Leid – Warum lässt Gott das zu? 5 Antworten zur Theodizee-Frage

Von Manuel Becker

Leid, Theodizee, Überblick
Vor 1 Woche

Leid! Wir sind alle damit kon­fron­tiert. War­um lässt ein guter Gott all das Leid zu? Die Theo­di­zee-Fra­ge ist eines der schwers­ten The­men in der Theo­lo­gie. Ver­schaf­fen Sie sich in die­sem Arti­kel einen Über­blick über fünf ver­schie­de­ne Ansät­ze zur Theo­di­zee-Fra­ge und ver­tie­fen Sie gleich­zei­tig Ihr Ver­ständ­nis zu die­sem wich­ti­gen Thema. 

Lese­zeit: 20 Minuten

Hin­weis: Es ist unmög­lich, ein solch kom­ple­xes The­ma in der Kür­ze eines Blog­ar­ti­kels gründ­lich genug zu unter­su­chen. Vie­le Aspek­te kom­men zu kurz, bit­te ver­zei­hen Sie das. Die­ser Blog soll einen Über­blick ver­schaf­fen und dazu inspi­rie­ren, das The­ma neu zu studieren.

Warum lässt Gott Leid zu? Die Theodizee-Frage erklärt.

Das Leben ist wie eine Schach­tel Pra­li­nen, man weiß nie, was man bekommt.” 

(For­rest Gump)

Wir alle wün­schen uns ein geseg­ne­tes Leben. Nie­mand will lei­den, krank sein oder Ehe­pro­ble­me haben. Aber die Rea­li­tät ent­spricht oft doch eher einer Schach­tel Pra­li­nen. Das Leben ist gefüllt mit Momen­ten vol­ler tie­fer Freu­de, aber auch mit schmerz­li­chen Tälern, die fast nicht aus­zu­hal­ten sind. Nie­mand bleibt von Lei­d­er­fah­run­gen ver­schont. Durch die Nach­rich­ten kommt die Not der gesam­ten Welt in unser Wohn­zim­mer hin­ein. Natur­ka­ta­stro­phen, Men­schen­han­del, Kin­des­miss­brauch, Pan­de­mien, Krieg, Armut—die Lis­te ist bei­na­he endlos.

Jeder Mensch ist in irgend­ei­ner Wei­se mit Nöten und Schick­sals­schlä­gen kon­fron­tiert. Des­halb ent­steht natür­lich immer wie­der die Fra­ge, war­um ein guter Gott so viel Leid zulässt. Die­se Fra­ge wird oft als die Theo­di­zee-Fra­ge bezeich­net. Sie befasst sich mit dem schein­ba­ren Wider­spruch zwi­schen der Exis­tenz eines all­mäch­ti­gen, all­wis­sen­den und all­gü­ti­gen Got­tes einer­seits und dem Vor­han­den­sein von Leid, Schmerz und Unge­rech­tig­keit in der Welt andererseits.

Die schein­ba­re Para­do­xie liegt dar­in, dass ein all­gü­ti­ger Gott es nicht wün­schen wür­de, dass sei­ne Schöp­fung lei­det, und sei­ne All­macht das Lei­den mühe­los ver­hin­dern könn­te. Leid und Unrecht exis­tie­ren jedoch. Daher stellt sich die Fra­ge, ob ent­we­der Got­tes All­macht, sei­ne All­gü­te oder gar sei­ne Exis­tenz ange­zwei­felt wer­den müs­sen. Die­ses Dilem­ma lädt dazu ein, den Cha­rak­ter Got­tes, die Dyna­mik der Schöp­fung und die Kom­ple­xi­tät des mensch­li­chen Lebens auf tief­grei­fen­de Wei­se neu zu durchdenken.

Die Theo­di­zee-Fra­ge begeg­net mir bei evan­ge­lis­ti­schen Gesprä­chen in Deutsch­land am häu­figs­ten. Sie ist eine der wich­tigs­ten und zugleich schwers­ten Fra­gen. Sie rüt­telt an den Grund­la­gen des Glau­bens. Vie­le Men­schen haben sich bereits von Gott abge­wen­det, weil sie im Ange­sicht unfass­ba­ren Leids kei­ne befrie­di­gen­de Ant­wort auf die­ses Dilem­ma gefun­den haben. Unse­re Reak­ti­on auf die­ses Pro­blem zeigt sehr viel über unse­ren Glau­ben und unser Got­tes­bild. Sie prägt unser Welt­bild und unser Ver­ständ­nis davon, wie die Welt funktioniert.

