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Gedanken zur Jahreslosung 2023 aus Genesis 16,13
Eines der großen literarischen Meisterwerke des letzten Jahrhunderts hat J. R. R. Tolkien verfasst. „Der Herr der Ringe“ ist der Titel. Dieses Buch und der dazugehörige Film (ich spreche nicht von der neuen Serie eines online Kaufhauses!) verweben Elemente der menschlichen Existenz auf eine großartige Art und Weise.
Einer der ultimativen Schreckensorte in diesem Werk ist das dunkle Land Mordor. Hier herrscht der böse Gewaltherrscher Sauron. Ein wahrer Despot und eine Blaupause für vergangene und gegenwärtige Diktatoren und Gewaltherrscher.
Ein Element, um seine Gewaltherrschaft zu festigen und auszubauen, ist sein „allsehendes Auge“. Eine „Innovation“, die für frühere Geheimdienste ein beschwingter Zukunftstraum war, für heutige Unrechtsstaaten leider unheimlich schnell realistischer geworden ist.
Ist Gott ein Geheimdienstoffizier?
Bei einigen dürfte es sicher ein Unbehagen auslösen, wenn das, was sie im Geheimen tun, an die Öffentlichkeit kommt, oder wenn auch nur andere davon erfahren. Sei es ein Geheimdienst, der die Webcam gehackt hat, oder jemand anderes, der alles sieht. Geleakte Daten sorgen immer wieder für schlaflose Nächte und verzweifelte Aktionen.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Genesis 16,13) Die Frage, die Sie sich vielleicht stellen ist, ob ich hier Sauron, oder gar heutige Unrechtsregimes mit dem Gott der Bibel vergleichen möchte? Um es direkt mit Paulus zu sagen: „Das sei ferne!“ Es dürfte allen theologischen Interessierten klar sein, dass dieser Vergleich nicht zutrifft und auch von mir nicht gezogen werden möchte.
Vielmehr wird hier ein verbreitetes Vorurteil über Gott sichtbar, welches auch in frommen Kreisen zu finden ist. So lautet ein altes Kinderlied „Pass auf kleines Auge, was du siehst … denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich, drum pass auf kleines Auge, was du siehst.“
Gottes Blick ist anders
„Du bist der Gott, der mich sieht.“ Immer und überall? Die Aussage der Jahreslosung kann sowohl beruhigend als auch bedrohlich wirken. Für manche ist sie tröstend, andere wiederum finden sie beunruhigend. Haben wir es hier mit einem überwachenden Gott zu tun?
Kann das Sehen Gottes auch eine andere Komponente haben? Eine beruhigende und heilende Bedeutung und Wirkung? Reicht der Blick Gottes überall hin und überdauert er die Zeit?
Damit sind wir bei der Jahreslosung von 2023. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Diese Erkenntnis ist eingebunden in Gottes große Geschichte mit seiner Menschheit. Da es Gott gefallen hat, sich inmitten von und durch Geschichte zu offenbaren, werden wir den Spuren Gottes nachspüren.
Und in diesem Nachspüren durch die Geschichte hindurch werden wir auf die Jahreslosung für unser Jahr 2023 stoßen.
Die große Story
Zwischen Innovation und Rebellion
Der Rahmen der ganzen Erzählung rund um die Jahreslosung 2023 ist Gottes große Geschichte mit seiner Menschheit. Es ist eine Geschichte von göttlicher Innovation und von menschlicher Rebellion. Eine Geschichte über Gottes Trauer und menschliche Selbstvernichtung. Eine Geschichte von einem Höllensturz und einer überraschenden Hoffnung. Die große Erzählung geht nämlich mit dem heilbringenden Handeln Gottes weiter.
Der amerikanische Theologe und Pastor Timothy Keller schreibt über das Leiden Gottes in seiner Liebe zu der Menschheit sehr treffend:
„Wir alle wissen, wie Liebe zu Leiden führt. Je mehr ich einen Menschen liebe, desto mehr von dem Schmerz und Leid dieser Person wird auch mein Schmerz. Und so leidet Gott bereits in den ersten Kapiteln der Bibel – wegen unseres Leidens, wegen des Elends der Welt.“
Eine neue Hoffnung
Nachdem Genesis 1–11 in mehreren Akten die globale menschliche Auflehnung verdeutlicht wurde, zoomt die Geschichte Gottes mit den Menschen ab Genesis 12 weit hinein in die Geschichte.
Von diesem Zeitpunkt an beginnt Gottes heilsbringendes Handeln mit der Person Abraham und dem von ihm abstammenden Volk Israel. Auf diese Weise soll Rettung für die ganze Menschheit vollbracht werden. Abraham bekam von Gott die Zusage:
„Und ich will dich zu einer großen Nation machen, und ich will dich segnen, und ich will deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein! Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde!“ (Genesis 12,2–3)
Die drei Player der Geschichte
In die Geschichte um die Jahreslosung sind vor allem drei Personen eingebunden. Die drei Player sind zuerst Abraham, dann Sara und (weit darunter) die Sklavin Hagar.
Abraham, sein ursprünglicher Name war Abram, war der große Patriarch. Er lebte als Nomade im alten Vorderen Orient. Er ist ein Mann, der Reichtum besitzt und ein Standing in seiner Gesellschaft hat. Er ist verheiratet, aber bekommt keine Kinder, obwohl er von Gott das Versprechen bekommen hat, dass er, Abraham, ein Stammvater von einem großen Volk wird.
Seine Frau Sara hieß ursprünglich Sarai. Sie musste entsetzlich unter ihrer Kinderlosigkeit gelitten haben. Während es heute für Paare schon äußerst schmerzhaft ist, wenn sie ungewollt ohne Kinder bleiben, wenn es heute noch Paaren nahezu die Seele zerfetzt, weil trotz aller versuche kein Nachwuchs entsteht; dann war es damals in der antiken Kultur und Umwelt noch einmal eine ganze Liga furchtbarer.
Die große Katastrophe
Kinderlosigkeit war damals entehrend. Es war nahezu eine kosmische Katastrophe, ohne Kinder zu sterben. Die Kinderlosigkeit war wie eine existentielle Kernschmelze. Die tiefe Verzweiflung heißt pure Dunkelheit und sie steigt in die Tiefen der Seele herab. Die Trauer kann einen in den Wahnsinn treiben und die einzig geglaubte Rettung ist ein Kind. Nur ein Kind kann Rettung bringen.
Die Frage die sich dem kanonischen Leser aufdrängt ist eine Weitere: Wenn Gott über den Weg von Abraham eine neue Spur der Hoffnung legen will, einen Weg der Rettung, der über ein erwähltes Volk zum Ziel kommt, wird dieser Weg dann scheitern, wenn Das Ehepaar ohne Kinder stirbt? Ist er auch bei Abraham und seiner Frau Sara „ein Gott, der mich sieht“?
Die antike Form der Leihmutterschaft
Dann gibt es noch Hagar. Sie ist eine Sklavin von Sara. Ursprünglich stammte sie aus Ägypten. Hagar steht also unten in der Hackordnung. Allein Sara hatte die Verfügungsgewalt über sie. Sara forderte Abraham auf, Hagar quasi als Leihmutter zu nutzen, indem er mit Hagar ins Bett gehen sollte.
So sollte das Kind, das daraus entstehen konnte, als Kind der Sara gelten. Gemäß der damaligen Rechtslage war das damals durchaus möglich. Hansjörg Bräumer zitiert in seinem Genesis-Kommentar (Wuppertaler Studienbibel) den Codex Hammurabi (eine außerbiblische Gesetzsammlung zur damaligen Zeit), worin es heißt:
»Gesetzt, jemand hat eine Ehefrau genommen, jedoch hat sie ihm keine Kinder bekommen lassen, deshalb hat er sich vorgenommen, eine Nebenfrau zu nehmen, so darf der Betreffende eine Nebenfrau nehmen; in sein Haus darf er sie einführen; die betreffende Nebenfrau darf sich mit der Ehefrau keinesfalls gleichstellen.
