeboten. Immerhin ein Dach über dem Kopf und zwischen Ochs und Esel ist es auch schön warm. Das in unserem einfachen Stall mal ein Kind geboren wird, das hätte ich auch nicht gedacht! (lacht).
Aber irgendwie also ich weiß auch nicht, irgendwas ist seltsam an dieser Nacht… Es ist fast als ob Frieden und Wärme aus dem Stall strömen würde – aber das ist natürlich völliger Quatsch! Frieden aus einem stinkenden Stall! (lacht künstlich) Und dann kamen auch noch Hirten zu Besuch, die sind da immer noch drin! Vielleicht ist der Vater ja auch Hirte, hm aber so sah er eigentlich gar nicht aus – mehr nach einem Handwerker – niemand der bei Wind und Wetter draußen steht.
Was machen die Hirten da bloß? Und was um alles in der Welt mache ich hier eigentlich? Säusle von Frieden und Wärme und das in dieser kalten Nacht, wo ich ins Gasthaus zurückkehren und mich um die Gäste kümmern sollte! Was wäre, wenn ich auch anklopfe? Ich könnte mich vergewissern, dass alles ganz normal ist – und meine Glückwünsche ausrichten. (nähert sich dem Stall bis auf seine Standbild-Position) Ach so ein Quatsch – ich gehe da nicht rein, da ist nichts mit Frieden und Wärme, ich glaube schließlich nicht an irgendwas Übernatürliches!
Verkündigung (2. Teil): „Seien Sie mutiger als der Gastwirt!“
Zwei Gedanken möchte ich mit Ihnen teilen, nur zwei kurze Gedanken zu dieser großen alten Geschichte. Es geht um das Geheimnis von Weihnachten. Es geht zwei Mal um Nähe und Ferne, aber auf unterschiedliche Weise.
Gott kommt nah
Nähe und Ferne. Wir kennen das aus unserem eigenen Leben. Ferne zu Menschen, die wir lieben, tut weh. Nähe tut gut. Wenn wir fern sind, sehnen wir uns nach Nähe. Wenn wir nah sind, spüren wir die Verbindung.
Natürlich gibt es auch das: Zuviel Nähe, die anstrengend wird, die dankbare Erleichterung, wenn der andere auch wieder abreist. Aber irgendwann stellt es sich wieder ein, das nagende Sehnen nach Nähe.
Und dann tun wir viel, um nah zu sein. Wir stürzen uns in den Weihnachtsverkehr, wir setzen uns in überfüllte und überhitzte Züge. Wir warten auf zugigen Bahnhöfen. Wir zittern, ob Bahn und Gewerkschaft sich noch einigen. Oder streiken und unsere Reise vereiteln. Wir fahren weite Strecken. Wir tun es, weil wir nah sein wollen, nah bei denen, die wir lieben.
Manchmal nehmen Menschen noch mehr auf sich, um da zu sein, wo ihre Liebe sie hinzieht. Sie nehmen große Strapazen auf sich, sie verzichten auf vieles Angenehme, die opfern ein großes Stück ihres Lebens, nur um nah zu sein, nah bei denen, die es brauchen.
Ich hörte vor einiger Zeit von einer jungen Meeresbiologin, die nach dem Studium keine angenehme akademische Karriere wählte, sondern auf eine entlegene Insel im indonesischen Archipel ging, um dort gegen die Verschmutzung des Meeres mit Plastikmüll zu kämpfen. Auf dieser Insel gab es keine Müllabfuhr. Die Menschen entluden ihren Müll einfach im Meer. Die junge Wissenschaftlerin ertrug den Gedanken nicht, wie Mensch und Natur leiden, sie zog auf die Insel, ließ hier alles zurück, führte dort ein Leben unter schwierigen Bedingungen, weil sie nicht nur mit Büchern, sondern mit dem Leben etwas bewirken wollte für das, was sie liebte.
Noch drastischer ist die Geschichte der jüdischen Sozialistin Simone Weil aus Frankreich, die zum Glauben an Jesus gefunden hatte. Sie kämpfte in der Résistance gegen die Nazis, saß eine Weile im Gefängnis, konnte dann mit ihren Eltern ins Exil nach Amerika fliehen. Aber sie ertrug es nicht, fern zu sein von ihrem leidenden Volk. Sie wollte unbedingt zurück nach Frankreich. Koste es was es wolle. Sie gewöhnte sich an, nicht mehr zu essen, als die verfolgten Juden in der Heimat wohl zu essen hätten. Sie versuchte alles, um wieder in die Heimat zu kommen, wollte sogar mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen. Sie kam nur bis nach England. Dort starb sie, nur 34 Jahre alt, am Hunger und an der Tuberkulose. Simone de Beauvoir sagte über sie: „Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“
Beide Geschichten zeigen etwas von der Liebe, die keine Ferne erträgt und um jeden Preis die Nähe sucht. Und das, genau das ist das Geheimnis dieses Babys, das in einem stinkenden, kalten, dreckigen Stall liegt. Dieses Baby brüllt die Botschaft in die Welt hinaus: Gott im Himmel erträgt es nicht, uns nicht nah zu sein. Gott im Himmel verzichtet lieber auf alles, was ihm an Größe und Macht zusteht, als dass er fern von uns bleibt.