Das Leid ernst nehmen und nicht verniedlichen

Die Not­wen­dig­keit, eine wei­se Ant­wort auf die Theo­di­zee-Fra­ge zu fin­den, kann nicht über­be­tont wer­den. Auf der Suche nach einer Ant­wort müs­sen wir das extre­me Leid in der Welt berück­sich­ti­gen und dür­fen es nicht her­un­ter­spie­len. Wir müs­sen die­se Fra­ge im Licht der schwers­ten Fäl­le beant­wor­ten, die kei­ner­lei Hap­py End haben! Und wir benö­ti­gen eine Ant­wort, die wir auch einer Per­son im aller­tiefs­ten Leid sagen können.

Ein Bei­spiel: 

Ein zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen wird von ihren Eltern für 100 € an Men­schen­händ­ler ver­kauft und muss von da an als Kin­der­pro­sti­tu­ier­te ihren Kör­per jede Nacht an unzäh­li­ge Frei­er ver­kau­fen. Mit Gewalt, Dro­gen und Alko­hol wird sie gefü­gig gemacht. Glück kennt sie nicht. Ihr Leben ist eine Tor­tur von Leid und Grau­sam­keit. Ihr Kör­per wird über die Jah­re immer schwä­cher und sie stirbt mit 20 Jah­ren an den Fol­gen einer Krank­heit, die sie sich bei einem Frei­er ein­ge­fan­gen hat.

Das Bei­spiel wirkt extrem, ist aber tat­säch­lich kein Ein­zel­fall und soll nur stell­ver­tre­tend für unzäh­li­ge Situa­tio­nen ste­hen, in denen Men­schen wirk­lich tie­fes Leid erle­ben. Was kann man einem Men­schen sagen, der von größ­ter Not betrof­fen ist?

Verschiedene Perspektiven auf das Leid

Die Theo­di­zee-Fra­ge ist eine der zen­tra­len theo­lo­gi­schen Fra­gen, die die Men­schen durch die Jahr­hun­der­te hin­durch bewegt hat. Sie durch­dringt alle Facet­ten des Lebens und kon­fron­tiert uns mit unse­ren eige­nen Unsi­cher­hei­ten, Ängs­ten und Kämp­fen, wenn wir Schmerz, Ver­lust und Unge­rech­tig­keit erfah­ren. Eine Ant­wort auf die­se Fra­ge zu fin­den, ist nicht ein­fach. In der Bibel ver­sucht es das Buch Hiob. Im Lauf der Geschich­te haben vie­le Theo­lo­gen wei­te­re ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven und Erklä­rungs­an­sät­ze zum The­ma Leid entwickelt.

Je nach­dem, wie unse­re Ant­wort aus­fällt, kön­nen wir Trost spen­den und Hoff­nung geben. Doch manch­mal laden wir Per­so­nen, die bereits lei­den und mit die­ser Fra­ge rin­gen, nur noch wei­te­res unnö­ti­ges Leid auf, wodurch ihre Last nur noch schwe­rer wird. Vie­le theo­re­ti­sche Ant­wor­ten sind oft kalt und herz­los. Mit ober­fläch­li­chen Paro­len kön­nen wir den christ­li­chen Glau­ben zu einem Witz und damit unglaub­wür­dig machen.

In die­sem Arti­kel stel­le ich fünf Ansät­ze vor, die ver­su­chen, eine Ant­wort auf die so wich­ti­ge Theo­di­zee-Fra­ge zu fin­den. Natür­lich gibt es vie­le wei­te­re Per­spek­ti­ven, aber die­se fünf decken die gän­gigs­ten von ihnen ab. Ich ori­en­tie­re mich für die­sen Arti­kel an dem Buch „God and the Pro­blem of Evil: Five Viewsaus der „Spec­trum Mul­ti­view“-Buch­rei­he. Die­se ver­sucht, unter­schied­li­che theo­lo­gi­sche Sicht­wei­sen zu ver­schie­de­nen The­men mit­ein­an­der ins Gespräch zu bringen.

Ansatz 1: Die klassische Antwort auf das Leid

Kurzfassung

Die klas­si­sche Ant­wort auf das Pro­blem des Bösen lau­tet, dass kein Böses geschieht, wenn Gott es nicht zulässt, und dass Gott einen guten Grund hat, alles Böse zuzu­las­sen, und zwar im Sin­ne eines höhe­ren Nut­zens, zu des­sen Ver­wirk­li­chung er das Böse gebraucht. 