Gesetzt, jemand hat eine Ehefrau genommen, darauf hat sie eine Sklavin ihrem Ehemann gegeben, darauf hat (letztere) Kinder geboren, hernach hat sich die betreffende Sklavin mit ihrer Herrin gleichgestellt, so darf, weil sie Kinder geboren hat, ihre Herrin sie für Geld keinesfalls weggeben, ein Sklavenmal soll sie ihr machen und sie dann zu den Sklavinnen rechnen.«
Wir lesen nicht, dass Hagar gefragt wird, ob sie als „Leihmutter“ für Sara hinhalten möchte. Ihr Einverständnis wird für den Geschlechtsverkehr nicht eingeholt. Es wird für sie entschieden. Sie hatte vermutlich keine andere Wahl.
Das Opfer der Ungeduld
Wir lesen an keiner Stelle, dass Gott dieses Verhalten in irgendeiner Weise abgesegnet oder gar als gut bezeichnet hat. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde Gott dieses Verhalten als sündig bezeichnen.
Eine solche Art von Leihmutterschaft ist ethisch nicht vertretbar. Es scheint so, als ob Sara und Abraham aus Ungeduld einen Plan gefasst haben und Hagar eben „mitmachen“ musste. Das Ergebnis ihres menschlichen Weges war ein Sohn: Ismael.
Die Geschichte führt zu einem vorhersehbaren Konflikt zwischen Sara und Hagar und sorgt dafür, dass sich Hagar in einer unerträglichen Situation wiederfindet. Hagar erlebt nun einen richtigen Leidensweg. Sie wird von Sara, deren Sklavin sie war, drangsaliert.
Vielleicht hat sie sich hier, mitten in dem Leiden, die Frage gestellt: „Sieht Gott mein Leid? Sieht mich Gott in meinem Schmerz? Nimm irgendjemand wahr, dass ich hier bin?“ Bestimmt hat sie zu Gott in ihrer Verzweiflung geschrien (siehe auch Genesis 16,11).
Ein unerträglicher Konflikt
Der Grund dafür, dass sie als Sklavin noch mehr fertig gemacht wurde, war Neid. Allerdings hatte die Story auch ein Vorspiel gehabt. Hagar hatte auf ihre Herrin herabgeschaut, weil sie jetzt so schnell schwanger wurde und Sara eben gar nicht schwanger geworden ist. Mit der Rückendeckung von Abraham behandelte Sara als Rache nun Hagar hart. Sie zeigt ihr (vermutlich mit Gewalt), dass sie Sara immer noch die Herrin ist.
Es kann nicht bei einzelnen Handlungen geblieben sein, welche nur minimal unglücklich verliefen. Vielmehr dürfte Sara das Leben ihrer Sklavin nahezu unerträglich gemacht haben. Auf welche Art müssen wir nicht herausfinden.
Es war mindestens ein unerträglicher Konflikt. Zumindest emotional war die Situation für die schwangere Hagar kaum auszuhalten. Es hat auch bei ihr dazu geführt, dass die Gefahr, welche eine Flucht in die Wüste für sie und das Kind in ihrem Bauch mit sich brachte, klein erschien, der Tod sogar harmloser wirkte als die Weiterexistenz in diesen Umständen.
Wenn die Geschichte auf diese Art und Weise enden würde, wäre es dramatisch und hoffnungslos.
Fortsetzung folgt
Im zweiten Teil werden wir Hagar auf ihrer Flucht begleiten. Wir werden beobachten, wie sie bei Gott in die Seelsorge kommt. Wir erfahren, wie sie eine neue Perspektive eröffnet bekommt und stellen uns danach der Frage, wie der Blick Gottes heute in unsere Lebenswirklichkeit hinein kommt.