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Adolf Schlatter und das Dritte Reich
Adolf Schlatter erlebte in seinen letzten Lebensjahren, wie sich der dunkle Schatten der Nazi-Diktatur über Deutschland legte. Keiner konnte sich diesem völlig entziehen. Schlatter erlebte die Machtergreifung von Hitlers Nationalsozialisten und den sich ausbreitenden Antisemitismus noch mit. Doch welche Position nahm der Theologe ein, als er mit der Ideologie der Nazis konfrontiert wurde?
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Das Dritte Reich, dessen Anfänge Adolf Schlatter im Alter von über 80 Jahren noch miterlebte, stellt das mit Abstand dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte dar. Dieses wurde oft und ausführlich dargelegt (siehe z. B. Ian Kershaws Werk „Höllensturz”). Eine sehr unrühmliche Rolle spielten in dieser Zeit auch die Kirchen. Viele begabte Theologen, leidenschaftliche Prediger und Kirchen ließen sich von der Ideologie der Nazis verführen. Gestandene Theologen traten aus Überzeugung in die NSDAP ein, huldigten ihrer antichristlichen Ideologie und machten sich als Täter aktiv mitschuldig.
Einige Beispiele:
Theologen im Nationalsozialismus – Emanuel Hirsch
Emanuel Hirsch war Kirchenhistoriker in Bonn, wurde zu einem Wortführer der Deutschen Christen und später theologischer Berater des Reichsbischofs Ludwig Müller. Zudem denunzierte Hirsch Kollegen und Studenten und hatte beträchtlichen Anteil daran, dass Karl Barth seine Lehrerlaubnis in Bonn verlor.
Theologen im Nationalsozialismus – Walter Grundmann
Walter Grundmann war ein ehemaliger Student Adolf Schlatters und verfasste später mehrere Artikel für das „Theologische Wörterbuch für das Neue Testament” (ThWNT). Auch er war ein überzeugter Nationalsozialist und Antisemit. In einem seiner Bücher vereinnahmte er Jesus für die NS-Rassenlehre und sprach ihm seine jüdische Herkunft ab. Zudem leitete Walter Grundmann das in Eisenach ansässige „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“.
Theologen im Nationalsozialismus – Gerhard Kittel
Gerhard Kittel übernahm 1926 den Lehrstuhl Adolf Schlatters an der Universität Tübingen und war ab 1933 Herausgeber des ThWNT. Letzteres widmete er seinem Vorgänger. Wie sein Assistent Walter Grundmann war auch Gerhard Kittel Mitglied der NSDAP.
Kittel unterstützte die Ideologie der Nazis vor allem durch seine publizistische Tätigkeit. Beispielsweise forderte er in seiner Schrift „Die Judenfrage” aus dem Jahr 1933 die Vernichtung der Juden bzw. deren vollständige Vertreibung aus Europa und eine anschließende Isolierung. Zudem wirkte Kittel in verschiedenen Institutionen der Nationalsozialisten mit und vertrat auf „wissenschaftlicher Ebene” deren Ideologie.
Weitere den Nationalsozialisten nahestehenden Theologen
An der Tübinger Universität war Gerhard Kittel dabei nicht allein. Zu nennen wären ebenso der katholische Theologe Karl Adam und der Neutestamentler Karl Georg Kuhn. Auch namhafte Theologen an anderen Universitäten verfielen dem Nationalsozialismus. So musste Johannes Behm, der mehrere Artikel für das ThWNT verfasste, im Rahmen der Entnazifizierung seine akademische Karriere in Berlin beenden. Auch der Alttestamentler Artur Weiser sowie der Tübinger Theologe Hans Rückert waren seit 1933 NSDAP-Mitglieder.
Adolf Schlatter und seine Position zum Nationalsozialismus
Wie sah es mit Adolf Schlatter aus? Schlatter kannte sämtliche der Theologen, die Teil der nationalsozialistischen Bewegung waren, und war mit einigen von ihnen in intensiven Gesprächen. Mit seinem Tübinger Nachfolger Gerhard Kittel, dem überzeugten Nationalsozialisten und Mitglied in der NSDAP, verband Schlatter dazu noch eine herzliche Freundschaft.
Dennoch kann es als gesichert gelten, dass Adolf Schlatter Hitler und den Nationalsozialismus ablehnte. Er beklagte auch eine deutsche Neigung, fanatischen politischen Führungspersönlichkeiten nachzulaufen.
Werner Neuer schreibt über Schlatters Vortrag vor der DCSV (Deutsche Christliche Studentenvereinigung) 1933 in Tübingen, in dem er die NS-Ideologie angriff:
„Angesichts der Tatsache, daß sich in der Tübinger Gruppe zu jenem Zeitpunkt viele Anhänger und Sympathisanten des Nationalsozialismus befanden, kann man Schlatters unverblümte und von taktischen Gesichtspunkten auffallend freie Absage an die NS-Ideologie ein beträchtliches Maß an Unerschrockenheit nicht absprechen. Dies gilt um so mehr, als die nationalsozialistische Diktatur im Juli 1933 schon fest etabliert war und die Verfolgung politischer Gegner bereits im März mit der ersten Verhaftungswelle von Regimegegnern und der Einrichtung der ersten Konzentrationslager begonnen hatte.“
(Neuer, Schlatter, S. 733).
Die Vertreter der sogenannten „Deutschen Christen“ bezeichnete Adolf Schlatter abschätzig als „Braunhemden“ und als Nazis. Er sah ein von der NSDAP gefördertes Neuheidentum am Werk.
An seinen Sohn Theodor schrieb Schlatter im März 1934:
„Gestört wird der Nazismus von uns deshalb, weil er von einem Ruf Gottes nichts weiß. Er ruft zum Volk, wir rufen zu Gott. Das ist von uns aus nicht Streit; vom Nazismus aus ist es Streit.“
(zitiert in Neuer, Schlatter, S. 755).
Adolf Schlatter und sein Verhältnis zu den Juden
Für Adolf Schlatter war der Fakt, dass Jesus ein Jude war, klar (Schlatter, “Das christliche Dogma„, S. 283). Er schrieb im Rückblick auf seine Lebensarbeit:
“Darum sah ich in Jesus den Juden, nicht, obwohl ich den Sohn Gottes in ihm sah, und den Sohn Gottes, nicht, obwohl er Jude war, sondern er stand deshalb, weil er mit jeder Bewegung seiner Seele jüdisch empfand, jüdisch dachte und jüdisch wollte, als das Werk Gottes vor mir.„
(Schlatter, Rückblick auf meine Lebensarbeit, S. 52).
Auch war Schlatter der Exeget seiner Zeit schlechthin, der den jüdischen Charakter und Hintergrund des Neuen Testaments betonte und für seine Exegese herausarbeitete.
Adolf Schlatter und seine Position zur nationalsozialistischen Rassenideologie
Trotz seiner grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Juden muss Adolf Schlatters Position gegenüber der nationalsozialistischen Rassenideologie differenziert und durchaus kritisch bewertet werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass Schlatter die Rassengesetze der Nationalsozialisten ablehnte. Damit unterschied er sich deutlich von seinem Kollegen Gerhard Kittel, der einer ihrer schärfsten Verfechter in kirchlichen Reihen war.
Dennoch muss man bei Schlatter von einer fehlenden Vehemenz in seiner Ablehnung sprechen, besonders in Bezug auf das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” und des darin enthaltenen sogenannten „Arierparagraphen”. Dieses Gesetz untersagte Menschen jüdischen Glaubens die Ausübung des Staatsdienstes und diente später dazu, diese Menschen vollständig aus dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben zu verdrängen.
Aus heutiger Sicht ist es zutiefst bedauerlich, dass Schlatter trotz seiner fundierten Kritik an den Nationalsozialisten keine Notwendigkeit zum unbedingten Widerstand der Kirche gegen dieses Gesetz sah. An diesem Punkt erscheint er leider zu inkonsequent und gegenüber dem nationalsozialistischen Staat zu vorsichtig – anders als es z. B. in der Bekennenden Kirche der Fall war.
Werner Neuer schreibt zu diesem Thema:
„Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß Schlatter trotz seiner in vielerlei Hinsicht so klaren Sicht des Nationalsozialismus und der Deutschen Christen und seiner persönlichen Ablehnung des Arierparagraphen bei seiner theologischen und kirchlichen Bewertung des Arierparagraphen im Jahr 1933 noch nicht zu jener kompromisslosen Klarheit durchdrang, wie sie die bekennenden Gruppen um Bonhoeffer, Künneth und Niemöller gekennzeichnet hat.“
(Neuer, Schlatter, S. 753).
Adolf Schlatter und der späte Widerspruch gegen den Rassismus
Adolf Schlatter sah sich erst zu starkem Widerspruch gegen die Nazis genötigt, nachdem sich die Geschichte 1935 mit den Nürnberger Rassegesetzen weiter in den Abgrund des nationalsozialistischen Sumpfes bewegt hatte. Schlatter veröffentlichte als Reaktion eine Schrift mit dem missverständlichen Titel „Wird der Jude über uns siegen? Ein Wort für die Weihnachtszeit.“ In dieser Schrift rechnete Schlatter mit den Versuchen ab, Jesus für die nationalsozialistische Ideologie zu vereinnahmen. Er warf dem Rassendenken der Nationalsozialisten vor, Jesus abzulehnen.
Warnend schrieb Schlatter über die Träume der Nazis, über andere Völker zu herrschen:
„Würde, wenn dieser neue Tag wirklich käme, die Sonne nicht über einem Schlachtfeld aufgehen, das voll von Leichen und Ruinen wäre?“
(Schlatter, “Wird der Jude über uns siegen?„, S. 8; zitiert in Neuer, Schlatter, S. 759).
Schlatters nahezu prophetische Warnung sollte durch den Zweiten Weltkrieg auf furchtbare Art und Weise wahr werden. Glücklicherweise endete sie jedoch nicht mit einem Triumph der Nationalsozialisten, sondern letztendlich mit deren Untergang. Zu seinen Lebzeiten musste sich der mittlerweile 83-jährige Adolf Schlatter jedoch mit der Wut und dem Hass der Nazis auseinandersetzen, die ihm infolge der Veröffentlichung seiner Schrift entgegenschlug. Die Gestapo beschlagnahmte sein Werk, nachdem bereits 40.000 Exemplare davon verkauft worden waren.
Aufgrund des widersprüchlichen Titels dürfte Schlatters Schrift auch größere Kreise in den Reihen der NSDAP angezogen haben, was dort deutlichen Widerspruch und Ärger auslöste. So wurde Schlatter als „Tattergreis“ beschimpft, welcher vom neuen Staat nichts verstehe und ein „Karnevalsprinz“ sei. Adolf Schlatter dürfte diese Reaktionen als Ehrung aufgefasst haben. Es zeigte einerseits, dass ihm die Nationalsozialisten ein Gräuel waren, er andererseits aber auch bei ihnen verhasst war.
Adolf Schlatters Unterschätzung der Nationalsozialisten
Adolf Schlatter unterschätzte in seiner Schrift jedoch auf tragische Weise den Vernichtungswillen der Nazis gegenüber den Juden. Hier war seine Sicht nicht so klar wie die anderer Theologen der Bekennenden Kirche. Schlatters Wahrnehmung vom Jahr 1935 schien gewesen zu sein, dass weitere Diskriminierung und Entrechtung über das bisherige Maß hinaus nicht zu erwarten seien.
Werner Neuer schreibt hierzu:
„Und doch zeigte die 1942 beginnende organisierte Judenvernichtung auf bittere Weise, daß Schlatter die Vernichtungsbereitschaft des nationalsozialistischen Antisemitismus nicht wahrnahm oder unterschätzte. Auch wenn der spätere Holocaust zum damaligen Zeitpunkt nicht vorhersehbar war, so bestand doch schon 1935 Anlaß genug, um nicht nur für die angegriffene Christenheit, sondern auch für das diskriminierte deutsche Judentum öffentlich die Stimme zu erheben, zumal die christlichen Kirchen insofern mit den Juden in einem Boot saßen, als auch sie – wenn auch in anderer Weise und in geringeren Umfang – Opfer der NS-Gewaltherrschaft waren.
