Adolf Schlatter: Sein Leben und seine Theologie (1/​4)

Von Johannes Traichel

Schlatter
August 21, 2023

Adolf Schlat­ter – das Schwei­zer Taschen­mes­ser der Theo­lo­gie. Pro­fes­sor für Neu­es Tes­ta­ment und Sys­te­ma­ti­sche Theo­lo­gie und Autor zahl­rei­cher exege­ti­scher Wer­ke. Doch wie wur­de Schlat­ter zu dem, der er war? Wel­che Sta­tio­nen präg­ten das Leben und die Theo­lo­gie die­ses bekann­ten Den­kers? Was kön­nen wir heu­te von ihm lernen? 

Lese­zeit: ca. 8 Minuten

Adolf Schlatter: Produktiver Denker und theologischer Riese

Der Schwei­zer Theo­lo­ge Adolf Schlat­ter ist einer der größ­ten Theo­lo­gen seit der Refor­ma­ti­on und gilt gleich­zei­tig als einer der theo­lo­gi­schen Rie­sen, die viel zu wenig beach­tet wer­den. Er wur­de vor allem für sei­ne exege­ti­sche Arbeit bekannt, war aber auch eine Kory­phäe in der Sys­te­ma­ti­schen Theo­lo­gie. Zudem unter­rich­te­te Schlat­ter Juda­is­tik und Phi­lo­so­phie. Er galt als aus­ge­wie­se­ner Jose­phus-Ken­ner und Exper­te in der Geschich­te des anti­ken Judentums.

Nam­haf­te Theo­lo­gen haben bei Schlat­ter stu­diert. Wenig bekannt ist, dass auch Rudolf Bult­mann sei­ne Vor­le­sun­gen besuch­te, als Schlat­ter in Tübin­gen lehr­te. Sel­bi­ges trifft auch auf Karl Barth zu, wel­cher aber von den Vor­le­sun­gen gar nicht begeis­tert war und die­se vor allem auf Wunsch sei­nes Vaters besuch­te. Auch Diet­rich Bon­hoef­fer und Paul Schnei­der, die bei­de vom Ver­bre­cher­re­gime der Natio­nal­so­zia­lis­ten ermor­det wur­den, wur­den von Adolf Schlat­ters Theo­lo­gie geprägt. Eben­so zähl­te der Dog­ma­ti­ker Paul Alt­haus zu Schlat­ters Studenten.

Adolf Schlatter als theologischer Autor

Adolf Schlat­ter ver­fass­te ins­ge­samt über 400 Schrif­ten. Zu sei­nen bekann­ten wis­sen­schaft­li­chen Wer­ken gehö­ren sei­ne exege­ti­schen Kom­men­ta­re zum Neu­en Tes­ta­ment, sei­ne all­ge­mein­ver­ständ­li­chen Erläu­te­run­gen zum Neu­en Tes­ta­ment für die Gemein­de und sei­ne Mono­gra­phie “Der Glau­be im Neu­en Tes­ta­ment” . Zudem hat Schlat­ter zahl­rei­che Arti­kel für das Cal­wer Bibel­le­xi­kon geschrie­ben . Eine gro­ße Reich­wei­te und Wir­kungs­ge­schich­te hat­te auch Schlat­ters Auf­satz “Athe­is­ti­sche Metho­den in der Theologie”. 

Zu sei­nen Haupt­wer­ken zäh­len sei­ne Neu­tes­ta­ment­li­che Theo­lo­gie (Band 1: Die Geschich­te des Chris­tus; Band 2: Die Theo­lo­gie der Apos­tel), “Das christ­li­che Dog­ma” und auch sei­ne Ethik. Neben ande­ren ver­die­nen beson­ders die­se vier Wer­ke ein gründ­li­ches Stu­di­um und haben auch heu­te noch Rele­vanz. Schlat­ters Wer­ke und sei­ne theo­lo­gi­schen Ver­diens­te noch wei­ter in den Hin­ter­grund zu ver­drän­gen, wäre ein gro­ßer Ver­lust für die Theologie. 