Manche Religionen sagen: Gott ist überall. Gott ist in allen Dingen und Wesen. Jesus ist göttlich? Klar, wir alle sind göttlich! Alles ist von Gott erfüllt. Andere Religionen sagen: Gott ist unendlich erhaben. Gott ist im Himmel, und wir sind auf Erden. Der Abstand ist unendlich. Gott bei uns? Undenkbar! Weihnachten sagt: Gott im Himmel, der Schöpfer, Herr und Richter, der so ganz anders ist, kommt zu uns. Der von ganz oben kommt nach ganz unten. Was Simone Weil im Kleinen war, ist Gott im Großen und Unendlichen: ein Herz, das imstande ist, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Mehr noch: ein Herz, das imstande ist, für jeden noch so unbedeutenden Erdenbürger zu schlagen – für Sie und für mich. Jeden einzelnen.
Sie können sich das auch so vorstellen: Nehmen Sie alles, was man sich nur wünschen könnte: unendliche Freude, die Macht, alles Gute zu bewirken, Freiheit, totaler Frieden. Nehmen Sie alles weg, was man nur zu gerne los wäre: Schmerz, Konflikt, Leid, Einschränkung, Tod. Wo Gott zu Hause ist, da ist alles da, was wir uns nur wünschen können. Wo Gott herkommt, da ist alles überwunden, was wir nur zu gerne los wären. Und jetzt denken Sie an jemanden, der alles hat, was wir uns nur wünschen könnten, und der frei von allem ist, was wir nur zu gerne los wären. Und dieser jemand sagt: Ich verzichte jetzt auf dieses wunderbare Dasein, mit allem, was ich habe, frei von allem, was schwer und schlimm ist. Ich verzichte darauf, wenn ich nur die Nähe derer gewinne, die ich liebe, für die ich da sein will. Dieser Jemand ist Jesus. Dieser Jemand verzichtet auf alles, weil er auf uns, weil er auf Sie und mich nicht verzichten kann. Jesus will nah sein, nicht fern.
Wenn das aber so ist, dann ist in diesem Stall für uns geballte Liebe. Dann ist da ein starker Wille uns beizustehen. Dann ist da Gnade mit uns. Dann sagt eine Stimme: Hier bist du willkommen. Hier brauchst du nicht erst ein besserer Mensch zu werden. Hier ist Hilfe und Beistand für dein armes Dasein. In diesem Stall ist geballte Liebe. Gott ganz nah. Gott ganz klein, so dass wir uns nicht fürchten müssen. Im Kleinen aber ganz Gott, so dass wir auf Hilfe, auf Gnade, auf Zuwendung hoffen dürfen. Wenn das so ist, dann birgt dieser Stall das größte Geheimnis auf Erden. Wenn das so ist, dann ist Weihnachten zu Recht das größte Fest, das wir feiern können. Dann können wir gar nicht genug staunen, uns berühren lassen, auf die Knie fallen und betrachten. Wie aber finden wir heraus, ob es so ist?
Wie Menschen mit Gottes Nähe umgehen…
Dazu gibt es einen zweiten Gedanken. Nähe und Ferne. Das sind die Menschen in unserer Geschichte. Ich weiß nicht, wen Sie am interessantesten finden oder am sympathischsten. Man hat ja so seine Lieblingsfiguren in jeder Geschichte. Das sind die Figuren, mit denen wir uns am leichtesten identifizieren. Wer ist das wohl in dieser Geschichte? Der schweigsame, aber loyale Joseph, das Muster eines pommerschen Mannes: nicht viel reden, aber das Richtige tun? Auf alten Bildern sieht man, wie Joseph seine Hosen auszieht und der Maria reicht, damit sie das Kind wickeln und wärmen kann. Oder die mutige Maria, die junge Frau, ein halbes Mädchen noch, das mit ihrer überraschenden Schwangerschaft klarkommen muss und sich so zur Verfügung stellt für dieses wundersame Kind? Oder die Hirten, diese einfachen Leute, die gewiss nicht fürchterlich fromm waren, aber sich dem Zauber dieser Nacht einfach nicht entziehen konnten? Oder der Gastwirt, der so stocknüchtern und religiös unmusikalisch ist, der draußen vor der Tür steht, ein bisschen schwankend, noch unentschlossen, was er von all dem nun halten soll? Mit wem können Sie sich identifizieren, in wem finden Sie sich an diesem Weihnachtsfest 2018 wieder?