Daß sich Schlatter – ähnlich wie die Bekennende Kirche! – 1935 nicht zu einem öffentlichen Protest gegen die Diskriminierung der Juden durchringen konnte, obwohl sein öffentlicher Einspruch gegen die neuheidnische Propaganda dazu Gelegenheit gegeben hätte, kann im historischen Rückblick nur bedauert werden. So bleibt ein Schatten auf seiner sonst so hellsichtigen Verurteilung des NS-Rassendenkens und des totalitären Charakters des NS-Staates am Ende des Jahres 1935.“
(Neuer, Schlatter, S. 760–761).
Adolf Schlatter – Das Ende eines segensreichen Lebens
Adolf Schlatter hielt seine letzte Vorlesung im Studienjahr 1929/30. Als Abschluss seiner Lebensleistung verfasste er anschließend noch seine großen wissenschaftlichen Kommentare. Sein letztes Werk trug den Titel „Kennen wir Jesus?“.
In seinem letzten Lebensjahr erlebte Schlatter noch den für ihn schmerzhaften Tod seines ehemaligen Schülers Wilhelm Lütgert. Dieser war nicht nur einer seiner Schüler, sondern auch ein Freund aus seiner Greifswalder Zeit gewesen, mit dem er 45 Jahre lang in einem Briefwechsel gestanden hatte.
In den letzten Monaten seines Lebens litt Schlatter immer wieder unter Herzproblemen und Atemnot. Es war wohl das erste Mal in seinem Leben, dass er bereit war, selbst die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen.
Adolf Schlatter schloss am 19. Mai 1938 für immer friedlich die Augen. Er wurde am 23. Mai 1938 auf dem Stadtfriedhof in Tübingen beerdigt. Sein Sohn Theodor Schlatter hielt die Beerdigungspredigt.
Adolf Schlatter – Weitere Lesetipps
Wer sich mit dem Leben von Adolf Schlatter auseinandersetzen möchte, dem seien an dieser Stelle einige Werke von Werner Neuer, dem führenden Experten zum Leben und zur Theologie Adolf Schlatters, empfohlen:
- eine ausführliche Biografie mit dem Titel: „Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche“. Stuttgart: Calwer Verlag, 1996.
- eine Kurzbiografie: „Adolf Schlatter“. Wuppertal, R.Brockhaus, 1988.
Eine kurze Einführung bieten auch die Artikel von Werner Neuer in der RGG4 und in der TRE. Zudem haben Heinzpeter Hempelmann, Johannes von Lüpke und Werner Neuer eine Hinführung zum Leben und zur Theologie Adolf Schlatters verfasst. Diese ist unter dem Titel „Realistische Theologie. Eine Hinführung zu Adolf Schlatter“ erschienen.
Vielen Dank für diese Artikel. Gerade der Teil 4 lässt ein beklemmendes Gefühl zurück, bezogen auf die derzeitige ‚Weltlage’ und die Parteienlandschaften. A. Schlatter hatte Glück eines natürlichen Todes zu sterben.
Wie kann man denn die heutigen Männer und Frauen lernen zu beurteilen bezüglich ihrer Überzeugungen. Und sich natürlich auch wie sich selbst schützen.
Mir selbst ist aufgefallen, nicht jeden Tag die Nachrichten usw. konsumieren tut echt gut.
Dennoch sind wir letztlich irgendwie alle miteinander verbunden und nicht unbedingt geschützt davor unbedacht zu sprechen.
Hallo Herr Traichel, mein Mann und ich gehen in die FeG Gottmadingen. Heute hörten wir etwas über Adolf Schlatter. Dann las ich zuhause noch etwas über Adolf Schlatter und dann fiel ein Wort über ihn, er sei ein „Ersatztheologe“ können sie das aus ihrer Sicht bestätigen?
Herzliche Grüße aus Gottmadingen
Isabella und Bruno Lederer