Sei­ne Bewun­de­rer (dar­un­ter auch ich) betrach­ten Schlat­ter als theo­lo­gi­sches Genie, als einen theo­lo­gi­schen Rie­sen, der umfas­send theo­lo­gisch gebil­det war und prä­gend leh­ren konn­te. Sei­nen Geg­nern war er jedoch deut­lich zu fromm und wur­de von ihnen als Bibli­zist bezeich­net. Angeb­lich kann­te Adolf Schlat­ter das gesam­te grie­chi­sche Neue Tes­ta­ment aus­wen­dig. Ob dies nun zutrifft oder nicht, Schlat­ter war in den bibli­schen Schrif­ten zuhau­se, einer der gro­ßen Exper­ten in der Exege­se und von wich­ti­ger und weg­wei­sen­der Bedeu­tung in der Dogmatik.

Kindheit, Jugend und Studium

Geistliche Einheit trotz konfessioneller Unterschiede

Adolf Schlat­ter wur­de am 16. August 1852 in einer von der Erwe­ckungs­be­we­gung gepräg­ten Fami­lie in der Schweiz gebo­ren. Sei­ne Groß­mutter, Anna Schlat­ter, war eine tief­gläu­bi­ge und in from­men Krei­sen bes­tens ver­netz­te Frau, die inten­si­ve geist­li­che Kon­tak­te über jeg­li­che kon­fes­sio­nel­le Gren­zen hin­weg pfleg­te. Unter ande­rem hielt sie Kon­takt zu Ver­tre­tern der katho­lisch-bay­ri­schen Erwe­ckungs­be­we­gung, dem katho­li­schen Pries­ter in St. Gal­len und dem bekann­ten evan­ge­li­schen Theo­lo­gen Fried­rich Schleiermacher. 

Die theo­lo­gi­sche Wei­te, die Adolf Schlat­ter bereits an sei­ner Groß­mutter beob­ach­ten konn­te, leb­ten ihm auch sei­ne Eltern vor. Hek­tor Ste­phan Schlat­ter, Adolfs Vater, war Mit­glied einer bap­tis­ti­schen Frei­kir­che, sei­ne Mut­ter Wil­hel­mi­ne blieb hin­ge­gen der refor­mier­ten Lan­des­kir­che treu. Die bei­den zeig­ten ihren Kin­dern in der Ehe und der Fami­lie auf prak­ti­sche Art und Wei­se, dass eine Ein­heit im Glau­ben trotz vie­ler kon­fes­sio­nel­ler Unter­schie­de und im Rin­gen um theo­lo­gi­sche Wahr­hei­ten mög­lich ist. Die­ser Gedan­ke soll­te Schlat­ter auch spä­ter in sei­nem theo­lo­gi­schen Dienst wei­ter prägen.

Im Jahr 1871 war Adolf Schlat­ter 19 Jah­re alt und absol­vier­te sein Abitur mit Best­no­ten. In der Schul­zeit lern­te Schlat­ter bereits die bibli­schen Spra­chen Hebrä­isch und Grie­chisch. Nach sei­nem Abschluss über­leg­te Adolf Schlat­ter, ob er über­haupt Theo­lo­gie stu­die­ren soll­te. Er befürch­te­te, dass sein Glau­be durch die libe­ra­le Theo­lo­gie erschüt­tert wer­den könn­te, die an Uni­ver­si­tä­ten gelehrt wur­de. Ein Gespräch mit sei­ner Schwes­ter ermu­tig­te Schlat­ter schluss­end­lich jedoch dazu, das Stu­di­um zu wagen. 

Adolf Schlatter als Student

Schlat­ter begann sein Theo­lo­gie­stu­di­um in Basel. Hier besuch­te er auch die Vor­le­sun­gen des Phi­lo­so­phen Fried­rich Nietz­sche und hör­te des­sen Vor­le­sun­gen über Pla­tons Dia­lo­ge. Von der Art der Vor­le­sung und von Nietz­sches mensch­li­che Art war er aller­dings ent­täuscht. Er emp­fand, dass die­ser einen ver­let­zen­den Über­mut an den Tag leg­te und sei­ne Stu­den­ten als ver­ach­tens­wer­ten Pöbel betrachtete.

Adolf Schlat­ter erleb­te wäh­rend sei­nes Stu­di­ums auch eine Glau­bens­kri­se. Er berich­te­te sei­ner Fami­lie in der Weih­nachts­zeit 1871 davon. Dies war wohl die tiefs­te Glau­bens­kri­se in sei­nem Leben. Mög­li­cher­wei­se wur­de sie durch die inten­si­ve Lek­tü­re von Spi­no­za aus­ge­löst und ging in eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Athe­is­mus über. Schlat­ter über­wand die­se Kri­se jedoch.

Theologische Vorbilder und Entwicklung eigener Standpunkte

Im Jahr 1873 wech­sel­te Schlat­ter nach Tübin­gen. Hier stu­dier­te er bei dem bekann­ten „posi­ti­ven“ Theo­lo­gen Johann Tobi­as Beck. Beck war ein prä­gen­der Theo­lo­gie­pro­fes­sor in Tübin­gen. Der Pie­tist galt als Bibli­zist, da er sich vor allem um die geschichts­lo­se Repro­duk­ti­on der Schrift­wahr­heit bemüh­te. Beck wur­de spä­ter von Ger­hard Mai­er als “Vater der pneu­ma­ti­schen Exege­se” bezeich­net. Er war ein Ver­tre­ter einer eher vor­kri­ti­schen Bibel­aus­le­gung. Für Beck war die Wie­der­ge­burt des Aus­le­gers eine ent­schei­den­de Notwendigkeit. 

Vie­les konn­te Schlat­ter von Beck zwar ler­nen, aber er ent­wi­ckel­te auch einen eige­nen Ansatz. Schlat­ters Schwer­punkt lag viel mehr auf der his­to­ri­schen Dimen­si­on der Exege­se. Bei Beck erkann­te Schlat­ter eine gewis­se Abson­de­rung der Bibel von der Geschich­te. Er lern­te neu, dass die Bibel die ver­läss­li­che Grund­la­ge für die Kir­che und ihre dog­ma­ti­sche Arbeit ist. Gleich­zei­tig kam Schlat­ter zu der Über­zeu­gung, dass der Viel­stim­mig­keit der Bibel eine Ganz­heit und Ein­heit zugrun­de liegt, die über­zeu­gend auf­ge­zeigt wer­den kann. 

Ins­ge­samt kann am Ende mit Fug und Recht die The­se ver­tre­ten wer­den, dass Beck für Schlat­ter wäh­rend sei­nes Stu­di­ums zu einer prä­gen­den Figur wur­de und sei­ne Theo­lo­gie maß­geb­lich beein­fluss­te. Schlat­ter schrieb spä­ter, dass Beck ihn und die ande­ren Stu­die­ren­den zur Rei­ni­gung und Pfle­ge des ‘reli­giö­sen Ver­hal­tens’ ange­lei­tet habe. 

Adolf Schlatter als junger Pfarrer (1877–1880)

Schlat­ter trat nach sei­nem Stu­di­um, dem Vika­ri­at und einem Dia­ko­nat im Jahr 1877 eine Pfarr­stel­le in Kess­wil an. Er lieb­te sei­ne Arbeit als Pfar­rer und der Dienst berei­te­te ihm viel Freu­de. Sein spä­te­rer Wech­sel in die aka­de­mi­sche Welt war für ihn kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich oder vorgezeichnet.

Wäh­rend sei­ner Zeit im Gemein­de­dienst lern­te Schlat­ter auch sei­ne spä­te­re Frau Susan­na (Sus­et­te) ken­nen und lie­ben. Sie hei­ra­te­ten am 15. Janu­ar 1887. Nach sie­ben kin­der­lo­sen Jah­ren bekam das Ehe­paar noch fünf Kinder. 

Im Janu­ar 1880 erreich­te Schlat­ter eine Anfra­ge von pie­tis­ti­schen Krei­sen in Bern. Sie woll­ten einen „posi­ti­ven“ Theo­lo­gen für die dor­ti­ge Fakul­tät gewin­nen, da die­se haupt­säch­lich von der libe­ra­len Theo­lo­gie domi­niert wur­de. Nach inne­rem Rin­gen und per­sön­li­cher Prü­fung ent­schloss sich Schlat­ter, den ihm ange­tra­ge­nen Weg zu gehen.

Adolf Schlatter in Bern (1880–1888)

Der Beginn der aka­de­mi­schen Kar­rie­re Adolf Schlat­ters ver­lief äußerst her­aus­for­dernd. Schlat­ter stieß auf­grund sei­ner pie­tis­ti­schen Prä­gung an der Uni­ver­si­tät in Bern nicht auf Wohl­wol­len. Der Grund war, dass der Uni­ver­si­tät der Wunsch der pie­tis­ti­schen Krei­sen bekannt war. Trotz eini­ger Stei­ne, die Schlat­ter im Zuge sei­ner Habi­li­ta­ti­on in den Weg gelegt wur­den, schaff­te er inner­halb des Jah­res 1880 sowohl sei­ne Pro­mo­ti­on als auch sei­ne Habi­li­ta­ti­on. So konn­te er bereits im Janu­ar 1881 sei­ne Lehr­tä­tig­keit als Pri­vat­do­zent beginnen. 

Nach­dem Schlat­ter 1885 sein Werk „Der Glau­be im Neu­en Tes­ta­ment“ ver­öf­fent­licht hat­te, erhielt er eini­ge Anfra­gen von ver­schie­de­nen Uni­ver­si­tä­ten. Im Jahr 1888 nahm Schlat­ter einen Ruf nach Greifs­wald an. 

Adolf Schlatter in Greifswald (1888–1893)

Als Pro­fes­sor in Greifs­wald erleb­te Adolf Schlat­ter eine sehr posi­ti­ve Zeit. Er arbei­te­te inten­siv mit dem luthe­ri­schen Dog­ma­ti­ker Her­mann Cremer zusam­men. Die bei­den Pro­fes­so­ren ver­band eine deut­li­che Ableh­nung der Theo­lo­gie Albrecht Rit­schls. In Greifs­wald war Schlat­ter Pro­fes­sor für Neu­es Tes­ta­ment, hielt aber auch Vor­le­sun­gen im Bereich der Dog­ma­tik. Es wur­de schnell sicht­bar, dass er sowohl ein begna­de­ter Exeget als auch ein her­vor­ra­gen­der Sys­te­ma­ti­ker war.

In sei­ner Zeit in Greifs­wald ver­fass­te Schlat­ter u. a. sei­ne Ein­lei­tung zur Bibel, die gera­de in from­men und pie­tis­ti­schen Krei­sen auch auf Wider­stand stieß. Schlat­ter ver­trat für den Pen­ta­teuch die Quel­len­schei­dung, schätz­te tra­di­tio­nel­le Ansät­ze bei den Pro­phe­ten nicht als über­zeu­gend ein und schrieb den 2. Petrus­brief einem unbe­kann­ten Ver­fas­ser zu. Auch setz­te sich Schlat­ter in Greifs­wald inten­siv mit der jüdi­schen Geschich­te aus­ein­an­der und bereis­te das hei­li­ge Land.

In sei­ner Greifs­wal­der Zeit war die­se Uni­ver­si­tät ein Magnet für Stu­den­ten aus dem In- und Aus­land. Schlat­ter zog bereits damals Stu­den­ten an.

Adolf Schlatter in Berlin (1893–1898)

Eine politische Entscheidung

Adolf Schlat­ter wur­de im Zusam­men­hang mit dem soge­nann­ten “Apos­to­li­kums­streit” nach Ber­lin beru­fen. Auf­grund der als schwie­rig ein­ge­schätz­ten Hal­tung Adolf von Har­nacks zum Apos­to­li­schen Glau­bens­be­kennt­nis wur­de ein soge­nann­ter „posi­ti­ver“ Theo­lo­ge gefor­dert. Schlat­ter schrieb selbst fol­gen­des zu die­sem Thema:

Die Ereig­nis­se, die mich von Greifs­wald lös­ten, began­nen damit, daß der König von Preu­ßen im Jahr 1892 anord­ne­te, daß an der theo­lo­gi­schen Fakul­tät von Ber­lin ein neu­er Lehr­stuhl errich­tet wer­de, der der von der Kir­che ver­tre­te­nen Theo­lo­gie zu die­nen habe. Den Anlaß dazu gab Har­nack dadurch, daß er Stu­die­ren­den den Wunsch aus­sprach, daß die apos­to­li­sche Bekennt­nis­for­mel aus dem kirch­li­chen Gebrauch ent­fernt werde.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 159–160). 

Trotz des geschlos­se­nen Wider­stan­des der Fakul­tät soll­te dies nun in die Tat umge­setzt wer­den. Schlat­ter hat­te eine Beru­fung nach Ber­lin zunächst strikt abge­lehnt. Sei­ne Stel­lung und Situa­ti­on in Greifs­wald war gut und es gab für ihn kei­nen Grund, die­se auf­zu­ge­ben. Erst nach lan­gem Drän­gen des preu­ßi­schen Kul­tus­mi­nis­ters Alt­hoff ließ Schlat­ter sich schluss­end­lich über­re­den. Zuvor hat­te Alt­hoff bereits erfolg­los ver­sucht, sowohl Mar­tin Käh­ler als auch Her­mann Cra­mer nach Ber­lin zu holen. Schlat­ter schrieb selbst: 

Mein Über­tritt nach Ber­lin war somit nur das Resul­tat der preu­ßi­schen Beam­ten­dis­zi­plin, die eine durch einen könig­li­chen Befehl ent­stan­de­ne Staats­not­wen­dig­keit ehrt und ihr mit den erreich­ba­ren Mit­teln gehorcht. Ich sah kei­ne Mög­lich­keit mehr, eine zweck­mä­ßi­ge Beru­fung her­bei­zu­füh­ren. Das Motiv, das mei­nen Ent­schluß trug, war dünn und schmerz­haft; aber es hat­te im Gefü­ge des preu­ßi­schen Staa­tes einen unan­fecht­ba­ren Grund.” 

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 163). 

Adolf Schlatter und Adolf von Harnack

Adolf Schlat­ter und Adolf von Har­nack waren theo­lo­gi­sche Gegen­sät­ze schlecht­hin. Har­nack war ein füh­ren­der Ver­tre­ter der libe­ra­len Theo­lo­gie, Schlat­ter hin­ge­gen – aus heu­ti­ger Sicht – theo­lo­gisch kon­ser­va­tiv und von einer großen Nähe zum Pie­tis­mus geprägt. Den­noch pfleg­ten die bei­den einen aus­ge­spro­chen freund­schaft­li­chen und guten Umgang mit­ein­an­der. Sie scheu­ten sach­lich fun­dier­te Dis­kus­sio­nen nicht und hiel­ten einen deut­li­chen Dis­sens durch­aus aus. So soll Har­nack vor Kol­le­gen gesagt haben, dass ihn von Schlat­ter nur die Wun­der­fra­ge tren­ne, wor­auf Schlat­ter tem­pe­ra­ment­voll ant­wor­te­te: „Nein, die Gottesfrage!“

Als Schlat­ter Ber­lin ver­ließ, um sei­nen neu­en Lehr­stuhl in Tübin­gen anzu­neh­men, bedau­er­te Har­nack dies, da er Schlat­ter und die Gesprä­che mit ihm als frucht­bar emp­fand. Dage­gen erleb­te Schlat­ter die Zusam­men­ar­beit mit den ande­ren Kol­le­gen als nicht son­der­lich gewinnbringend. 

Im Rück­blick auf sei­ne Lebens­ar­beit schrieb er:

Das Bild, das die Bezie­hun­gen zu den Ber­li­ner Kol­le­gen dar­bot, ergab dazu oft einen star­ken Kon­trast. Kaf­tan erklär­te mir gele­gent­lich: ‘Zwi­schen uns steht fest, dass alles, was der eine sagt, dem ande­ren als Unsinn erschei­nen muss.’ Die­se Absa­ge der Arbeits­ge­mein­schaft ent­sprach nicht mei­nem Stand­punkt, wenn ich mir auch leicht ver­deut­li­chen konn­te, daß sie sich aus dem Herr­schafts­an­spruch der Ritschl’schen Theo­lo­gie fol­ge­rich­tig ergab.”

(Schlat­ter, Rück­blick auf mei­ne Lebens­ar­beit, S. 181).

Adolf Schlatter und die theologischen Gräben seiner Zeit

Die Kir­che zur Zeit Adolf Schlat­ters hat­te mit grund­le­gen­den theo­lo­gi­schen Fra­gen zu kämp­fen. Der Streit an den theo­lo­gi­schen Fakul­tä­ten im Zusam­men­hang mit der Aus­bil­dung der Pfar­rer ent­zün­de­te sich vor allem an der Stel­lung der libe­ra­len Theo­lo­gie, die oft ein Über­ge­wicht hat­te. Im Jahr 1895 ver­fass­te Schlat­ter eine Erklä­rung, die sich eine ein­be­ru­fe­ne lan­des­kirch­li­che Ver­samm­lung zu eigen mach­te. Es wur­de eine bes­se­re Ver­tre­tung von „posi­ti­ven“ Theo­lo­gen gewünscht, was in der Fakul­tät für gro­ße Empö­rung sorg­te. Schlat­ter distan­zier­te sich aber trotz des Drucks nicht von der Erklärung. 

Am 21. Mai 1895 schrieb er viel­mehr an sei­nen Freund Her­mann Cremer:

Für mich stellt sich die Wahl sehr scharf so: Got­tes gläu­bi­ge Gemein­de oder die Kol­le­gen, und so wie sich die Wahl stellt, ist sie auch ent­schie­den… „Glau­be ist mehr als Wis­sen und Kir­che mehr als Fakultät.“

Was können wir heute von Adolf Schlatter lernen?

Adolf Schlat­ter setz­te sich als Kind sei­ner Zeit auf ver­schie­de­nen Ebe­nen inten­siv mit sehr gegen­sätz­li­chen Glau­bens­po­si­tio­nen, nament­lich mit der libe­ra­len und der kon­ser­va­ti­ven Theo­lo­gie aus­ein­an­der. Bereits in sei­nem Eltern­haus lern­te er, dass es mög­lich ist, ver­schie­de­ne Ansich­ten neben­ein­an­der aus­zu­hal­ten, mit­ein­an­der im Gespräch zu blei­ben und gleich­zei­tig doch eine fun­dier­te Posi­ti­on zu bezie­hen. Das setz­te sich auch in sei­ner spä­te­ren aka­de­mi­schen Lauf­bahn fort, in der er wei­ter mit die­sen Fra­gen rang. 

Für Adolf Schlat­ter stand nicht die Zuge­hö­rig­keit zu einer Kon­fes­si­on oder eine bestimm­te Theo­lo­gie im Zen­trum des christ­li­chen Glau­bens, son­dern Jesus Chris­tus als Per­son. Das ist das gro­ße Ver­mächt­nis Adolf Schlat­ters auch an uns: Jesus Chris­tus ist die Mit­te unse­res Glau­bens! Über vie­les ande­re kann man diskutieren…

Zum Nach- und Weiterdenken

Was den­ken Sie dazu? Wel­che Posi­tio­nen sind Ihnen im Glau­ben beson­ders wich­tig? Wie blei­ben Sie im Gespräch mit Men­schen, deren Glau­bens­an­sich­ten Ihnen eher fremd sind? 

