Rezension: Midrasch

Midrasch

Weni­ge Chris­ten wis­sen, was Midrasch eigent­lich ist – dabei eröff­net die­se jüdi­sche Aus­le­gungs­tra­di­ti­on fas­zi­nie­ren­de neue Zugän­ge zur Bibel. Die­se Rezen­si­on bie­tet Ihnen in nur 12 Minu­ten einen kom­pak­ten Ein­blick in Ger­hard Lang­ers Buch „Midrasch“ – und ver­mit­telt einen ver­ständ­li­chen Über­blick über das fas­zi­nie­ren­de Phä­no­men der jüdi­schen Schrift­aus­le­gung.

Das Phänomen Midrasch

Midrasch—Was hat ein jahr­tau­sen­de­al­tes rab­bi­ni­sches Aus­le­gungs­prin­zip mit unse­rem heu­ti­gen Bibel­ver­ständ­nis zu tun?

Die Bibel gleicht einem tie­fen Brun­nen – und Midrasch ist die Kunst, schöp­fe­risch und respekt­voll in die­sen Brun­nen hin­ab­zu­stei­gen, um ver­bor­ge­ne Bedeu­tun­gen ans Licht zu brin­gen. Die­se jahr­hun­der­te­al­te jüdi­sche Aus­le­gungs­tra­di­ti­on lädt nicht dazu ein, den Text ein­fach nur zu erklä­ren, son­dern ihn zu befra­gen, mit ihm zu rin­gen und ihn in den Dia­log mit der Gegen­wart zu bringen.

Für vie­le Chris­tin­nen und Chris­ten ist „Midrasch“ ein unbe­kann­tes Ter­rain. Doch wer die Bibel liebt, wird hier auf ein Aus­le­gungs­er­be sto­ßen, das zutiefst berei­chernd ist – und neue Per­spek­ti­ven auf alt­be­kann­te Tex­te eröff­net. Ger­hard Lang­ers Buch Midrasch macht die­sen Schatz zugäng­lich. Es ist eine Ein­la­dung, die Bibel mit jüdi­schen Augen zu lesen – nicht, um die eige­ne Per­spek­ti­ve zu ver­lie­ren, son­dern um sie zu ver­tie­fen. Die Begeg­nung mit dem Midrasch lohnt sich – gera­de auch für christ­li­che Lese­rin­nen und Leser.

Der Autor: Gerhard Langer

Der Autor, Ger­hard Lan­ger, ist Pro­fes­sor für Juda­is­tik an der Uni­ver­si­tät Wien und trat die Nach­fol­ge des renom­mier­ten Juda­is­ten Gün­ter Stem­ber­ger an, der bereits 1989 mit sei­ner Ein­füh­rung in den Midrasch Maß­stä­be setz­te. Lan­ger knüpft an die­se Tra­di­ti­on an, führt sie jedoch mit aktu­el­lem For­schungs­stand, didak­ti­scher Klar­heit und einem beson­de­ren Gespür für die Ver­mitt­lung jüdi­scher Aus­le­gungs­tra­di­tio­nen an ein brei­te­res Publi­kum wei­ter. Als Exper­te auf dem Gebiet der rab­bi­ni­schen Lite­ra­tur bringt er tie­fes Fach­wis­sen und jahr­zehn­te­lan­ge Lehr­tä­tig­keit in sein Werk ein.

Was ist das Ziel des Buches?

Im Mit­tel­punkt von Ger­hard Lang­ers Buch Midrasch steht die Fra­ge, wie das Phä­no­men Midrasch in sei­ner gan­zen Tie­fe und Viel­falt zu ver­ste­hen ist – nicht nur als Text­gat­tung, son­dern als leben­di­ge jüdi­sche Aus­le­gungs­tra­di­ti­on. Der Band ist der ers­te Teil der UTB-Lehr­buch­rei­he Jüdi­sche Stu­di­en, her­aus­ge­ge­ben von René Bloch, Alfred Boden­hei­mer, Fre­de­rek Mus­all und Miri­jam Zad­off, und rich­tet sich nicht nur an Stu­die­ren­de der Juda­is­tik und benach­bar­ter Dis­zi­pli­nen, son­dern an alle, die sich ver­tieft mit der jüdi­schen Tra­di­ti­ons­li­te­ra­tur beschäf­ti­gen möchten.

Lan­ger ver­folgt ein kla­res Ziel mit sei­nem Buch:

Die­ses Buch nähert sich dem Phä­no­men Midrasch mit der Absicht an, es nicht nur zu defi­nie­ren, son­dern in sei­nen unter­schied­li­chen Aus­prä­gun­gen zu beschrei­ben, sei­ne Her­me­neu­tik zu illus­trie­ren und Anlei­tun­gen für den Umgang mit ihm zu bieten.“

Tat­säch­lich gelingt es Lan­ger, aus ver­schie­dens­ten Per­spek­ti­ven auf das Phä­no­men Midrasch zu bli­cken. Gleich zu Beginn stellt er klar, dass es nicht um eine detail­lier­te Vor­stel­lung ein­zel­ner Midra­sch­wer­ke geht, son­dern um eine Ein­füh­rung in das sach­ge­rech­te Lesen midrasch­scher Tex­te.

Dabei betont Lan­ger rea­lis­tisch, dass ein ein­zi­ges Lehr­buch nicht aus­rei­che, um das kom­ple­xe Phä­no­men Midrasch voll­stän­dig zu erfas­sen. Viel­mehr ver­steht sich sein Werk als eine Art kom­pak­tes Kom­pen­di­um oder Nach­schla­ge­werk, das die gesam­te Brei­te der Midrasch­for­schung reflek­tiert. Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist, dass das Buch einen wei­ten his­to­ri­schen Bogen spannt: von den klas­si­schen rab­bi­ni­schen Midra­schim über mit­tel­al­ter­li­che Aus­prä­gun­gen bis hin zu jid­di­schen und moder­nen For­men. So ent­steht ein umfas­sen­der Über­blick über die Ent­wick­lung und Bedeu­tung die­ser ein­zig­ar­ti­gen Auslegungstradition.

Inhalt des Buches

Das Buch glie­dert sich in 14 durch­dach­te Kapi­tel, die Schritt für Schritt in das viel­schich­ti­ge Phä­no­men Midrasch ein­füh­ren. Der Auf­bau folgt einer kla­ren didak­ti­schen Linie und ermög­licht Lese­rin­nen und Lesern sowohl den Ein­stieg in das The­ma als auch die ver­tief­te Aus­ein­an­der­set­zung mit kon­kre­ten Fragestellungen.

Der ers­te Abschnitt bie­tet einen kom­pak­ten Über­blick über die For­schungs­ge­schich­te des Midrasch und berei­tet das Feld für die wei­ter­füh­ren­den Kapi­tel. Hier wer­den die ver­schie­de­nen wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­ti­ven vor­ge­stellt, aus denen der Midrasch betrach­tet und erforscht wer­den kann. Im zwei­ten Kapi­tel steht die Fra­ge im Zen­trum, was Midrasch über­haupt ist – mit einer dif­fe­ren­zier­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Begriff darasch/​Midrasch und dem kul­tu­rel­len und his­to­ri­schen Kon­text sei­ner Entstehung.

Das drit­te Kapi­tel führt in die her­me­neu­ti­schen Grund­la­gen des Midrasch ein und legt damit das Fun­da­ment für das Ver­ständ­nis der rab­bi­ni­schen Aus­le­gungs­tra­di­tio­nen. Dar­an schließt sich ein vier­ter Abschnitt an, der die Ursprün­ge midra­schi­scher Ele­men­te bereits in vor­rab­bi­ni­scher Zeit und außer­halb der rab­bi­ni­schen Lite­ra­tur nachzeichnet.

Im fünf­ten Teil geht es um die metho­di­sche Aus­le­gung von Midrasch­tex­ten, gefolgt von zwei Kapi­teln über spe­zi­fi­sche metho­di­sche Schrit­te: die Form­ele­men­te des Midrasch (VI) und die Anwen­dung redak­ti­ons­kri­ti­scher Per­spek­ti­ven (VII). Die Kapi­tel VIII bis XII ana­ly­sie­ren den Midrasch in ver­schie­de­nen the­ma­ti­schen Kon­tex­ten – als Exege­se, im Bereich des Rechts (Halacha), der Erzähl­tra­di­ti­on (Hag­ga­da), der Lit­ur­gie und in der jüdi­schen Geschichtsschreibung.

Obwohl der Fokus des Buches auf der rab­bi­ni­schen Epo­che (ca. 70–1000 n. Chr.) liegt, wid­met Lan­ger auch dem Wei­ter­le­ben midra­schi­scher Ele­men­te vom Mit­tel­al­ter bis in die Moder­ne einen eige­nen Abschnitt (XIII). Hier kom­men mit­tel­al­ter­li­che Kom­men­ta­re, jid­di­sche Bear­bei­tun­gen, moder­ne Neu­for­mu­lie­run­gen und antho­lo­gi­sche Samm­lun­gen in den Blick.

Den Abschluss bil­det eine Fak­ten­samm­lung zu den wich­tigs­ten Midra­sch­wer­ken (XIV), die einen schnel­len Über­blick über zen­tra­le Tex­te und deren Inhal­te bie­tet. Jedem Kapi­tel (ab II) ist ein kom­pak­tes Lite­ra­tur­ver­zeich­nis vor­an­ge­stellt, das die Ori­en­tie­rung erleich­tert, wäh­rend eine aus­führ­li­che Gesamt­bi­blio­gra­fie am Ende zur wei­te­ren Ver­tie­fung ein­lädt. So ist das Buch zugleich Ein­füh­rung, Nach­schla­ge­werk und Weg­wei­ser in die fas­zi­nie­ren­de Welt der Midrasch.

Einblicke in das Buch

Was ist Midrasch?

Die­se Fra­ge lässt sich nicht in einem Satz beant­wor­ten – und genau dar­in liegt sei­ne Fas­zi­na­ti­on. Midrasch ist weit mehr als blo­ße Bibel­aus­le­gung. Er ist eine tra­di­ti­ons­rei­che, krea­ti­ve und tief ver­wur­zel­te Form jüdi­scher Schrift­aus­le­gung, die das Ziel ver­folgt, die Kluft zwi­schen dem bibli­schen Text und der Lebens­welt der Aus­le­gen­den zu über­brü­cken. Ger­hard Lan­ger, der sich in sei­nem Buch auf die Defi­ni­ti­on von Gary Por­ton stützt, beschreibt Midrasch als ein lite­ra­ri­sches Gen­re, das sich auf einen reli­gi­ös auto­ri­ta­ti­ven Text bezieht, ihn ent­we­der wört­lich zitiert oder klar erkenn­bar anspielt – und ihn anschlie­ßend aus­legt. Dabei wird die Bibel nicht als toter Text, son­dern als voll­kom­me­ne, wider­spruchs­freie und kla­re Schrift ver­stan­den, die den­noch Lücken auf­weist, die es aus­zu­fül­len gilt (S.32).

Midrasch ist kei­ne Erfin­dung der rab­bi­ni­schen Zeit, son­dern setzt eine bereits inner­bi­blisch begin­nen­de Tra­di­ti­on der Refle­xi­on und Inter­pre­ta­ti­on fort. Er ver­steht sich als ein inter­tex­tu­el­les, dia­lo­gi­sches Rin­gen mit dem Text, das Unklar­hei­ten, Lücken und offe­ne Fra­gen – soge­nann­te gaps – auf­greift, um die bibli­sche Ver­gan­gen­heit für die Gegen­wart frucht­bar zu machen (S.16).

Kreativität, Dialog und Relevanz

Der Begriff dar­asch, von dem „Midrasch“ abge­lei­tet ist, bedeu­tet ursprüng­lich „fra­gen“ oder „nach­for­schen“ – im bibli­schen Kon­text etwa das Befra­gen Got­tes durch Pro­phe­ten. In der rab­bi­ni­schen Zeit ent­wi­ckelt er sich hin zu einer her­me­neu­ti­schen Hal­tung, in der das Stu­di­um und die krea­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit der Schrift im Vor­der­grund ste­hen – ins­be­son­de­re im Lehr­haus, dem zen­tra­len Ort des Ler­nens (S.36).

Neue­re For­schun­gen (z. B. von Hei­ne­mann, Boya­rin oder Levin­son) beto­nen, dass Midrasch nicht nur Aus­le­gung ist, son­dern auch Ver­ge­gen­wär­ti­gung und Wei­ter­den­ken der Schrift. Er ist ein Dia­log mit dem Text, in dem Auto­ri­tät und Frei­heit neben­ein­an­der­ste­hen. Wich­tig ist: Midrasch ist nicht will­kür­lich – die Aus­le­gung folgt bestimm­ten her­me­neu­ti­schen Regeln, bezieht sich auf den ursprüng­li­chen Text und bleibt offen für Mehr­deu­tig­kei­ten. So wird die Bibel zu einem immer neu befrag­ba­ren Raum, in dem Got­tes Wort leben­dig bleibt – auch über Jahr­hun­der­te hin­weg (S.36).

Midrasch: ein Beispiel aus dem Alten Testament-Kontext

Ein beson­ders span­nen­des Bei­spiel rab­bi­ni­scher Midrasch-Inter­pre­ta­ti­on fin­det sich in der Aus­le­gung des bibli­schen Gebots „Auge um Auge“ (Lev 24,20). Wäh­rend vie­le Chris­ten die­sen Vers als ein Bei­spiel für bru­ta­le Ver­gel­tung ver­ste­hen, zeigt der Midrasch deut­lich, dass die Rab­bi­nen die­sen Vers nicht wört­lich, son­dern her­me­neu­tisch durch­dacht inter­pre­tier­ten – als Anord­nung zur finan­zi­el­len Ent­schä­di­gung (S.203–204).

So argu­men­tiert Rab­bi Jischma­el anhand von Lev 24,21, dass der Text die Schä­di­gung eines Men­schen mit der eines Tie­res ver­gleicht. Da ein ver­letz­tes Tier durch Geld ersetzt wird, müs­se das auch für Men­schen gel­ten. Auch Rab­bi Isaak deu­tet in die­se Rich­tung: In Ex 21,30 erlaubt das Gesetz sogar bei einem Tötungs­de­likt die Zah­lung eines Löse­gelds. Wenn das bei solch einem schwe­ren Fall mög­lich ist, dann erst recht bei weni­ger gra­vie­ren­den kör­per­li­chen Verletzungen.

Rab­bi Elie­zer wie­der­um ana­ly­siert die Struk­tur der Bibel­ver­se und zeigt anhand der typi­schen rab­bi­ni­schen Aus­le­gungs­tech­nik von All­ge­mein- und Ein­zel­aus­sa­gen, dass es auch bei absicht­lich zuge­füg­ten Ver­let­zun­gen nicht um wört­li­che Rache geht. Statt­des­sen, so sei­ne Schluss­fol­ge­rung, soll der Täter eine Geld­stra­fe zah­len – selbst bei blei­ben­den Schä­den an zen­tra­len Körperteilen.

Die­se Midrasch-Aus­le­gung ver­deut­licht auf ein­drucks­vol­le Wei­se, dass die Rab­bi­nen nicht blind am Wort­sinn fest­hiel­ten, son­dern mit gro­ßem Respekt vor dem Text und ethi­scher Ver­ant­wor­tung lasen.

Midrasch im Neuen Testament

Dass das Neue Tes­ta­ment stark in der jüdi­schen Aus­le­gungs­tra­di­ti­on ver­wur­zelt ist, zeigt sich unter ande­rem dar­an, wie oft sei­ne Autoren midra­sch­ar­tig mit den Tex­ten des Alten Tes­ta­ments umge­hen. Jesus, Pau­lus und ande­re neu­tes­ta­ment­li­che Autoren stan­den ganz selbst­ver­ständ­lich in der Tra­di­ti­on des rab­bi­ni­schen Denkens.

Die Geburts- und Passionsgeschichte

Ein beson­ders ein­drück­li­ches Bei­spiel für midra­sch­ar­ti­ge Aus­le­gung im Neu­en Tes­ta­ment ist die Art und Wei­se, wie das Leben Jesu mit alt­tes­ta­ment­li­chen Tex­ten ver­wo­ben wird. Bereits die Geburts­ge­schich­te Jesu ist durch­zo­gen von Bezü­gen zur hebräi­schen Bibel: der Stern von Beth­le­hem erin­nert an den mes­sia­ni­schen Stern aus Nume­ri 24,17, die Flucht nach Ägyp­ten und der Kin­der­mord spie­geln Moti­ve aus der Exodus­ge­schich­te wider. Die Rück­kehr der Fami­lie aus Ägyp­ten ruft Exodus 4 in Erin­ne­rung, wo Mose nach Midi­an zurück­kehrt. Auch die Dar­stel­lung Jesu als „neu­er Mose“ – etwa in der Berg­pre­digt – ist ein typi­sches Bei­spiel für Midrasch, der durch krea­ti­ve Neu­ver­knüp­fung alter Tex­te neue Bedeu­tun­gen erschließt (S.106).

Beson­ders die Pas­si­ons­ge­schich­te ist stark geprägt von pro­phe­ti­schen und poe­ti­schen Bezü­gen, etwa zu Jesa­ja oder den Psal­men. Der Juda­ist Jon Leven­son beschreibt daher tref­fend, dass ein gro­ßer Teil der früh­christ­li­chen Chris­to­lo­gie als „midra­schi­sche Rekom­bi­na­ti­on“ bibli­scher Moti­ve ver­stan­den wer­den kann – ins­be­son­de­re rund um die Figu­ren Isaak, den lei­den­den Got­tes­knecht und den Sohn Davids. Die­se Art der Aus­le­gung zeigt: Das Neue Tes­ta­ment ist tief im jüdi­schen Den­ken ver­wur­zelt und ver­wen­det Midrasch, um Jesus im Licht der Schrift zu deu­ten (S.106).

Weitere Beispiele

Ein wei­te­res Bei­spiel ist Mat­thä­us 2,15: „Aus Ägyp­ten habe ich mei­nen Sohn geru­fen“. Die­ser Vers ist ein Zitat aus Hosea 11,1, wo ursprüng­lich das Volk Isra­el gemeint ist. Mat­thä­us aber bezieht ihn auf das Kind Jesus. Damit wird der ursprüng­lich abge­schlos­se­ne Text neu gedeu­tet – ein klas­si­sches Bei­spiel für typo­lo­gi­sche Aus­le­gung, wie sie auch im Midrasch zu fin­den ist.

Auch Pau­lus ver­wen­det häu­fig midra­sch­ar­ti­ge Argu­men­ta­tio­nen. In 1. Korin­ther 10,1–4 deu­tet er den Was­ser spen­den­den Fel­sen aus der Wüs­ten­wan­de­rung Isra­els alle­go­risch: Der Fels war Chris­tus. Hier wird ein his­to­ri­scher Bericht zu einem Bild für geist­li­che Rea­li­tät – ganz im Stil hag­ga­di­scher Midra­schim. Auch das „geist­li­che Getränk“ ist ein bild­haf­tes, aus­le­gen­des Lesen. Noch deut­li­cher wird es in Gala­ter 4,21–31, wo Pau­lus die Geschich­te von Hagar und Sara expli­zit „bild­lich“ (ἀλληγορούμενα) deu­tet: Hagar steht für das irdi­sche Jeru­sa­lem und die Knecht­schaft, Sara für das himm­li­sche Jeru­sa­lem und die Frei­heit – eine tief­grei­fen­de Umdeu­tung mit theo­lo­gi­scher Schlagkraft.

Auch Petrus nutzt die­se Art der Aus­le­gung in Apos­tel­ge­schich­te 2,16–21. Das Pfingst­wun­der deu­tet er mit einem Zitat aus Joel – obwohl die­ses ursprüng­lich einen ande­ren Kon­text hat­te. Doch durch die aktu­el­le Anwen­dung wird die Schrift neu leben­dig: Ein Prin­zip, das auch im Midrasch zen­tral ist. Und schließ­lich fin­det sich in Hebrä­er Kapi­tel 7 eine hoch­kom­ple­xe, typo­lo­gisch-midrash­ar­ti­ge Theo­lo­gie, die Mel­chise­dek als Vor­bild Chris­ti deutet.

Die­se Bei­spie­le zei­gen ein­drück­lich: Die neu­tes­ta­ment­li­chen Autoren haben die Schrift nicht nur zitiert – sie haben sie wei­ter­ge­dacht, ver­tieft und auf ihre Gegen­wart ange­wandt. Wer das Neue Tes­ta­ment bes­ser ver­ste­hen will, kann daher viel gewin­nen, wenn er es auch ein­mal mit der Bril­le des Midrasch liest.

Mein Fazit

Gegen Ende der Lek­tü­re bleibt ein posi­ti­ver Gesamt­ein­druck. Beson­ders her­vor­zu­he­ben ist, dass der Autor nicht ver­sucht, eine bestimm­te Sicht­wei­se auf den Midrasch durch­zu­set­zen. Statt­des­sen eröff­net er dem Leser ein brei­tes Spek­trum an Per­spek­ti­ven und macht deut­lich: Midrasch ist ein kom­ple­xes Phä­no­men, das sich jeder sim­pli­fi­zie­ren­den Dar­stel­lung ent­zieht. Die­se ehr­li­che intel­lek­tu­el­le Zurück­hal­tung ist wohl­tu­end und erhöht den Wert des Buches als zuver­läs­si­ge Einführung.

Die kla­re Struk­tur des Werks trägt ent­schei­dend zur Les­bar­keit bei. Jedes Kapi­tel behan­delt sein The­ma in ange­mes­se­ner Tie­fe. Beson­ders hilf­reich sind die kur­zen Zusam­men­fas­sun­gen am Ende jedes Kapi­tels, die das Gele­se­ne noch ein­mal ord­nen und den roten Faden erkenn­bar machen. Zahl­rei­che Bei­spiel­tex­te ver­an­schau­li­chen die behan­del­ten Inhal­te, was den theo­re­ti­schen Erklä­run­gen eine greif­ba­re Dimen­si­on verleiht.

Her­vor­zu­he­ben ist auch Kapi­tel XIV, mit Fak­ten zu den wich­tigs­ten Midra­schim – ein äußerst nütz­li­ches Nach­schla­ge­werk. Die Anhän­ge mit Abkür­zungs­ver­zeich­nis und Tran­skrip­ti­ons­ta­bel­le erwei­sen sich als beson­ders hilf­reich und bie­ten eine wert­vol­le Ori­en­tie­rungs­hil­fe beim Lesen und Ver­ste­hen der Fach­tex­te. Die durch­gän­gig erwähn­te wei­ter­füh­ren­de Lite­ra­tur ermög­licht es, bei Inter­es­se gezielt tie­fer in ein­zel­ne The­men einzusteigen.

Kurz gesagt: Das Buch erfüllt den Anspruch eines Lehr­buchs. Es ist infor­ma­tiv, gut durch­dacht und hilf­reich für alle, die sich für das The­ma inter­es­sie­ren oder sich im Rah­men ihres Stu­di­ums mit Midrasch beschäftigen.

Eine klei­ne Ein­schrän­kung muss den­noch genannt wer­den: Für Lai­en ist das Buch nur bedingt geeig­net. Es ist in einer sehr aka­de­mi­schen Spra­che ver­fasst und erfor­dert ein gewis­ses Maß an Vor­wis­sen und ter­mi­no­lo­gi­scher Ver­traut­heit. Wer sich ohne Vor­kennt­nis­se an das The­ma her­an­wa­gen möch­te, könn­te mit der Dich­te und Fach­lich­keit des Tex­tes über­for­dert sein.

Was Christen heute vom Midrasch lernen können

Was mir im Buch etwas gefehlt hat, was die midra­sch­ar­ti­ge Her­an­ge­hens­wei­se für unse­ren heu­ti­gen Umgang mit der Bibel bedeu­ten könn­te. Die­se Brü­cke zur gegen­wär­ti­gen Bibel­aus­le­gung wäre eine span­nen­de Ergän­zung gewe­sen, denn ich den­ke, Chris­ten kön­nen vom Midrasch viel dar­über ler­nen, wie ein leben­di­ger, schöp­fe­ri­scher und zugleich ehr­fürch­ti­ger Umgang mit der Bibel aus­se­hen kann. Denn die Bibel ist ein Buch aus jüdi­scher Hand – ver­fasst von jüdi­schen Autoren in einem jüdi­schen kul­tu­rel­len Kon­text. Es ist daher nicht nur legi­tim, son­dern not­wen­dig und berei­chernd, sie mit jüdi­schen Augen und Aus­le­gungs­werk­zeu­gen zu lesen.

Midrasch zeigt, dass die Bedeu­tung eines bibli­schen Tex­tes nicht auf sei­nen wört­li­chen Gehalt begrenzt ist. Viel­mehr eröff­net sich durch alle­go­ri­sche, typo­lo­gi­sche oder dia­lo­gi­sche Zugän­ge eine tie­fe­re Wahr­heit – oft eine, die dem ursprüng­li­chen Text nicht wider­spricht, son­dern ihn wei­ter­führt und in neue Kon­tex­te hin­ein­trägt. Die Rab­bi­nen nah­men sich dabei gro­ße Frei­heit in der Aus­le­gung, ach­te­ten jedoch stets dar­auf, dass ihre Deu­tun­gen in den grö­ße­ren Zusam­men­hang der Schrift pass­ten. Dies muss beach­tet wer­den, um Will­kür in der Aus­le­gung zu vermeiden.

Beson­ders inspi­rie­rend ist die Hal­tung, dass die Bibel nicht nur ein his­to­ri­sches Doku­ment ist, son­dern ein leben­di­ges Wort, das in jeder Gene­ra­ti­on neu gehört und ver­stan­den wer­den will. Midrasch lädt ein, die Bibel als Gesprächs­part­ner zu sehen – als Text, mit dem wir im Dia­log ste­hen dür­fen, um her­aus­zu­fin­den, was Got­tes Wort heu­te in unse­rer Welt zu sagen hat. Das ist kein will­kür­li­ches Spiel mit dem Text, son­dern ein ehr­li­cher Ver­such, Gott im Hier und Jetzt zu begeg­nen – mit offe­nen Fra­gen, aber auch mit dem Ver­trau­en, dass sein Geist in der Aus­le­gung gegen­wär­tig ist.

Die Logos-Edition

Beson­ders hilf­reich ist die Logos-Edi­ti­on des Buches. Da das Werk mit zahl­rei­chen Abkür­zun­gen und viel fach­li­chem Voka­bu­lar arbei­tet, war es äußerst prak­tisch, dass Logos beim Über­fah­ren eines Begriffs mit der Maus sofort die Bedeu­tung der Abkür­zung anzeigt. Ein Dop­pel­klick auf ein unbe­kann­tes Wort öff­net direkt eine Defi­ni­ti­on – eine enor­me Erleich­te­rung beim Lesen. Zudem sind vie­le der zitier­ten Midrasch­bei­spie­le mit den ent­spre­chen­den Res­sour­cen in mei­ner Logos-Biblio­thek ver­linkt, sodass ich die Stel­len im Ori­gi­nal­kon­text nach­le­sen konn­te. Für ein so aka­de­misch anspruchs­vol­les Werk ist die Logos-Edi­ti­on ein ech­ter Gewinn.

Als Einzelwerk oder als Set

Das Buch kann bei Logos als Ein­zel­werk oder im Set erwor­ben werden.

Im Set:

Stö­bern Sie ger­ne wei­ter – Logos bie­tet noch vie­le wei­te­re Bän­de der aus­ge­zeich­ne­ten UTB-Rei­he an, die sich eben­falls zu ent­de­cken lohnen.

Geschrieben von
Manuel Becker

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

Alle Artikel anzeigen
Hinterlasse einen Kommentar

Geschrieben von Manuel Becker