Keine der Gestalten in dieser Geschichte bleibt unberührt, kalt, neutral. Das war nicht möglich in der Nähe dieses Stalls. Wenn wir in die Nähe dieses Geheimnisses kommen, dass Gott nah kommt, für uns, nicht gegen uns, für uns, um zu retten, beizustehen, zu lieben, zu heilen, zu helfen, dann können wir nicht kalt oder nur neutral bleiben. Aber wie werden wir uns verhalten? Wie Joseph und Maria, deren Leben fortan um dieses Baby kreisen wird, wie die Hirten, in deren einfaches Leben plötzlich ein Glanz kommt, oder wie der Gastwirt, der irgendwie irritiert wirkt, der nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, aber nicht den Schritt über die Schwelle wagt?
Der Gastwirt hat es mir angetan. Er hat so viel von den Menschen in dieser Gegend. Auch er ist nicht sehr redselig. Er hat keine fromme Biographie. Das Glauben ist ihm eher fremd. Er ist ein nüchterner Mensch, der irgendwie klar kommen will. Er ist kein ausgesprochener Gutmensch, aber wenn er Not sieht, hat er ein Herz und tut, was möglich ist, und wenn es sein Viehstall für ein schwangeres Paar auf Durchreise ist. Und jetzt steht er da, hört Dinge, die er vielleicht so noch nie zu hören bekam. Von Gott. Gibt es Gott? Woher sollte ich das wissen? Von Gottes Nähe. Von Gottes Sehnsucht nach uns. Von Gottes Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit. Von einem Kind, von Gott, der im wahrsten Sinn des Wortes zur Welt kommt. Und es zieht ihn – rein und raus. Rein, denn was wäre denn, wenn es stimmte, was wäre, wenn all das Reden von Liebe und Gnade wahr wären? Gott! Heimat, aus der wir kommen. Hilfe, die uns trägt. Zielhafen unseres Daseins! Aber zugleich zieht es ihn – raus, denn er ist ein nüchterner, ein skeptischer Mensch. So steht er vor der Tür, nicht drinnen beim Kind, aber in der Nähe der Tür. Ist das der Ort, an dem Sie stehen? In der Nähe der Tür? Heute Abend?
Dann ist das meine Bitte: Stellen Sie sich das innerlich vor. Gott, der es nicht ertrug, fern zu sein, der lieber alles aufgab, nur um zur Welt zu kommen. Und Sie selbst, nur ein paar Schritte vom größten Geheimnis der Welt entfernt. Wie wäre es, einen Schritt näher zu treten? Das Geheimnis zu betrachten. Zu unseren Weihnachtstraditionen gehören die Krippen. Auf dem Weihnachtsmarkt, in vielen Häusern, auf Bildern im Museum, in Büchern. Immer diese Szene, mit diesen Menschen und in der Mitte dem Kind, einem Neugeborenen, das ein seltsames Licht umgibt, leuchtend und warm. Und dann nehmen Sie diesen Gedanken mit: Gott kommt, weil er liebt. Was würde es bedeuten, wenn ich das wüsste, annehmen könnte: Mich auch. Für mich auch. In meiner Nähe. Leidenschaftliche Zuneigung zu mir. Wer auch immer ich bin. Wie wäre es, sich ein wenig zu öffnen?
Gott, der nicht fern ist, kann man ansprechen. Gott, der nah kam, kann um Hilfe gebeten werden. Gott, der uns findet, kann man aufsuchen. Vielleicht in den Weihnachtsgottesdiensten. Und dann stehen wir an jener Krippe, wie Generationen vor uns, wie Menschen auf der ganzen Welt heute. Und dort werden wir froh. Es wäre ein einziger Schritt für unseren Gastwirt. Ein Schritt in die Nähe dessen, der nah kam. Es wäre ein einziger Schritt für uns. Ein kleines erstes Gebet: Jesus, geheimnisvolles Kind in einer Krippe, lass mich verstehen und empfinden, was damals die Menschen im Stall erlebten: Gottes Nähe und Liebe und das eigene Leben im Licht, von Gottes Nähe und Liebe umfangen, getragen, erfüllt mit Liebe und Hoffnung.
Amen.
Band: Ich steh an deiner Krippe hier
Schlussmoderation: Gastwirt
Meine lieben Gäste ich hoffe Sie haben den Abend meinem Gasthaus bisher genießen können. Und ich denke Sie konnten sich selbst ein Bild über diese denkwürdige Nacht machen, die sich hier vor einigen Jahren ereignete. Aber zu so einem Abend wie heute darf natürlich ein gutes Essen nicht fehlen! Lassen Sie uns noch kräftig ein gemeinsames Lied singen und dann sind Sie alle herzlich eingeladen – heute geht alles aufs Haus.
Hat Ihnen die Predigt gefallen? Weitere Predigten von Michael Herbst finden Sie in unserem Weihnachtspaket 2024. Dieses können Sie entweder für sich selbst erwerben oder an eine andere Person verschenken.
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest!