Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Teil 1/​2)

Von Johannes Traichel

November 12, 2022

Gedanken zur Jahreslosung 2023 aus Genesis 16,13

Eines der gro­ßen lite­ra­ri­schen Meis­ter­wer­ke des letz­ten Jahr­hun­derts hat J. R. R. Tol­ki­en ver­fasst. „Der Herr der Rin­ge“ ist der Titel. Die­ses Buch und der dazu­ge­hö­ri­ge Film (ich spre­che nicht von der neu­en Serie eines online Kauf­hau­ses!) ver­we­ben Ele­men­te der mensch­li­chen Exis­tenz auf eine groß­ar­ti­ge Art und Weise.

Einer der ulti­ma­ti­ven Schre­ckens­or­te in die­sem Werk ist das dunk­le Land Mordor. Hier herrscht der böse Gewalt­herr­scher Sau­ron. Ein wah­rer Des­pot und eine Blau­pau­se für ver­gan­ge­ne und gegen­wär­ti­ge Dik­ta­to­ren und Gewaltherrscher.

Ein Ele­ment, um sei­ne Gewalt­herr­schaft zu fes­ti­gen und aus­zu­bau­en, ist sein „all­se­hen­des Auge“. Eine „Inno­va­ti­on“, die für frü­he­re Geheim­diens­te ein beschwing­ter Zukunfts­traum war, für heu­ti­ge Unrechts­staa­ten lei­der unheim­lich schnell rea­lis­ti­scher gewor­den ist.

Ist Gott ein Geheimdienstoffizier?

Bei eini­gen dürf­te es sicher ein Unbe­ha­gen aus­lö­sen, wenn das, was sie im Gehei­men tun, an die Öffent­lich­keit kommt, oder wenn auch nur ande­re davon erfah­ren. Sei es ein Geheim­dienst, der die Web­cam gehackt hat, oder jemand ande­res, der alles sieht. Gele­ak­te Daten sor­gen immer wie­der für schlaf­lo­se Näch­te und ver­zwei­fel­te Aktionen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gene­sis 16,13) Die Fra­ge, die Sie sich viel­leicht stel­len ist, ob ich hier Sau­ron, oder gar heu­ti­ge Unrechts­re­gimes mit dem Gott der Bibel ver­glei­chen möch­te? Um es direkt mit Pau­lus zu sagen: „Das sei fer­ne!“ Es dürf­te allen theo­lo­gi­schen Inter­es­sier­ten klar sein, dass die­ser Ver­gleich nicht zutrifft und auch von mir nicht gezo­gen wer­den möchte.

Viel­mehr wird hier ein ver­brei­te­tes Vor­ur­teil über Gott sicht­bar, wel­ches auch in from­men Krei­sen zu fin­den ist. So lau­tet ein altes Kin­der­lied „Pass auf klei­nes Auge, was du siehst … denn der Vater im Him­mel schaut her­ab auf dich, drum pass auf klei­nes Auge, was du siehst.“

Gottes Blick ist anders

Du bist der Gott, der mich sieht.“ Immer und über­all? Die Aus­sa­ge der Jah­res­lo­sung kann sowohl beru­hi­gend als auch bedroh­lich wir­ken. Für man­che ist sie trös­tend, ande­re wie­der­um fin­den sie beun­ru­hi­gend. Haben wir es hier mit einem über­wa­chen­den Gott zu tun?

Kann das Sehen Got­tes auch eine ande­re Kom­po­nen­te haben? Eine beru­hi­gen­de und hei­len­de Bedeu­tung und Wir­kung? Reicht der Blick Got­tes über­all hin und über­dau­ert er die Zeit?

Damit sind wir bei der Jah­res­lo­sung von 2023. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Die­se Erkennt­nis ist ein­ge­bun­den in Got­tes gro­ße Geschich­te mit sei­ner Mensch­heit. Da es Gott gefal­len hat, sich inmit­ten von und durch Geschich­te zu offen­ba­ren, wer­den wir den Spu­ren Got­tes nachspüren.

