Augustinus, der wohl bedeutendste Kirchenvater der Kirchengeschichte war ein leidenschaftlicher Exeget. Sein besonderes Augenmerk galt schwer verständlichen biblischen Texten. Lesen Sie hier, wie Augustinus mit solchen Stellen umging und was wir heute von ihm in Bezug auf exegetische Fragestellungen lernen können.
Aus dem Englischen von Blake Adams
Lesedauer: ca. 20 min.
Wenn ein Wort oder ein Bibelabschnitt mehr als eine Bedeutung haben kann, kommt es zur sogenannten exegetischen Mehrdeutigkeit. Diese kann dazu führen, dass man sich intensiver mit dem jeweiligen Bibeltext auseinandersetzt. Sie kann aber auch frustrieren oder Verzweiflung hervorrufen. Vielleicht hilft es, sich klarzumachen, dass dieses Problem nicht neu ist. Die exegetische Mehrdeutigkeit gehört als festes Element zu der Sprache, die uns von Gott geschenkt wurde. Bei Problemen, die ihrem Wesen nach universell sind, können die Menschen der Antike auch in unsere Zeit hineinsprechen. Obwohl Augustinus die meisten der modernen exegetischen Methoden nicht kannte, war er zweifellos einer der herausragenden Exegeten der Antike und – wie wir noch sehen werden – hat sein pastoraler Ansatz zeitlose Anziehungskraft.
Inhalt
- Wer war Augustinus von Hippo?
- Augustinus’ zwei Phasen der Exegese
- Augustinus und die Absicht der biblischen Autoren
- Der pastorale Zweck vielfältiger Auslegungsmöglichkeiten
- Augustinus’ Fazit: Die Bibel ist für alle da!
Wer war Augustinus von Hippo?
Augustinus war ein nordafrikanischer Bischof, der Anfang des 5. Jahrhunderts starb. Mit Ausnahme vielleicht von Paulus hat kein anderer Theologe die westliche Theologie so sehr beeinflusst wie er. Augustinus war vieles – Philosoph, Bischof, Apologet – am meisten sehnte er sich jedoch danach, ein Exeget zu sein. Exegese war für ihn – anders als wir es heute vielleicht denken – nicht einfach nur eine Kompetenz eines Gelehrten. Exegese war eine Art zu leben. Augustinus sagte einmal, dass ein Exeget so in der Schrift lebt wie ein Reh in einem großen Wald:
Nicht umsonst hast du [Gott] ja gewollt, dass auf so vielen Blättern so dunkle Geheimnisse verzeichnet wurden. Oder haben nicht auch die Wälder ihre Hirsche, die sich in sie zurückziehen, sich dort erquicken und ergehen, darin weiden, ruhen und wiederkäuen?
(Conf. XI.2, 3)
Ein Exeget zu sein, bedeutete ungefähr dasselbe wie ein Liebender zu sein: Es umfasste das ganze Leben und das ganze Sein der Person.
Augustinus als leidenschaftlicher Exeget
Die Bibel zu verstehen, war ein Unterfangen, das die gesamte Existenz, die Bildung und die Energie des Einzelnen erforderte. Augustinus klagte darüber, dass seine Aufgaben in der Kirche ihn davon abhielten, sein Leben als Exeget voll und ganz genießen zu können. Kurz nach seiner (unfreiwilligen) Ordination zum Priester im Jahr 391 n. Chr. bat Augustinus seinen Bischof um eine temporäre Auszeit, um die Heilige Schrift studieren zu können und sich auf seine neue Berufung vorzubereiten (Ep. 21).
Vier Jahre später wurde Augstinus zum Bischof geweiht. Nun klagte er, dass es ihm immer schwerer falle, Zeit für seine exegetische Arbeit zu finden (Conf. XI.2,2; ein Thema, in dem sich viele Pastoren in der heutigen Zeit ebenfalls wiederfinden). Trotz aller Forderungen, die an ihn gestellt wurden, verbrachte Augustinus jede freie Minute damit, sich „in der Auslegung der Heiligen Schrift zu üben“ (Ep. 213, I). Es gelang ihm, unzählige Kommentare, Predigten und Abhandlungen zu verfassen, die seinen erstaunlichen Scharfsinn sichtbar machten. Exegese bedeutete für Augustinus keine Anstrengung eines Gelehrten und auch keine Quelle für die Predigt am nächsten Sonntag. Sie war für ihn der Lohn für seine Arbeit.