Hin­ter­las­sen Sie ger­ne einen Kom­men­tar! Wir freu­en uns auf eine ange­reg­te Diskussion!

Im 2.Teil der Arti­kel­rei­he erhal­ten Sie einen Über­blick über Adolf Schlat­ters Zeit in Tübin­gen, die von gro­ßer Schaf­fens­kraft und gleich­zei­tig von schwe­rem per­sön­li­chen Leid gekenn­zeich­net war.


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Johannes Traichel

Über den Autor

Johannes Traichel ist Pastor der FeG in Donaueschingen.
Der Theologe verfasste die Bücher "Die christliche Taufe" (2020) und "Evangelikale und Homosexualität" (2022). Hinzu kommen Aufsätze in Themenbänden, die sich mit der Systematischen Theologie beschäftigen.
Dazu ist Traichel ein begeisterter und leidenschaftlicher Kaffeetrinker.

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  1. Nicht jeder hat die Kraft, sich den Ver­su­chun­gen, der libe­ra­len Theo­lo­gie, aus­zu­set­zen. Ich war an einer kon­ser­va­ti­ven Bibel­schu­le und hat­te da schon Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die in die Tie­fe gingen.
    Ich kann mir nur ansatz­wei­se Vor­stel­len, wie es wäre, wenn die Leh­rer libe­ra­le Theo­lo­gen wären und ich dies noch stu­die­ren müss­te und dar­über noch Arbei­ten schrei­ben, mit dem Ziel gute Noten abzu­lie­fern und so über­zeu­gend schrei­ben, dass der Leh­rer es für glaub­wür­dig erach­tet, dass ich es ver­stan­den habe.
    Des­halb kann ich durch­aus ver­ste­hen, dass sich die meis­ten dem nicht aus­set­zen wollen.

  2. Ich loe­se es fuer mich so auf (Wider­spruch zw kon­ser­va­tiv und liberal).
    1) Jesus Chris­tus als mei­nen Gott und Erloe­ser zu erfah­ren und Bezie­hung zu Ihm zu leben, ist unver­dien­te Gnade.
    2) Jeman­dem, der die­se Erfah­rung bis­her noch nicht machen KONNTE oder WOLLTE, dem kann ich es nicht vor­wer­fen, es ist sei­ne Sache bzw Gottes.
    3) Denn ich kann nicht wis­sen, ob der ande­re (noch nicht) KONNTE (Gele­gen­heit) oder tat­saech­lich schon von Gott ange­ruehrt wur­de, aber nicht WOLLTE.

    Es geht nicht dar­um „dem ande­ren DEN Glau­ben zu glau­ben” (wie Faix, Dietz for­dern). Jeder glaubt schliess­lich irgend etwas, son­dern dar­um WELCHEN Glau­ben, an WELCHEN Gott, mit wel­chem Got­tes­bild er glaubt. Schlat­ter: „Nein, die Gottesfrage![entscheidet]“

    Tie­fe Gemein­schaft ist frei­lich nur mit dem Chris­tus-Begeis­ter­ten moeg­lich, der ein­stim­men kann auf „Mein Herr und mein Gott”.

    Schmun­zeln muss­te ich bei dem Satz „Dage­gen erleb­te Schlat­ter die Zusam­men­ar­beit mit den ande­ren Kol­le­gen als nicht son­der­lich gewinnbringend.”

    Das trifft es gut. Tole­rant dis­pu­tie­ren geht, aber gewinn­brin­gend? Wenn mal die eige­ne Sicht zu Ende geschaerft ist, am Eisen des ande­ren, danach wird es ermuedend/​muehsam …
    Es fehlt der „Klick” von Gott beim anderen?!

    LG Joerg, tol­ler Con­tent hier, Dan­ke Johannes 👍

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