Und in die­sem Nach­spü­ren durch die Geschich­te hin­durch wer­den wir auf die Jah­res­lo­sung für unser Jahr 2023 stoßen.

Die große Story

Zwischen Innovation und Rebellion

Der Rah­men der gan­zen Erzäh­lung rund um die Jah­res­lo­sung 2023 ist Got­tes gro­ße Geschich­te mit sei­ner Mensch­heit. Es ist eine Geschich­te von gött­li­cher Inno­va­ti­on und von mensch­li­cher Rebel­li­on. Eine Geschich­te über Got­tes Trau­er und mensch­li­che Selbst­ver­nich­tung. Eine Geschich­te von einem Höl­len­sturz und einer über­ra­schen­den Hoff­nung. Die gro­ße Erzäh­lung geht näm­lich mit dem heil­brin­gen­den Han­deln Got­tes weiter.

Der ame­ri­ka­ni­sche Theo­lo­ge und Pas­tor Timo­thy Kel­ler schreibt über das Lei­den Got­tes in sei­ner Lie­be zu der Mensch­heit sehr treffend:

Wir alle wis­sen, wie Lie­be zu Lei­den führt. Je mehr ich einen Men­schen lie­be, des­to mehr von dem Schmerz und Leid die­ser Per­son wird auch mein Schmerz. Und so lei­det Gott bereits in den ers­ten Kapi­teln der Bibel – wegen unse­res Lei­dens, wegen des Elends der Welt.“

Eine neue Hoffnung

Nach­dem Gene­sis 1–11 in meh­re­ren Akten die glo­ba­le mensch­li­che Auf­leh­nung ver­deut­licht wur­de, zoomt die Geschich­te Got­tes mit den Men­schen ab Gene­sis 12 weit hin­ein in die Geschichte.

Von die­sem Zeit­punkt an beginnt Got­tes heils­brin­gen­des Han­deln mit der Per­son Abra­ham und dem von ihm abstam­men­den Volk Isra­el. Auf die­se Wei­se soll Ret­tung für die gan­ze Mensch­heit voll­bracht wer­den. Abra­ham bekam von Gott die Zusage:

Und ich will dich zu einer gro­ßen Nati­on machen, und ich will dich seg­nen, und ich will dei­nen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein! Und ich will seg­nen, die dich seg­nen, und wer dir flucht, den wer­de ich ver­flu­chen; und in dir sol­len geseg­net wer­den alle Geschlech­ter der Erde!“ (Gene­sis 12,2–3)

Die drei Player der Geschichte

In die Geschich­te um die Jah­res­lo­sung sind vor allem drei Per­so­nen ein­ge­bun­den. Die drei Play­er sind zuerst Abra­ham, dann Sara und (weit dar­un­ter) die Skla­vin Hagar.

Abra­ham, sein ursprüng­li­cher Name war Abram, war der gro­ße Patri­arch. Er leb­te als Noma­de im alten Vor­de­ren Ori­ent. Er ist ein Mann, der Reich­tum besitzt und ein Stan­ding in sei­ner Gesell­schaft hat. Er ist ver­hei­ra­tet, aber bekommt kei­ne Kin­der, obwohl er von Gott das Ver­spre­chen bekom­men hat, dass er, Abra­ham, ein Stamm­va­ter von einem gro­ßen Volk wird.

Sei­ne Frau Sara hieß ursprüng­lich Sarai. Sie muss­te ent­setz­lich unter ihrer Kin­der­lo­sig­keit gelit­ten haben. Wäh­rend es heu­te für Paa­re schon äußerst schmerz­haft ist, wenn sie unge­wollt ohne Kin­der blei­ben, wenn es heu­te noch Paa­ren nahe­zu die See­le zer­fetzt, weil trotz aller ver­su­che kein Nach­wuchs ent­steht; dann war es damals in der anti­ken Kul­tur und Umwelt noch ein­mal eine gan­ze Liga furchtbarer.

Die große Katastrophe

Kin­der­lo­sig­keit war damals ent­eh­rend. Es war nahe­zu eine kos­mi­sche Kata­stro­phe, ohne Kin­der zu ster­ben. Die Kin­der­lo­sig­keit war wie eine exis­ten­ti­el­le Kern­schmel­ze. Die tie­fe Ver­zweif­lung heißt pure Dun­kel­heit und sie steigt in die Tie­fen der See­le her­ab. Die Trau­er kann einen in den Wahn­sinn trei­ben und die ein­zig geglaub­te Ret­tung ist ein Kind. Nur ein Kind kann Ret­tung bringen.

Die Fra­ge die sich dem kano­ni­schen Leser auf­drängt ist eine Wei­te­re: Wenn Gott über den Weg von Abra­ham eine neue Spur der Hoff­nung legen will, einen Weg der Ret­tung, der über ein erwähl­tes Volk zum Ziel kommt, wird die­ser Weg dann schei­tern, wenn Das Ehe­paar ohne Kin­der stirbt? Ist er auch bei Abra­ham und sei­ner Frau Sara „ein Gott, der mich sieht“?

Die antike Form der Leihmutterschaft

Dann gibt es noch Hagar. Sie ist eine Skla­vin von Sara. Ursprüng­lich stamm­te sie aus Ägyp­ten. Hagar steht also unten in der Hack­ord­nung. Allein Sara hat­te die Ver­fü­gungs­ge­walt über sie. Sara for­der­te Abra­ham auf, Hagar qua­si als Leih­mut­ter zu nut­zen, indem er mit Hagar ins Bett gehen sollte.

So soll­te das Kind, das dar­aus ent­ste­hen konn­te, als Kind der Sara gel­ten. Gemäß der dama­li­gen Rechts­la­ge war das damals durch­aus mög­lich. Hans­jörg Bräu­mer zitiert in sei­nem Gene­sis-Kom­men­tar (Wup­per­ta­ler Stu­di­en­bi­bel) den Codex Ham­mu­ra­bi (eine außer­bi­bli­sche Gesetz­samm­lung zur dama­li­gen Zeit), wor­in es heißt:

»Gesetzt, jemand hat eine Ehe­frau genom­men, jedoch hat sie ihm kei­ne Kin­der bekom­men las­sen, des­halb hat er sich vor­ge­nom­men, eine Neben­frau zu neh­men, so darf der Betref­fen­de eine Neben­frau neh­men; in sein Haus darf er sie ein­füh­ren; die betref­fen­de Neben­frau darf sich mit der Ehe­frau kei­nes­falls gleichstellen.
Gesetzt, jemand hat eine Ehe­frau genom­men, dar­auf hat sie eine Skla­vin ihrem Ehe­mann gege­ben, dar­auf hat (letz­te­re) Kin­der gebo­ren, her­nach hat sich die betref­fen­de Skla­vin mit ihrer Her­rin gleich­ge­stellt, so darf, weil sie Kin­der gebo­ren hat, ihre Her­rin sie für Geld kei­nes­falls weg­ge­ben, ein Skla­ven­mal soll sie ihr machen und sie dann zu den Skla­vin­nen rechnen.«

Wir lesen nicht, dass Hagar gefragt wird, ob sie als „Leih­mut­ter“ für Sara hin­hal­ten möch­te. Ihr Ein­ver­ständ­nis wird für den Geschlechts­ver­kehr nicht ein­ge­holt. Es wird für sie ent­schie­den. Sie hat­te ver­mut­lich kei­ne ande­re Wahl.

Das Opfer der Ungeduld

Wir lesen an kei­ner Stel­le, dass Gott die­ses Ver­hal­ten in irgend­ei­ner Wei­se abge­seg­net oder gar als gut bezeich­net hat. Mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit wür­de Gott die­ses Ver­hal­ten als sün­dig bezeichnen.

Eine sol­che Art von Leih­mut­ter­schaft ist ethisch nicht ver­tret­bar. Es scheint so, als ob Sara und Abra­ham aus Unge­duld einen Plan gefasst haben und Hagar eben „mit­ma­chen“ muss­te. Das Ergeb­nis ihres mensch­li­chen Weges war ein Sohn: Ismael.

Die Geschich­te führt zu einem vor­her­seh­ba­ren Kon­flikt zwi­schen Sara und Hagar und sorgt dafür, dass sich Hagar in einer uner­träg­li­chen Situa­ti­on wie­der­fin­det. Hagar erlebt nun einen rich­ti­gen Lei­dens­weg. Sie wird von Sara, deren Skla­vin sie war, drangsaliert.

Viel­leicht hat sie sich hier, mit­ten in dem Lei­den, die Fra­ge gestellt: „Sieht Gott mein Leid? Sieht mich Gott in mei­nem Schmerz? Nimm irgend­je­mand wahr, dass ich hier bin?“ Bestimmt hat sie zu Gott in ihrer Ver­zweif­lung geschrien (sie­he auch Gene­sis 16,11).

Ein unerträglicher Konflikt

Der Grund dafür, dass sie als Skla­vin noch mehr fer­tig gemacht wur­de, war Neid. Aller­dings hat­te die Sto­ry auch ein Vor­spiel gehabt. Hagar hat­te auf ihre Her­rin her­ab­ge­schaut, weil sie jetzt so schnell schwan­ger wur­de und Sara eben gar nicht schwan­ger gewor­den ist. Mit der Rücken­de­ckung von Abra­ham behan­del­te Sara als Rache nun Hagar hart. Sie zeigt ihr (ver­mut­lich mit Gewalt), dass sie Sara immer noch die Her­rin ist.

Es kann nicht bei ein­zel­nen Hand­lun­gen geblie­ben sein, wel­che nur mini­mal unglück­lich ver­lie­fen. Viel­mehr dürf­te Sara das Leben ihrer Skla­vin nahe­zu uner­träg­lich gemacht haben. Auf wel­che Art müs­sen wir nicht herausfinden.

Es war min­des­tens ein uner­träg­li­cher Kon­flikt. Zumin­dest emo­tio­nal war die Situa­ti­on für die schwan­ge­re Hagar kaum aus­zu­hal­ten. Es hat auch bei ihr dazu geführt, dass die Gefahr, wel­che eine Flucht in die Wüs­te für sie und das Kind in ihrem Bauch mit sich brach­te, klein erschien, der Tod sogar harm­lo­ser wirk­te als die Wei­ter­exis­tenz in die­sen Umständen.

Wenn die Geschich­te auf die­se Art und Wei­se enden wür­de, wäre es dra­ma­tisch und hoffnungslos.

Fortsetzung folgt

Im zwei­ten Teil wer­den wir Hagar auf ihrer Flucht beglei­ten. Wir wer­den beob­ach­ten, wie sie bei Gott in die Seel­sor­ge kommt. Wir erfah­ren, wie sie eine neue Per­spek­ti­ve eröff­net bekommt und stel­len uns danach der Fra­ge, wie der Blick Got­tes heu­te in unse­re Lebens­wirk­lich­keit hin­ein kommt.


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Johannes Traichel

Über den Autor

Johannes Traichel ist Pastor der FeG in Donaueschingen.
Der Theologe verfasste die Bücher "Die christliche Taufe" (2020) und "Evangelikale und Homosexualität" (2022). Hinzu kommen Aufsätze in Themenbänden, die sich mit der Systematischen Theologie beschäftigen.
Dazu ist Traichel ein begeisterter und leidenschaftlicher Kaffeetrinker.

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