Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Teil 2/​2)

Von Johannes Traichel

November 16, 2022

Auf der Flucht

Bevor Hagar zu einem beson­de­ren Got­tes­er­leb­nis kom­men soll­te, ist sie auf der Flucht. Auf der Flucht vor ihrer Gegen­wart, wel­che bereits durch die Ver­gan­gen­heit vor­be­rei­tet war. Eine Flucht aus Ver­zweif­lung in die Wüs­te, dem unwirk­li­chen Ort.

Hans­jörg Bräu­mer schreibt hierzu:

Hagar fin­det ihre Lage uner­träg­lich und flieht. In der »Flucht ins Hoff­nungs­lo­se« sieht Hagar die ein­zi­ge Mög­lich­keit ihrer Befrei­ung. Sie ris­kiert dabei ihr Leben und das Leben des wer­den­den Kin­des. »Die Flucht der Hagar aus der ›recht­mä­ßi­gen‹ Unter­drü­ckung durch Sara in die Wüs­te, allein allen Gefah­ren der Wüs­te aus­ge­setzt, das ist ein Urbild mensch­li­chen Frei­heits­wil­lens.«“ (Bräu­mer, Das ers­te Buch Mose (12–36, S. 110)

Mit­ten in dem lebens­feind­li­chen Ort, der Wüs­te, soll Hagar Gott als den ken­nen­ler­nen, der sie sieht. Als den Gott der ihren Schmerz fühlt, der ihr Leid kennt, der ihre Trau­er ver­steht und der mit ihr den Weg geht.

Sie kommt an einem Brun­nen in der Wüs­te an. Die Wei­ter­rei­se war unklar. Plant sie den Gang nach Ägyp­ten, oder ist sie voll­kom­men ori­en­tie­rungs­los? Zumin­dest wird Hagar vom Engel Got­tes an die­sem Brun­nen in der Wüs­te gefun­den. Hier beginnt ihre Seelsorge.

In der Seelsorge Gottes

Sie wird vom Engel des Herrn in die Seel­sor­ge Got­tes genom­men. Es wird deut­lich: Gott hat ihr Leid barm­her­zig und mit­lei­dend gese­hen. Gese­hen und nicht nur kalt regis­triert. Gese­hen und damit auch eingegriffen.

Der Blick Got­tes nimmt die Ver­gan­gen­heit und Zukunft von Hagar in den Blick und nimmt sich ihrer an. Die Skla­vin Hagar erfuhr durch die Begeg­nung mit dem Engel des Herrn eine Got­tes­be­geg­nung. Eine Begeg­nung mit dem sie sehen­den Gott.

Der Engel des Herrn zeigt der Hagar, dass sie Gott nicht egal ist. Der Blick Got­tes traf Hagar, als ihr Leid zum Höhe­punkt gekom­men ist. Das Leid und die Fra­gen nach dem sehen­den Gott kom­men hier zusammen.

Der Engel des Herrn nimmt sie in die Seel­sor­ge. Er fragt sie: „Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, woher kommst du, und wohin gehst du? Und sie sag­te: Vor Sarai, mei­ner Her­rin, bin ich auf der Flucht.“ (Gene­sis 16,8)

Hagar darf ihr erlit­te­nes Leid kla­gen. Sie bekommt in der gött­li­chen Seel­sor­ge die Mög­lich­keit, ihren Schmerz von der See­le zu sprechen.

Ein Versprechen und ein Befehl

Hagar bekommt dann aber auch einen Befehl und ein Ver­spre­chen. Sie soll zurück­keh­ren und Gott wird ihren Nach­kom­men Isma­el zu einem gro­ßen Volk machen. Wört­lich fügt der Engel des Herrn hinzu:

Und der Engel des HERRN sprach wei­ter zu ihr: Sie­he, du bist schwan­ger und wirst einen Sohn gebä­ren; dem sollst du den Namen Isma­el geben, denn der HERR hat auf dein Elend gehört. Und er, er wird ein Mensch wie ein Wild­esel sein; sei­ne Hand gegen alle und die Hand aller gegen ihn, und allen sei­nen Brü­dern setzt er sich vors Gesicht.“ (Gene­sis 16,11–12)

Hagar lern­te: Wenn Gott ins Leben tritt, dann wer­den die Umstän­de nicht unbe­dingt leich­ter, aber im Fall von Hagar änder­te sich ihre Per­spek­ti­ve. Gott reißt den Vor­hang der Dun­kel­heit und Aus­weg­lo­sig­keit auf und zeigt ihr den Weg, auf dem die Spu­ren der Hoff­nung zu einem gro­ßen Gesamt­bild zusammenfließen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.” Das ist Hagars Fazit zu ihrer Begeg­nung mit Gott. Es ist eine Ant­wort auf Got­tes Begeg­nung und die Ermu­ti­gung durch Gott.