(Meis­ter & Dew 2017:14)

Die­se Ant­wort auf die Theo­di­zee-Fra­ge geht ins­be­son­de­re auf die Theo­lo­gie von Augus­ti­nus von Hip­po zurück.

Die Natur des Bösen

Augus­ti­nus betrach­te­te alles Böse als eine Kor­rup­ti­on des Guten. Für den Kir­chen­va­ter war „Kor­rup­ti­on kei­ne Form des Seins, son­dern immer ein Ver­sa­gen, etwas zu sein“ (Meis­ter & Dew 2017:15). Das Böse ist nicht das Gegen­teil des Guten, son­dern des­sen Unter­drü­ckung oder Ver­drän­gung. Das Böse ist nicht etwas Rea­les an sich, son­dern das, was geschieht, wenn das von Gott geschaf­fe­ne und gewoll­te Gute ver­drängt und ent­stellt wird. Dies ist ver­gleich­bar mit einem Schat­ten, der aus einem Man­gel an Licht ent­steht. Dies wird betont, um argu­men­tie­ren zu kön­nen, dass Gott eine gute Welt geschaf­fen hat und nicht das Böse erschaf­fen hat, da es ja kei­ne Rea­li­tät in sich ist (Meis­ter & Dew 2017:17).

Verdrehte Liebe als Ursprung des Leides

Augus­ti­nus argu­men­tiert, dass wir geschaf­fen sind, um Gott zu lie­ben. Das Wich­tigs­te ist, Gott mehr als alles ande­re zu lie­ben. Der Ursprung von allem Bösen ist, wenn wir Din­ge oder Men­schen mehr lie­ben als Gott.

In der Theo­lo­gie des Augus­ti­nus ist alles mora­lisch Böse eine Art von Lie­be. Es ist eine gestör­te und defor­mier­te, in die fal­sche Rich­tung gedreh­te Lie­be. Der Ursprung des Bösen ist die Lie­be zu nie­de­ren Din­gen anstel­le von höhe­ren Dingen. 

(Meis­ter & Dew 2017:23)

Wir sind geschaf­fen, um Gott zu lie­ben und sei­ne Lie­be an ande­re Men­schen wei­ter­zu­ge­ben. Statt­des­sen lie­ben wir viel zu oft Din­ge, ver­ges­sen Gott und benut­zen Men­schen für unse­re eige­nen Zwe­cke. Die­se fal­sche Art von Lie­be erschafft aller­lei Leid und Böses.

Die­se ver­dreh­te Lie­be führt zu Aus­beu­tung, Unter­drü­ckung und Krieg sowie zum Miss­brauch der Güter der Schöp­fung und damit zu aller­lei Cha­os in der natür­li­chen Welt. Die gan­ze Schöp­fung ist dem Bösen und der Ver­gäng­lich­keit unter­wor­fen, weil der Mensch, der im Eben­bild Got­tes geschaf­fen wur­de, statt Weis­heit und Gerech­tig­keit Cha­os in die Welt brachte. 

(Meis­ter & Dew 2017:26)

Zwei Kernprinzipien

Am wich­tigs­ten ist für die klas­si­sche Sicht­wei­se das Prin­zip des grö­ße­ren Guten. Dabei han­delt es sich um die zwei­fa­che Leh­re, dass (1) kein Übel ohne Got­tes Erlaub­nis geschieht und (2) Gott immer einen guten Grund für die Erlaub­nis von Bösem hat, denn er nutzt jedes Übel, um ein höhe­res Gut zu erreichen. 

(Meis­ter & Dew 2017:26)

Die­se Sicht­wei­se ver­tritt den Stand­punkt, dass Gott im Prin­zip alles Schlim­me ver­hin­dern könn­te. Er hat sich jedoch dafür ent­schie­den, es trotz­dem zuzu­las­sen. Der Grund dafür ist, dass er in sei­ner Weis­heit weiß, wie er gera­de aus die­sen Übeln ein grö­ße­res Gut her­vor­brin­gen kann.

Pro

  • Gibt Men­schen Hoff­nung, dass Gott einen guten Plan für jeden Men­schen hat und Gutes aus Bösem ent­ste­hen las­sen kann. So wie Hiob erle­ben wir oft Leid, ohne den Grund dafür zu ken­nen. Doch am Ende wird Gott ein Hap­py End für alle Gläu­bi­gen bewirken.
  • Passt gut zu Bibel­stel­len, die davon spre­chen, dass Gott alles vor­her­be­stimmt hat und jedes Detail die­ser Welt kontrolliert.

Kontra

  • Im Ange­sicht des enor­men Bösen, wel­ches welt­weit geschieht, fällt es den meis­ten Men­schen schwer zu sehen, wie Gott dar­aus etwas Gutes ent­ste­hen las­sen kann. Viel Böses scheint nichts Gutes her­vor­zu­brin­gen, son­dern allein unaus­sprech­li­ches Leid.
  • Gott erlaubt alles Böse und wird dadurch von Men­schen, die von schwe­rem Leid betrof­fen sind, oft als mit­schul­dig angesehen.
  • Der Mensch hat kei­nen ech­ten frei­en Wil­len, denn Gott diri­giert jedes Detail die­ser Welt.

Ansatz 2: Der molinistische Ansatz

Mittleres Wissen

Die­ser Ansatz basiert auf den Über­le­gun­gen des jesui­ti­schen Phi­lo­so­phen, Theo­lo­gen und Rechts­theo­re­ti­kers Luis de Moli­na (1535–1600). Er war einer der ein­fluss­reichs­ten und kon­tro­ver­ses­ten Den­ker des 16. Jahr­hun­derts. Er ver­such­te, den frei­en Wil­len des Men­schen mit der Vor­her­be­stim­mung durch Gott und sei­ner All­wis­sen­heit in Ein­klang zu brin­gen. Moli­na ent­wi­ckel­te die Idee des mitt­le­ren Wis­sens. Ich will ver­su­chen, die­se kurz zu erklären.

Stel­len Sie sich vor, Sie spie­len ein Spiel und müs­sen dabei Ent­schei­dun­gen tref­fen. Mitt­le­res Wis­sen bedeu­tet zu wis­sen, was Sie und ande­re in ver­schie­de­nen Situa­tio­nen tun wür­den, noch bevor die­se tat­säch­lich eintreten.

Die moli­nis­ti­sche Sicht­wei­se ist also eine Art, über Got­tes Wis­sen und sei­nen Umgang damit nach­zu­den­ken. Sie besagt, dass Gott alles weiß – nicht nur, was pas­sie­ren wird, son­dern auch, was pas­siert wäre, wenn die Din­ge anders gelau­fen wären. Moli­nis­ten glau­ben, dass Gott die­ses mitt­le­re Wis­sen nutzt, um die best­mög­li­che Welt zu erschaf­fen, sie zu steu­ern und zu gestal­ten. Dabei berück­sich­tigt er jedoch alle Ent­schei­dun­gen, die die Men­schen tref­fen würden. 

Die Kernidee

Moli­na glaub­te, dass Gott dem Men­schen ech­te Frei­heit gege­ben hat, sei­ne eige­nen Ent­schei­dun­gen tref­fen zu kön­nen. Wenn dies tat­säch­lich so ist, kann Gott unmög­lich garan­tie­ren, wie die Ent­schei­dun­gen der Men­schen aus­fal­len wer­den. Das bedeu­tet nun, dass Gott nicht die per­fek­te Welt erschaf­fen kann, in der zu 100 % sein Wil­le geschieht.

Kurzfassung

Moli­na ver­trat die Auf­fas­sung, dass Gott beschlos­sen hat, eine Welt mit frei­en Geschöp­fen zu erschaf­fen und das ihm zuge­teil­te Blatt [= die Kon­se­quen­zen unse­rer frei­en Ent­schei­dun­gen] so geschickt zu spie­len, dass sei­ne End­zie­le durch die frei­en Ent­schei­dun­gen der Geschöp­fe erreicht wer­den, trotz der sün­di­gen Ent­schei­dun­gen, die sie tref­fen wür­den, und des Bösen, das sie her­vor­brin­gen würden. 

(Meis­ter & Dew 2017:39)

Das bedeu­tet: Alles, was in die­ser Welt geschieht, ent­spricht Got­tes Wil­len, weil er sie so ange­legt hat, wie sie ist. Er hat gese­hen, dass dies die bes­te mög­li­che Welt für sei­ne Schöp­fung ist. Wie ein Pro­fi-Schach­spie­ler sieht er unse­re Züge vor­aus und ver­sucht das Böse, das wir erschaf­fen, ein­zu­gren­zen und in Gutes zu verwandeln.

Der bekann­tes­te moder­ne Ver­tre­ter die­ser Sicht­wei­se ist Wil­liam Lane Craig.

Pro

  • Die­se Erklä­rung ehrt den frei­en Wil­len der Men­schen, da sie davon aus­geht, dass Gott die Welt so gestal­tet, dass Men­schen ihre eige­nen Ent­schei­dun­gen tref­fen können.
  • Die­se Sicht grenzt weder Got­tes All­macht noch sei­ne All­wis­sen­heit ein.

Kontra

  • Got­tes Len­ken der Umstän­de kann als Mani­pu­la­ti­on aus­ge­legt wer­den, sodass der freie Wil­le in Wirk­lich­keit doch nur eine Illu­si­on ist.
  • Wie auch in der klas­si­schen Sicht erlaubt, bzw.nutzt Gott das Böse, um sei­ne Zie­le zu erreichen.

Ansatz 3: Der offen theistische Ansatz

Der offene Theismus

Der Offe­ne The­is­mus ist eine theo­lo­gi­sche Ansicht, die das klas­si­sche Ver­ständ­nis von Got­tes All­wis­sen­heit infra­ge stellt. Die Kern­ideen des Offe­nen The­is­mus sind:

  1. Gren­zen der All­wis­sen­heit: Ver­tre­ter des Offe­nen The­is­mus glau­ben, dass Got­tes All­wis­sen­heit bedeu­tet, dass er alles weiß, was es aktu­ell zu wis­sen gibt. Gott weiß alles, was in der Ver­gan­gen­heit war und in der Gegen­wart ist, aber Din­ge, die in der Zukunft gesche­hen, sind noch nicht fest­ge­legt und des­halb offen. Zukünf­ti­ge Ereig­nis­se, ins­be­son­de­re mensch­li­che freie Ent­schei­dun­gen, sind nach die­ser Ansicht offen und unge­wiss, sogar für Gott. Er kann zwar auf­grund sei­ner Erfah­rung mit Men­schen und dem Wis­sen über alle Umstän­de sehr gut abschät­zen, wie sich Men­schen ent­schei­den wer­den, aber 100% sicher kann er die Zukunft nicht voraussagen.
  2. Frei­er Wil­le und Mit­wir­kung: Die­se Sicht­wei­se betont den frei­en Wil­len der Men­schen und sieht Gott als in Bezie­hung ste­hend und inter­ak­tiv mit sei­ner Schöp­fung. Ver­tre­ter des Offe­nen The­is­mus glau­ben, dass Gott ech­te Bezie­hun­gen mit Men­schen ein­geht und auf ihre Gebe­te und Hand­lun­gen reagiert, soweit ihm das mög­lich ist, ohne den frei­en Wil­len der Men­schen zu brechen.
  3. Offe­ne Zukunft: Im Offe­nen The­is­mus ist die Zukunft nicht voll­stän­dig fest­ge­legt, son­dern zu einem gewis­sen Maße offen und fle­xi­bel. Gott kennt nicht die genaue Zukunft, die sich aus den frei­en Ent­schei­dun­gen der Men­schen ergibt.
  4. Leid und Böses: Offe­ne The­is­ten argu­men­tie­ren, dass Gott nicht jeden Aspekt der Schöp­fung kon­trol­liert, son­dern dass die Schöp­fung fest­ge­leg­ten Kreis­läu­fen und Regeln folgt. Des­halb wer­den Leid und Böses nicht direkt von Gott ver­ur­sacht. Gott ist ein Part­ner inmit­ten allem Leid, der mit­füh­lend und trös­tend wirkt.
  5. Der in Bezie­hung leben­de Gott: Der Offe­ne The­is­mus betont Got­tes Bezie­hung zur Schöp­fung. Er will mit uns Men­schen Hand in Hand arbei­ten, um sei­nen Wil­len zu ver­wirk­li­chen und Leid zu bekämpfen.

Kurzfassung

Wir gehen davon aus, dass Gott vie­les (nicht alles) von der Zukunft als das kennt, was gesche­hen könn­te, und als das, was wahr­schein­lich gesche­hen wird, aber nicht als das, was defi­ni­tiv ein­tre­ten wird. Und das hat wich­ti­ge Aus­wir­kun­gen auf die gött­li­che Vor­se­hung und das Pro­blem des Bösen: Es bedeu­tet, dass Gott auch Risi­ken ein­geht. Wenn Gott beschließt, eine bestimm­te Situa­ti­on her­bei­zu­füh­ren, in der sei­ne Geschöp­fe freie Ent­schei­dun­gen tref­fen müs­sen, ist es selbst für Gott unmög­lich, mit Sicher­heit zu wis­sen, wie die­se Geschöp­fe reagie­ren wer­den; es besteht eine ech­te Mög­lich­keit, dass sie nicht so reagie­ren, wie er es beab­sich­tigt und wünscht. (Natür­lich deu­tet vie­les in der Bibel dar­auf hin, dass dies nicht nur mög­lich ist, son­dern auch oft geschieht.) 

(Meis­ter & Dew 2017:60)

Ein häu­fi­ges und stän­di­ges Ein­grei­fen Got­tes, um den Miß­brauch der Frei­heit durch sei­ne Geschöp­fe zu ver­hin­dern und/​oder den durch die­sen Miß­brauch ver­ur­sach­ten Scha­den zu behe­ben, wür­de die im Schöp­fungs­plan vor­ge­se­he­ne Struk­tur des mensch­li­chen Lebens und der Gemein­schaft unter­gra­ben; daher soll­te ein sol­ches Ein­grei­fen nicht erwar­tet werden. 

(Meis­ter & Dew 2017:74)

Pro

  • Der freie Wil­le des Men­schen wird nicht von Gott eingegrenzt.
  • Gott ist nie der Ver­ur­sa­cher von Bösem.
  • Passt gut zu allen Bibel­ver­sen, in denen Gott sei­ne Mei­nung ändert oder die Zukunft von den Ent­schei­dun­gen der Men­schen abhän­gig macht.

Kontra

  • Got­tes All­wis­sen­heit ist eingeschränkt.

Ansatz 4: Der Ansatz der essenziellen Kenosis

Die­se Per­spek­ti­ve wur­de von Tho­mas Jay Oord ent­wi­ckelt, der sie aus­führ­lich in sei­nem Buch „Gott kann das nicht“ erklärt.

Es gibt Dinge, die Gott nicht kann

Chris­ten glau­ben tra­di­tio­nell, dass Gott all­mäch­tig ist und alle Din­ge sou­ve­rän und ohne jede Ein­schrän­kung tun kann. Die Bibel selbst behaup­tet jedoch, dass Gott eini­ge Din­ge nicht tun kann. „Gott kann nicht lügen“ (Titus 1,2), „Gott kann nicht ver­sucht wer­den“ (Jako­bus 1,13), „Gott wird nicht müde“ (Jesa­ja 40,28). Und der Apos­tel Pau­lus ver­kün­det: „Und doch hebt unse­re Untreue sei­ne Treue nicht auf, denn er kann sich selbst nicht untreu wer­den.“ (2. Tim. 2:13, NGÜ).

Gott kann sich nicht selbst ver­leug­nen. Sein Wesen und sein Cha­rak­ter bestim­men die Art und Wei­se, wie er in die­ser Welt han­delt. Gott kann nichts tun, was sei­nem Wesen wider­spricht; des­halb ist sei­ne All­macht nicht unbe­grenzt, son­dern schließt alles aus, was sei­nem Wesen widerspricht.

Gottes Wesen ist nicht-kontrollierende Liebe

Got­tes Wesen ist die sich selbst ver­schen­ken­de, den ande­ren befä­hi­gen­de Lie­be, und die­se Lie­be ist not­wen­di­ger­wei­se nicht kontrollierend. 

(Meis­ter & Dew:84)

(Mehr zum The­ma „Got­tes Wesen ist Lie­be“ fin­den Sie in mei­nem Arti­kel zu Wil­fried Här­les Dog­ma­tik und zum Cha­rak­ter Got­tes.)

Einschränkung der Allmacht Gottes

Das bedeu­tet, dass Gott nichts tun kann, was sei­nem Wesen der Lie­be wider­spricht. Aller­dings beschrei­ben ver­schie­de­ne Men­schen die Lie­be sehr unter­schied­lich. Daher muss die Lie­be Got­tes genau­er defi­niert werden.