Augustinus war mit dem Problem der Mehrdeutigkeit der Heiligen Schrift bestens vertraut. Die Gemeinde in Hippo zeichnete sich durch eine große Vielfalt und intellektuelle Aktivität aus. Es existierten viele verschiedene Auslegungen und nicht alle von diesen wurden von Irrlehrern oder irgendwelchen Einfaltspinseln vorgebracht. Tatsächlich war es gerade diese Vielfalt von gültigen Auslegungen, die Augustinus‘ Interesse weckte. Denn diese waren am schwierigsten auf Grundlage der Bibel und der Vernunft zu lösen.
Augustinus’ zwei Phasen der Exegese
Für uns ist an dieser Stelle von Interesse, wie Augustinus mit Mehrdeutigkeiten in der Bibel umging und welche Tipps er anderen Exegeten gab. Er tat das in zwei Phasen.
In Phase 1 muss der Exeget in einem zweistufigen Prozess die Zahl der möglichen Auslegungen eingrenzen, indem er diejenigen ausschließt, die Irrlehren sind oder die sich nicht aus dem größeren literarischen Kontext ergeben. Diese erste Phase wird im zweiten Buch von Über die christliche Lehre [De doctrina christiana] beschrieben.
In Phase 2 muss der Exeget die Gültigkeit der (wahrscheinlich) vielen verbleibenden Auslegungen bestätigen und für jede von ihnen eine pastorale Anwendung finden. Dabei muss die Intention des Autors berücksichtigt werden. Diese zweite Phase wird im zwölften Buch von Bekenntnisse [Confessiones] beschrieben.
Phase 1 der Exegese: Eingrenzung der möglichen Auslegungen
Die erste Phase beschreibt Augustinus in seiner Einleitung zu Über die christliche Lehre [De Doctrina Christiana]. Über die christliche Lehre beschreibt als Handbuch eine Reihe von Regeln, mit deren Hilfe die bestmögliche Auslegung gefunden werden kann, wenn es zu Mehrdeutigkeiten kommt. Wir beschränken uns hier auf die ersten beiden Regeln.
Schritt 1: Betrachte die Glaubensregel (Regula fidei)
Eines der Prinzipien für die Exegese, an das sich alle Kirchenväter hielten, lautete: Die in der Bibel eindeutigen Stellen legen die Stellen aus, die unklar oder zweideutig sind. Die Bibel spricht an manchen Stellen ganz offen. An anderen Stellen wird dieselbe Idee jedoch auf eine Art und Weise ausgedrückt, deren Bedeutung dem Leser eher verborgen bleibt. In diesen Fällen schreibt Augustinus: „Zum Zwecke der Beleuchtung dunkler Redensarten sollen Belege von Stellen genommen werden, die einem klarer sind, und gewisse Zeugnisse von bestimmt lautenden Sätzen sollen Zweifel über unbestimmte Sätze entfernen.“ (De Doctrina christiana. 2, 9; 14)
Für Augustinus stand dieses Prinzip eng mit der Glaubensregel in Verbindung. Tatsächlich empfahl er Exegeten, die sich mit Zweideutigkeiten in der Schrift auseinandersetzen, sich mit der Glaubensregel zu befassen „die man aus Stellen gezogen hat, die deutlicher sind, und die uns die Lehrautorität der Kirche zur Verfügung stellt“ (De Doctrina christiana 3.2.2 [Hervorhebung durch Blake Adams]). Der zweite Teil der Aussage – „die Lehrautorität der Kirche“ – benennt die Glaubensregel als normative Lehre der Kirche: Eine Zusammenfassung dessen, was man für die apostolische Verkündigung hielt, die auf Jesus Christus zurückzuführen war und von ihm über die Apostel an die Kirchenleiter der Gegenwart weitergegeben (wörtlich „überliefert“) wurde.
Die Glaubensregel ist also keine alternative Quelle der Offenbarung neben der Bibel. Sie weist Ähnlichkeiten mit ihr auf und stimmt mit ihr überein: Die Regula fidei besteht aus heiligen Worten, die „in der Schrift zerstreut sind“ (De Symbolo ad Catechumenos 1,1) und dort gesammelt zusammengestellt wurden, damit man sie studieren und auswendig lernen kann und Zugang zu ihnen hat. Die Regula fidei fasst die Bibel konzentriert in ihren „deutlichsten“ und grundlegendsten Punkten zusammen.