Das „Sehen“ Got­tes zieht sich durch die Bibel hin­durch. Es star­te­te nicht bei Hagar und es ende­te nicht bei Hagar.

Wenn Gott sieht – eine Spurensuche in der Bibel

Wie handelt Gott, wenn er das Leid sieht?

Wir wer­den uns nun auf eine Spu­ren­su­che durch die Bibel machen, wie sich der Blick Got­tes dort aus­wirk­te. Ich möch­te dies anhand von drei Sta­tio­nen darlegen.

Der Exodus von dem Volk Isra­el aus Ägyp­ten gilt als ein grund­le­gen­des Para­dig­ma von Got­tes heil­schaf­fen­den Han­deln in sei­ner Geschich­te mit der Welt. Auch der Exodus beginnt mit dem Blick Got­tes. Mit dem Gott, der das Leid sei­nes Vol­kes Isra­el sieht (Ex 3,7). Der die Schreie sei­nes Vol­kes hört und zur Ret­tung kommt (Ex 3,7–8). So sagt Gott zu Mose, als er die­sen in sei­nen Dienst zum Anfüh­rer des Vol­kes Isra­els beruft:

Und der HERR sprach: Ich habe das Elend mei­nes Volks in Ägyp­ten gese­hen, und ihr Geschrei über ihre Bedrän­ger habe ich gehört; ich habe ihre Lei­den erkannt.“ (Ex 3,7)

Die Fol­ge des Sehen Got­tes war ein Pro­zess zur Befrei­ung Isra­els aus der Skla­ve­rei. Got­tes Sehen ver­än­der­te die Geschich­te. Got­tes Blick bewirk­te, dass ein Pro­zess der Befrei­ung und der Hei­lung ins Leben rief.

Wenn Gott Unrecht sieht – was dann?

Die zwei­te Sta­ti­on geht auf die Zeit von Abra­ham zurück. Es ist aller­dings nach der Geburt von Isma­el und vor der Geburt von Isaak. In die­sem Fall hat Abra­ham eine Got­tes­be­geg­nung. Neben der Wie­der­ho­lung und Bekräf­ti­gung von dem Ver­spre­chen Got­tes gegen­über Abra­ham und Sara, wird auch auf die Situa­ti­on einer Sor­gen-Stadt ein­ge­gan­gen. Die Rede ist von Sodom. Gott sagt zu Abraham:

Es ist ein gro­ßes Geschrei über Sodom und Gomor­ra, denn ihre Sün­den sind sehr schwer. Dar­um will ich hin­ab­fah­ren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekom­men ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wis­se.“ (Gen 18,20–21)

Hier führ­te Got­tes Blick dazu, dass Unge­rech­tig­keit und deren Ver­ur­sa­cher gerich­tet wur­den. Dage­gen wur­de Lot mit sei­ner Fami­lie aus der Stadt geret­tet (die Geschich­te mit Lots Frau wird hier mal außer Acht gelassen).

Wie sieht Jesus uns?

Die drit­te Sta­ti­on betrifft Jesus und eine gro­ße Men­ge Men­schen. In Mat­thä­us 14,14 wird berichtet:

Und als Jesus es hör­te, zog er sich von dort in einem Boot abseits an einen öden Ort zurück. Und als die Volks­men­gen es hör­ten, folg­ten sie ihm zu Fuß aus den Städ­ten. Und als er aus­stieg, sah er eine gro­ße Volks­men­ge, und er wur­de inner­lich bewegt über sie und heil­te ihre Kranken.“

Hier sieht Jesus die Situa­ti­on und lässt sich davon berüh­ren. Das führt dazu, dass Jesus ihre Krank­hei­ten heilt und ihnen das Evan­ge­li­um vom Reich Got­tes predigt.

Sieht Gott heute die Situationen in unserer Welt?

Was bleibt von die­ser Geschich­te für das 21. Jahr­hun­dert und für das Jahr 2023?

Der Blick Got­tes ver­än­dert alles.

Der Blick Got­tes wirkt hei­lend und lebens­för­dernd, aber auch kor­ri­gie­rend und bringt auch Gericht.

Hier haben wir uns Anfra­gen gefal­len zu las­sen. Sieht Gott die heu­ti­ge Welt mit sei­nem Blick an? Wenn er der Gott ist, der sieht, war­um ist unse­re Welt dann so, wie sie eben ist?

Nur zur Erin­ne­rung, auch wenn dies die Stim­mung etwas trü­ben dürf­te: Wir haben 2022 die Erschüt­te­rung eines Krie­ges mit­ten in Euro­pas erlebt. Hier wur­den wir mit einem Schre­cken dar­an erin­nert, dass Krieg und der Über­fall eines Lan­des durch einen Nach­bar auch im Euro­pa des 21. Jahr­hun­derts mög­lich ist.

Fami­li­en wur­den in der Fol­ge zer­stört. Kin­der wur­den zu Wai­sen, ver­lo­ren Vater oder auch Mut­ter. Eltern ver­lo­ren ihre Kin­der. Ande­re erfuh­ren, dass ihre Kin­der in Kriegs­ge­fan­gen­schaft gera­ten sind. Sie machen sich Sor­gen dar­über, ob ihre Lie­ben miss­han­delt wer­den und ob sie den Hor­ror über­haupt über­le­ben und danach wei­ter­le­ben können.

Ist Gott heu­te noch „ein Gott, der mich sieht“?

Sieht Gott die Sklavinnen in Deutschland?

Eine ande­re Situa­ti­on fin­det mit­ten in Deutsch­land statt. Skla­ve­rei und Men­schen­han­del. Deutsch­land gilt als das Bor­dell Euro­pas. Laut dem Deutsch­land­funk (14.04.2020) machen über 90% der Pro­sti­tu­ier­ten das nicht frei­wil­lig. Sie wer­den gezwun­gen, ver­kauft, ver­sklavt, miss­han­delt und ver­ge­wal­tigt. Ein uner­mess­li­ches Leid fin­det vor unse­rer Haus­tü­re statt. Täglich!

Die Geset­ze von Deutsch­land begüns­ti­gen die­se Situa­ti­on und damit das Leid der Sex-Skla­vin­nen. Sieht Gott ihr Leid. Kön­nen sie auch sagen: „Du bist ein Gott, der mich sieht“?

Sieht Gott die nagende Einsamkeit?

Die letz­te Situa­ti­on. Ein­sam­keit ist das Schlag­wort. Eine Frau wur­de von ihrem Mann bzw. ihrem Freund ver­las­sen. Eltern hat sie nicht mehr oder sie haben kei­nen Kon­takt mehr. Kin­der hat sie nicht; die­ses Schick­sal teilt sie sich mit Sara und Abraham.

An Hei­lig­abend wird es beson­ders hart. Sie sitzt allei­ne vor dem Fern­se­her und ver­sucht die fins­te­ren Gestal­ten der Ein­sam­keit in Schach zu hal­ten. Erfolg­los. Die Ein­sam­keit frisst sich wie Krebs durch ihre Kno­chen. Auch mit Alko­hol lässt sich die­ser Schmerz nicht gänz­lich betäuben.

Wo ist der Gott, der sie sieht?

Das Sehen Gottes und das Kreuz

Sieht Gott die heu­ti­gen Situa­tio­nen? Der from­me Leser ist geneigt sofort und wie aus der Pis­to­le geschos­sen „ja, selbst­ver­ständ­lich“ zu ant­wor­ten. Der skep­ti­sche Leser fragt: „Wo ist denn Gott, wenn er mich sieht?“

Bei die­sen Fra­gen kom­men wir an dem zen­tra­len Ort der Welt- und Heils­ge­schich­te nicht vor­bei. Jeru­sa­lem im Jahr 30 n.Chr. Genau­er gesagt, etwas außer­halb der Stadt­mau­er an dem Hen­kers­hü­gel Gol­ga­tha. Gott, der in Jesus Chris­tus Mensch wur­de, steht im Mittelpunkt.

Sei­ne Mensch­heit führt die Geschich­te vom Gar­ten Eden fort und bringt sie auf einen neu­en Höhe­punkt. Und Gott? Gott lie­fert sich sei­ner Mensch­heit aus. An Kar­frei­tag hät­te Fried­rich Nietz­sche teil­wei­se recht gehabt: „Gott ist tot … wir haben ihn getö­tet“. Aber sind wir noch bei der Jah­res­lo­sung 2023? Wo ist hier am Kreuz das Sehen Gottes?

Wie handelt der Gott, der uns sieht?