Die­se The­se besagt, dass Got­tes Wesen der Lie­be es für Gott unmög­lich macht, die Frei­heit, die Hand­lungs­fä­hig­keit oder die grund­le­gen­de Exis­tenz ande­rer zu unter­gra­ben, außer Kraft zu set­zen oder nicht zu garan­tie­ren. Dass Gott den Men­schen in Lie­be ihre Exis­tenz schenkt, bedeu­tet auch, dass er die geset­zes­ähn­li­chen Regel­mä­ßig­kei­ten – die vie­le als „Natur­ge­set­ze” bezeich­nen -, die wir in der Welt am Werk sehen, nicht unter­lau­fen kann. Die sich selbst schen­ken­de Lie­be ist ein Aspekt von Got­tes ewi­gem Wesen, und Gott kann die­ses Wesen nicht verleugnen. 

(Meis­ter & Dew:85)

Oord argu­men­tiert, dass wah­re Lie­be kei­nen Zwang aus­übt und dem­entspre­chend Got­tes Lie­be nicht kon­trol­lie­rend ist. Wie im offe­nen The­is­mus bedeu­tet das, dass die Zukunft bis zu einem gewis­sen Grad offen ist, weil Gott nicht jedes Detail, das in die­ser Welt geschieht, bis ins Kleins­te hin­ein steu­ert. Wie sich die Zukunft im Ein­zel­nen ent­fal­ten wird, hängt bis zu einem gewis­sen Grad von den Ent­schei­dun­gen der Men­schen ab.

Dem­entspre­chend sind Lei­den und Übel in ers­ter Linie das Ergeb­nis des Miss­brauchs der mensch­li­chen Frei­heit. Gott kann die Frei­heit, die er den Men­schen gege­ben hat, nicht ein­fach außer Kraft set­zen, und daher ist er nicht für das Böse in die­ser Welt ver­ant­wort­lich zu machen.

Kurzfassung

Ins­ge­samt betont die essen­ti­el­le Kenosis, dass Gott vie­les Böse nicht stop­pen kann, weil es sei­nem Wesen der nicht kon­trol­lie­ren­den Lie­be wider­spricht. Aber Gott will jeder­zeit mit uns zusam­men­ar­bei­ten, um das Böse und Leid in die­ser Welt zu überwinden.

Pro

  • In allen ande­ren Sicht­wei­sen kann Gott das Böse sou­ve­rän stop­pen, ent­schei­det sich aber dage­gen und trägt damit eine Teil­schuld. Die Per­spek­ti­ve der essen­ti­el­len Kenosis ent­las­tet Gott von aller Mit­schuld am Bösen, weil sein Wesen der nicht kon­trol­lie­ren­den Lie­be es ihm unmög­lich macht, das Böse ohne unse­re Mit­hil­fe zu stoppen.
  • Der freie Wil­le des Men­schen wird nicht von Gott in kei­ner­lei Wei­se eingegrenzt.

Kontra

  • Got­tes All­macht ist eingeschränkt.

Ansatz 5: Der skeptisch-theistische Ansatz

Vier Kernideen

Der skep­tisch-the­is­ti­sche Ansatz (in „God and the Pro­blem of Evil: Five Views“ vor­ge­stellt von Ste­phen Wyk­s­tra) bie­tet kei­ne wirk­li­che Erklä­rung für die Fra­ge nach dem Leid. Es han­delt sich um eine Per­spek­ti­ve zur Theo­di­zee, die sich dem Pro­blem des Bösen mit einer gewis­sen Demut nähert. Die Kern­ge­dan­ken die­ser Sicht­wei­se sind:

  1. Begrenz­tes mensch­li­ches Ver­ständ­nis: Die­ser Ansatz legt nahe, dass unser Ver­ständ­nis begrenzt ist und wir mög­li­cher­wei­se die Grün­de für Got­tes Zulas­sen bestimm­ter Übel nicht voll­stän­dig begrei­fen kön­nen. Wir kön­nen nicht mit Gewiss­heit beur­tei­len, ob eine bestimm­te Instanz des Lei­dens wirk­lich sinn­los ist oder nicht, da uns das kom­plet­te Bild fehlt.
  2. Mög­li­che grö­ße­re Grün­de: Die skep­tisch-the­is­ti­sche Sicht­wei­se betont, dass es mög­li­cher­wei­se wich­ti­ge­re Grün­de gibt, die über unser Ver­ständ­nis hin­aus­ge­hen, die Gott durch die Exis­tenz von Bösem und Lei­den ver­folgt. Dem­nach könn­te das, was uns unge­recht oder schäd­lich erscheint, einem Zweck die­nen, den wir nicht erfas­sen können.
  3. Demut im Urteil: Wyk­s­tra betont, dass wir in unse­ren Urtei­len über die Grün­de für Got­tes Hand­lun­gen demü­tig sein soll­ten. Nur weil wir kei­nen Grund für bestimm­te Übel sehen kön­nen, bedeu­tet das nicht zwangs­läu­fig, dass es kei­nen gibt.
  4. Her­aus­for­de­rung für mensch­li­che Logik: Die­se Sicht­wei­se stellt die Idee infra­ge, dass die mensch­li­che Logik die Kom­ple­xi­tä­ten gött­li­cher Absich­ten voll­stän­dig erfas­sen kann. Sie deu­tet dar­auf hin, dass Got­tes Wege unser Ver­ständ­nis über­stei­gen könn­ten und dass wir nicht immer erwar­ten kön­nen, die Grün­de für jedes Auf­tre­ten von Leid zu verstehen.

Kurzfassung

Ins­ge­samt legt die skep­tisch-the­is­ti­sche Sicht­wei­se nahe, dass wir nicht vor­ei­lig den Schluss zie­hen soll­ten, dass sich die Exis­tenz von Bösem und Lei­den und die Exis­tenz eines guten und mäch­ti­gen Got­tes wider­spricht. Statt­des­sen soll­ten wir uns der Theo­di­zee-Fra­ge mit Demut nähern und erken­nen, dass es Grün­de gibt, die sich unse­rem begrenz­ten Ver­ständ­nis mög­li­cher­wei­se ver­schlie­ßen. Außer­dem soll­ten wir akzep­tie­ren, dass wir gött­li­che Absich­ten durch unse­re Ver­nunft viel­leicht gar nicht voll­stän­dig erfas­sen können.

Pro

  • Die­se Sicht betont zu Recht, dass unser mensch­li­ches Ver­ständ­nis limi­tiert ist und wir des­halb mit Demut das The­ma betrach­ten sollten.

Kontra

  • Die­ser Ansatz beant­wor­tet das Pro­blem des Leids nicht.

Fazit

Bei der Suche nach Ant­wor­ten auf die Theo­di­zee-Fra­ge wird deut­lich, dass es ver­schie­de­ne Ansät­ze gibt, um den Zusam­men­hang zwi­schen Got­tes All­macht, sei­ner Güte und der Exis­tenz von Leid zu erfas­sen. Die Kom­ple­xi­tät die­ser Fra­ge erfor­dert es, dass wir aner­ken­nen, dass es kei­ne ein­fa­chen Lösun­gen auf kom­ple­xe Fra­gen gibt.

Unse­re Suche nach Ant­wor­ten soll­te von Demut geprägt sein. Letzt­lich liegt es an uns, einen Umgang mit die­ser Fra­ge zu wäh­len, der mit den Leh­ren Jesu und der Offen­ba­rung Got­tes in Jesus in Ein­klang steht. Aber auch wenn wir kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge fin­den kön­nen, dür­fen wir Gott ver­trau­en, dass er am Ende alles gut machen und Gerech­tig­keit für jeden Men­schen her­stel­len wird. Und so möch­te ich mit den Wor­ten Bon­hoef­fers enden, der die­se Zei­len mit­ten im tiefs­ten Leid schrieb:

Und reichst Du uns den schwe­ren Kelch, den bit­tern, /​/​des Leids, gefüllt bis an den höchs­ten Rand, /​/​so neh­men wir ihn dank­bar ohne Zit­tern /​/​aus Dei­ner guten und gelieb­ten Hand.

Bibliografie

Meis­ter, C. und Dew, J.K., Jr. (Hrsg.) God and the Pro­blem of Evil: Five Views. Dow­ners Gro­ve, IL: IVP Aca­de­mic: An Imprint of Inter­Var­si­ty Press (Spec­trum Mul­ti­view Books).

Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine 4 Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, dann liebt er es theologische Bücher in seiner freien Zeit zu lesen, zu fotografieren oder seine Logos-Bücherei zu erweitern. Aktuell studiert er nebenher an der Akademie für Weltmission in Korntal und hofft 2023 sein MA-Studium zu beenden. Er ist der Autor von dem beliebten Kinderbuch „Der große Sieg“.

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