Der Inhalt der Regula fidei
Was war der Inhalt der Glaubensregel? Obwohl Augustinus oft auf sie Bezug nimmt, formuliert er die Glaubensregel nirgendwo ausdrücklich. Die Gelehrten haben sie jedoch aus seinen verschiedenen Schriften in den folgenden zwölf Artikeln zusammengetragen:
- Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen.
- Und an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unseren Herrn
- Gezeugt aus dem Heiligen Geist und geboren von der Jungfrau Maria.
- Gekreuzigt und begraben unter Pontius Pilatus.
- Am dritten Tage auferstanden von den Toten.
- Aufgefahren in den Himmel.
- Er sitzt zur Rechten des Vaters.
- Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
- Ich glaube an den Heiligen Geist,
- Die heilige christliche Kirche.
- An die Vergebung der Sünden,
- An die Auferstehung des Leibes und das ewige Leben2
Möglicherweise haben Sie bemerkt, wie sehr die Glaubensregel des Augustinus dem Nizänischen Glaubensbekenntnis ähnelt. Tatsächlich könnte man das Glaubensbekenntnis einfach als Glaubensregel auffassen, die in eine feste Form gegossen wurde (als solches wäre das Nizänische Glaubensbekenntnis weniger eine Systematisierung der Lehre der Kirche, sondern eine Formulierung in Kontinuität mit einer bereits bestehenden Tradition der Verkündigung). Ich würde tatsächlich vorschlagen, dass das Glaubensbekenntnis für uns dieselbe Funktion übernehmen kann, wie es die Glaubensregel bei Augustinus tat: Sie war ein Werkzeug der Hermeneutik.
Das Glaubensbekenntnis als Maßstab für das richtige Bibelverständnis
Der sicherste Weg zu wissen, dass wir die Bibel richtig lesen – so wie sie selbst verstanden werden möchte – ist, dies in Übereinstimmung mit der Glaubensregel zu tun. Augustinus war aus diesem Grund der Ansicht, dass die Glaubensregel häufig konsultiert werden und bei allen Schwierigkeiten herangezogen werden sollte, vor die sich Exegeten gestellt sahen, darunter auch Zweideutigkeiten.
Die Glaubensregel war das ultimative Kriterium, um die Tragfähigkeit einer Auslegung überprüfen zu können. Tatsächlich galt sie als Standard, um die Bibel und deren Lehre verstehen zu können. In dieser Hinsicht bestand der Zweck der Glaubensregel darin, Auslegungen zu überprüfen (Dreiundachtzig verschiedene Fragen 69,1). Der Exeget sollte „in Übereinstimmung mit der Glaubensregel bestätigen, was bestätigt werden sollte und zurückweisen, was zurückgewiesen werden sollte (De Natura Et Origine Animae 2,17; 23).
Augustinus bemerkt zudem wiederholt: „Welche Auslegung sich auch immer ergibt – sie muss mit der Glaubensregel übereinstimmen“ (Ennarationes in Psalmos 74,12). Die Glaubensregel war besonders dann hilfreich, wenn sich Bibelstellen dem Anschein nach widersprachen (De trinitate Buch 2, Kapitel 10,7). Tatsächlich war die Glaubensregel (Regula) das ursprüngliche Prinzip, das der biblischen Exegese einen Rahmen gab.
Exegese nach Augustinus – ein praktisches Beispiel
Als Beispiel für die praktische Anwendung der Glaubensregel führt Augustinus Johannes 1,1–2a an. Zu Augustinus‘ Lebzeiten enthielten Bibeln nur selten Satzzeichen, wodurch es in den Texten häufig zu Mehrdeutigkeiten kam. Augustinus hätte den Vers so gelesen, wie er auch in unseren Bibeln zu finden ist:
Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Er war am Anfang bei Gott.
Die Arianer zogen es jedoch vor, den Vers folgendermaßen mit einer Interpunktion zu versehen:
Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war. Dieses Wort war am Anfang bei Gott.