Der Gott, der das größ­te Leid der Mensch­heit sieht, ist in Chris­tus her­ab­ge­stie­gen, um selbst zu han­deln. Der sehen­de Gott ist der han­deln­de Gott, der das größ­te Pro­blem, die Got­tes­tren­nung der Mensch­heit, angeht.

Dies tut er, indem er sich selbst sei­nem eige­nen, dem gött­li­chen Gericht aus­lie­fert, in die Hän­de der Mensch­heit gibt und das Urteil der sün­di­gen Mensch­heit an sich selbst vollzieht.

Am Kreuz sehen wir den sehen­den Gott im Ori­gi­nal. Der sehen­de Gott ist der lei­den­de Gott und der ret­ten­de Gott. Gleich­zei­tig sehen wir am Kreuz auch den rich­ten­den Gott und den recht­fer­ti­gen­den Gott, der sou­ve­rän herrscht und die Mäch­te des Bösen, der Sün­de und des Teu­fels besiegt.

Der lei­den­de Gott ist der herr­schen­de Gott. Die­ser sieg­rei­che Gott ist der sehen­de Gott. Und die­ser eine wah­re Gott gibt sei­ner Mensch­heit einen Auf­trag. Einen Auf­trag für die Welt und für die Mensch­heit. Einen Auf­trag als Eben­bil­der Got­tes, Got­tes Wil­len zu bezeugen.

Das Sehen Gottes und der Auftrag der Kirche

Als Hagar dem sehen­den Gott begeg­ne­te, bekam sie auch einen Auf­trag. Der Gott, der unse­re Welt mit ihren gan­zen Brü­chen, mit der Dun­kel­heit und dem Schmerz sieht, hat sei­ner Kir­che und damit jedem ein­zel­nen Glau­ben­den einen Auf­trag gege­ben: Got­tes hei­len­de Königs­herr­schaft in der Welt zu bezeu­gen und nach die­sen Maß­stä­ben zu leben.

In Mat­thä­us 28,18–20 steht über den Auf­trag von Jesus an sei­ne Nachfolger:

Und Jesus trat zu ihnen und rede­te mit ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gege­ben im Him­mel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Natio­nen zu Jün­gern, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Soh­nes und des Hei­li­gen Geis­tes, und lehrt sie alles zu bewah­ren, was ich euch gebo­ten habe! Und sie­he, ich bin bei euch alle Tage bis zur Voll­endung des Zeitalters.“

Und in Johan­nes 19,21 lesen wir:

Jesus sprach nun wie­der zu ihnen: Frie­de euch! Wie der Vater mich aus­ge­sandt hat, sen­de ich auch euch.“

Der Sehen­de Gott will uns als han­deln­de Men­schen in sei­ne Sen­dung ein­be­zie­hen, durch die er, der all­mäch­ti­ge Gott, sei­ne ret­ten­de Herr­schaft aus­brei­ten und bezeu­gen möch­te. Gott will durch sei­ne Men­schen handeln!

Die Eben­bil­der Got­tes sol­len sich im Blick Got­tes als gese­hen wie­der­fin­den, erneu­ern las­sen und sei­ne gute Bot­schaft der Welt brin­gen. Dies schafft die Hei­lung von den größ­ten Pro­ble­men über­haupt: den Pro­ble­men der Got­tes­tren­nung, der Sün­de und der Schuld.

Die Spuren der Hoffnung im Rückspiegel

Wie man das Leben vor­wärts lebt und Rück­wärts erst ver­steht, so wer­den die Spu­ren der Hoff­nung durch den Blick Got­tes oft erst im Nach­hin­ein gese­hen; eben im Rück­spie­gel des Lebens.

Das gan­ze Bild lässt sich oft erst dann sehen, wenn wir uns im Blick Got­tes als erkannt erken­nen. Wenn wir Chris­tus sehen, wie er ist und wenn er uns im Rück­blick auf unser Leben sein Han­deln erklärt.

Bis dahin gilt das Ver­trau­en auf ihn, den sehen­den Gott. Denn „du bist ein Gott, der mich sieht.“


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Johannes Traichel

Über den Autor

Johannes Traichel ist Pastor der FeG in Donaueschingen.
Der Theologe verfasste die Bücher "Die christliche Taufe" (2020) und "Evangelikale und Homosexualität" (2022). Hinzu kommen Aufsätze in Themenbänden, die sich mit der Systematischen Theologie beschäftigen.
Dazu ist Traichel ein begeisterter und leidenschaftlicher Kaffeetrinker.

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