Dadurch veränderte sich die Bedeutung des Verses. Diese arianische Lesart legte nahe, dass das Wort, sprich, die zweite Person der Trinität, also der Sohn, nicht seit Ewigkeit bei Gott war und auch nicht mit ihm zu identifizieren ist. Er begleitete Gott lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Ausdruck „Gott war“ impliziert, dass das Wort zu einem bestimmten Zeitpunkt eben nicht existierte. Ohne Zeichensetzung waren technisch betrachtet beide Auslegungsmöglichkeiten zulässig. Augustin stellte hinsichtlich der arianischen Lesart klar: „Dieser Irrtum muss aus der Glaubensregel, die uns die Gleichheit der Dreifaltigkeit lehrt, widerlegt werden“ (De Doctrina christiana 3, 2.3). Die Verwendung der Glaubensregel als hermeneutisches Werkzeug bedeutete, dass die Heilige Schrift nicht so ausgelegt werden durfte, dass sie der Glaubensregel widersprach. Das hätte bedeutet, dass die Bibel sich selbst widersprochen hätte.
Die Glaubensregel als Härtetest
Sowohl rechtgläubige Christen als auch Häretiker lasen dieselbe Bibel. Die Glaubensregel zeigte daher die größte Wirkung, wenn sie dazu diente Schlussfolgerungen auszuschließen, die der wahren Lehre nicht gerecht wurden. Das allein brachte zwar bereits Fortschritte hinsichtlich der Erschließung der Bedeutung eines Bibeltextes, dennoch blieb nach wie vor Raum für verschiedene Interpretationen. Zwar schuf die Glaubensregel Grenzen für die Rechtgläubigkeit, dennoch gab es innerhalb dieser Grenzen weiterhin viel Platz für exegetische Freiheiten.
Augustinus führt in De Doctrina christiana weiter aus, dass viele Zweideutigkeiten in biblischen Texten existieren, bei denen keine der Auslegungsmöglichkeiten dem Glauben widersprechen (3,2, 4–5). Als regulierendes Prinzip für die Exegese konnte die Glaubensregel zwar aufzeigen, welche Auslegungen möglich waren und andere Auslegungen dementsprechend ausschließen, doch die Mehrdeutigkeit in biblischen Texten war damit nicht vollständig aus der Welt geschafft. Für sich allein genommen, konnten mit der Glaubensregel noch immer Belege für mehrere, unter Umständen sogar sich widersprechende Auslegungsmöglichkeiten gefunden werden.
Schritt 2: Untersuche den breiteren literarischen Kontext
Wenn nach der Konsultation der Glaubensregel nach wie vor mehrere Bedeutungen für ein Wort oder einen Bibelabschnitt möglich sind, empfiehlt Augustinus:
Dann bleibt nur noch übrig, den Textzusammenhang selbst zu befragen, und zwar sowohl in den Teilen, die der in der Mitte liegenden Zweideutigkeit vorausliegen, als in denen, die ihr nachfolgen, dann wird man schon sehen, welche der verschiedenen Sinne, die möglich sind, der Zusammenhang begünstigt und mit sich vereinigen lässt.
(De Doctrina christiana 3.2, 2)
Augustinus gibt ein Beispiel und auch hier ist die Zweideutigkeit eine Frage der Interpunktion. In Philipper 1,22–24 in der lateinischen Bibel, die Augustinus benutzte, konnten die Worte des Apostels Paulus entweder als „Ich bin zwischen zwei Dingen hin- und hergerissen“ oder als „Ich habe ein Verlangen nach zwei Dingen“ gelesen werden. Die erste Lesart legt nahe, dass Paulus zwischen zwei [nicht gleichwertigen] Dingen hin- und hergerissen ist – nämlich seinem Wunsch bei Christus zu sein und der Notwendigkeit, mit den Brüdern in der Welt zu sein. Die zweite Lesart impliziert, dass Paulus zwei gleichwertige Wünsche hat und beide gerne erfüllt sehen würde. Beide Lesarten drücken unterschiedliche Gemütszustände in Paulus‘ Innerem aus. Im ersten Beispiel zögert Paulus seinen Wunsch bei Christus zu sein um der Brüder willen liebevoll hinaus. Im zweiten Beispiel scheint er nicht zu wissen, was besser ist: bei Christus oder bei den Christen in Philippi zu sein.
Betrachtet man den breiteren literarischen Kontext, löst sich diese Zweideutigkeit jedoch beinahe von selbst auf: „So weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu. Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; Aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.“ Paulus sagt hier ausdrücklich, dass es „viel besser ist“ bei Christus zu sein und dass „es nötiger ist“, im Fleisch zu bleiben. Die erste Lesart ist also die richtige.
Den Kontext beachten heißt, sich mit dem Bibeltext vertraut machen
Während diese Regel den Exegeten dazu anhält, die Verse unmittelbar vor und nach dem mehrdeutigen Bibelabschnitt zu lesen, kannte der ideale Leser nach Augustinus das ganze Buch. Der „eifrigste Schriftforscher wird also der sein, der sie zu allererst einmal ganz gelesen hat“ (De Doctrina christiana 2.8, 12). Idealerweise lernt er große Teile auswendig, doch zu Beginn muss er noch nicht verstehen, was er gelesen hat. Das Ziel ist lediglich, mit dem Text besser vertraut zu werden. Damit wird nicht nur die Grundlage für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Bibel geschaffen, sondern auch der breitere kanonische Kontext für jeden möglichen Bibeltext abgesteckt:
Hat man einmal eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache der göttlichen Schriften gewonnen, so hat sich das weitere Streben darauf zu richten, dunkle Stellen zu eröffnen und zu beleuchten. Zum Zwecke der Beleuchtung dunkler Redensarten sollen Belege von Stellen genommen werden, die einem klarer sind, und gewisse Zeugniss von bestimmt lautenden Sätzen sollen Zweifel über unbestimmte Sätze entfernen. Dabei leistet ein gutes Gedächtnis die besten Dienste; mangelt ein solches, so kann es auch durch meine Vorschriften nicht gegeben werden.
(De Doctrina christiana 2.9, 14)
Fazit aus Phase 1 der Exegese
Beide dieser bisher vorgestellten Regeln gehören zu einem bestimmten Typus, nämlich zu mehrdeutigen „Wegweisern“ (d.h. Interpunktion). Augustinus versichert seinen Lesern jedoch, dass diese beiden Regeln bei jeder Art von Mehrdeutigkeit in der Bibel angewendet werden können. „Sofern der Leser nicht durch mangelnde Sorgfalt geschwächt ist“, sollten alle Mehrdeutigkeiten lexikalisch-grammatikalischer Art
nach den Regeln des Glaubens und nach dem ganzen Zusammenhang des Textes verbessert werden. Kann aber keines von diesen beiden Mitteln zur Verbesserung angewendet werden und bleibt die Betonung nicht weniger zweifelhaft, so trifft den Leser keine Schuld, wie er auch betonen mag.
(De Doctrina christiana 3.3, 6)
Die Einschätzung des literarischen Kontextes und die Konsultation der Glaubensregel bieten hilfreiche Grenzen, doch innerhalb dieser Grenzen besteht nach wie vor eine große exegetische Freiheit. Der Exeget hat die Freiheit, aus den noch verbleibenden Auslegungsmöglichkeiten zu wählen (siehe De Doctrina christiana 3.2.5). Trotz dieser Freiheit besteht das Ziel dieser ersten Phase darin, die Zahl der möglichen Auslegungen so weit wie möglich einzugrenzen. Im Prinzip sind die zwei Regeln von Augustinus Werkzeuge zur Eingrenzung. Wäre dies bereits alles, was Augustinus zum Thema Exegese zu sagen hat, hätten wir die Freiheit, die exegetische Arbeit als rein reduktionistisch zu betrachten.
Eine reduktionistische Exegese arbeitet mit dem Ziel (bzw. der Neigung) des Exegeten, für jede Bibelstelle nur eine einzige Auslegungsmöglichkeit zu finden. Diese Neigung bewertet die Existenz verschiedener Interpretationsmöglichkeiten als grundlegend problematisch und sieht in ihnen einen Hinweis darauf, dass die Exegese noch nicht fertig ist. Moderne Exegese ist häufig reduktionistisch. Augustinus widerspricht dieser Ansicht. Er hält es für nötig, die Bandbreite an akzeptablen Auslegungsmöglichkeiten mithilfe der Glaubensregel und dem breiteren literarischen Kontext der Heiligen Schrift einzugrenzen. Der Höhepunkt der Exegese ist jedoch die Betrachtung der Intention des Autors, die uns unter anderem dazu führt, den Bibeltext nicht als abstrakten Text zu lesen, sondern ihn als ein Produkt von nichts Geringerem als einem weit blickenden und vielschichtigen Geist zu betrachten. Das lässt die Möglichkeit offen, dass der Autor zum Nutzen des Lesers zumindest einige Mehrdeutigkeiten mit Absicht in den Text eingebaut hat.
Phase 2 der Exegese: Pastorale Anwendung verschiedener Auslegungen
Die wohl umfassendste Auseinandersetzung mit Mehrdeutigkeiten in biblischen Texten in Augustinus‘ Werken – und vielleicht in der gesamten antiken Literatur der Christenheit – findet sich in Augustinus‘ wohl berühmtestem Werk Bekenntnisse [Confessiones] Augustinus widmet das gesamte 12. Buch der Exegese eines einzigen Bibelverses und untersucht, welche der vielen Auslegungen zulässig sind: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1) [LUT2017]. Diese Vorgehensweise war angemessen, da die richtige Sichtweise auf die Schöpfung oftmals ein Schlüsselthema – wenn nicht sogar das Schlüsselthema – in der Auseinandersetzung zwischen Christen und Irrlehren bzw. Heiden war.
Eine Frage von Himmel und Erde
Wie legte Augustin Genesis 1,1 aus?
Augustinus geht davon aus, dass es sich bei „Himmel“ und „Erde“ in diesem Abschnitt um zwei verschiedene geschaffene Dinge handelt, die beide zur selben Zeit und ex nihilo [aus dem Nichts] vor der Erschaffung der Zeit entstanden (Bekenntnisse XII. 12, 15). „Himmel“ ist der Ort, den die Bibel an anderer Stelle als „Himmel des HERRN“ (z. B. Psalm 115,16) bezeichnet: Der „Himmel ist eine rein geistliche Ort (oder um es mit Augustinus zu sagen „intellektuelle“) Schöpfung und Gottes „Haushalt“ (Bekenntnisse XII.11, 12; siehe Mt 5,34). Bei der zweiten Schöpfung, der „Erde“ handelte es sich um die formlose Materie (oft als „Urflut“ bezeichnet), aus der an den sechs Schöpfungstagen der Kosmos geschaffen wurde, einschließlich des Gebildes über der Erde, das wir „Himmel“ nennen. Es wurde am zweiten Schöpfungstag erschaffen (Gen 1,7–8) und besteht damit ebenfalls aus derselben formlosen Materie wie die Erde unter ihm.
In Kürze bedeutet dies: Die zweite Schöpfung – die Erde – ist materiell, die erste Schöpfung – der Himmel – hingegen immateriell. Die Erde war gestaltlos, der Himmel hingegen „uranfänglich gestaltet“ (Conf. XII.13,16). Die Erde war gestaltlos, da die Zeit noch nicht geschaffen worden war, ebenso wenig wie Formen. Der Himmel jedoch befand sich außerhalb der Einflusssphäre der Zeit, weil er an der Ewigkeit Gottes Anteil hatte, auch wenn er nicht ebenso wie Gott ewig war, sondern einen Anfang hatte. Außer dem Himmel gab es nichts Größeres als Gott, außer der Erde nichts Kleineres (Conf. XII.7, 7). Beides wurde erschaffen noch bevor es Tag und Nacht gab. Sie wurden also nicht am ersten Schöpfungstag oder später erschaffen, sondern „am Anfang“, noch bevor die Zeit existierte. Oder wie Augustinus es ausdrückt: „Am Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde“.
Welche Standpunkte vertraten die Gegner von Augustinus?
Wir brauchen uns nicht mit den Einzelheiten der exegetischen Argumentation von Augustinus zu befassen. Es geht nicht darum, ob seine Auslegung richtig oder falsch ist, sondern darum wie er seine eigene Interpretation gegenüber den vielen anderen verteidigt. Er beteuert zwar, dass seine eigenen Ansichten „vorläufig“ sind (Conf. XII.13, 16), beweist jedoch auf intellektueller Ebene auch Mut und verteidigt seine Position mit aller Ernsthaftigkeit.
Je länger Augustinus verschiedene Auslegungen miteinander vergleicht, desto klarer wird: Seine „Gegner“ sind Menschen wie er selbst. Sie sind weder Irrlehrer, noch Heiden, noch dahergelaufene Einfaltspinsel. Wie Augustinus auch halten sie die Heilige Schrift in Ehren und räumen ihr das höchste Ansehen ein, widersprechen Augustinus aber doch in dem einen oder anderen Punkt (siehe Conf. XII. 16,23; XII. 15,22).
Alle Gegner von Augustinus bejahen die orthodoxe Theologie. Sie bestreiten beispielsweise nicht, dass Gott allein ewig ist. „Er will auch nicht bald dieses, bald jenes, sondern nur einmal und zugleich und immer will er alles, was er will […] was aber veränderlich ist, ist nicht ewig; unser Gott aber ist ewig“ (Conf. XII.15, 18). Sie bestreiten auch nicht, dass Gott der einzige Ursprung der Schöpfung ist. Auch bestreiten sie nicht die Existenz des Himmels oder dass der Kosmos aus der Urmaterie gebildet wurde, die ihrerseits ex nihilo geschaffen wurde (Conf. XII.25, 19).
Was bedeuten die Begriffe „Himmel” und „Erde”?
Himmel und Erde als „die ganze sichtbare Welt”
Der strittige Punkt ist eher in der Bedeutung wichtiger Begriffe und Sätze zu suchen. Beispielsweise bestand ein Standpunkt darin, zu behaupten, dass Mose mit „Himmel“ und „Erde“ schlicht und einfach „die ganze sichtbare Welt“ gemeint habe – umfassend, sozusagen oben und unten – und dass die nächsten sechs Schöpfungstage einfach der Reihe nach aufzählen wie die Schöpfung umfassend entstanden ist. In einem Anflug historisch-kultureller exegetischer Argumentation erklären Anhänger dieser Position: „Denn jenes rohe, nur am Sinnlichen hängende Volk, zu dem er [Mose] sprach, bestand aus Menschen der Art, daß er glaubte, ihnen nur die sichtbaren Werke Gottes vorführen zu dürfen“ (Conf. XII.17, 24).
Himmel und Erde als Urmaterie
Vertreter eines zweiten Standpunktes argumentieren, dass sich „Himmel“ und „Erde“ gleichermaßen auf die formlose Urmaterie beziehen, aus der der Kosmos später geschaffen wurde. Augustinus fasst diese Position zusammen und erklärt, dass diese formlose Masse „ mit diesen Begriffen [Himmel und Erde] bezeichnet werden kann, da aus dieser unsere Welt entstand und vollendet wurde“ (Conf. XII.17, 25). Nach dieser Auffassung bezeichnen also „Himmel“ und „Erde“ das Anfangsstadium der sichtbaren Schöpfung. Zudem wird die Urmaterie in Vorwegnahme ihrer künftigen Gestalt „Himmel und Erde“ genannt und drittens bezieht sich das ursprüngliche „Himmel und Erde“ buchstäblich auf „Himmel“ und „Erde wie sie am zweiten und dritten Tag der Schöpfung geschaffen wurden.
Himmel und Erde als sichtbare und unsichtbare Urmaterie
Ein dritter Standpunkt ist dem zweiten insofern ähnlich, dass beide mit den Begriffen „Himmel“ und „Erde“ Bezug auf die Urmaterie nehmen. Der dritte Standpunkt identifiziert nach der Schöpfung nun damit jedoch das Unsichtbare bzw. Sichtbare. Auch hier räumt Augustinus ein, dass dieser Gebrauch „nicht unpassend“ sei, da die Geschöpfe aus dem Nichts und nicht aus Gott erschaffen worden seien. Folglich seien sie auch nicht „mit Gott gleichen Wesens“ (Conf. XII.17, 25). Dieser von einem von Augustinus‘ Gegnern stammende Standpunkt bewahrt wie die anderen den Unterschied zwischen Geschöpf und Schöpfer, das für die Orthodoxie so wesentlich ist und in der Glaubensregel zum Ausdruck kommt.
Himmel und Erde als schöpferisches Potenzial der Urmaterie
Augustinus führt noch einen vierten Standpunkt an. Dieser wurde nicht von bestimmten Zeitgenossen vertreten, sondern kann von jedem vertreten werden, „der auf diese Weise denkt“ (Conf. XII.17, 26). Hier handelt es sich um eine echte Hypothese, die besagt, dass die Begriffe „Himmel“ und „Erde“ das schöpferische Potenzial bezeichnen, das in der Urmaterie liegt.
[Der] noch gestaltlose Entwurf der Dinge, das gestaltungs- und bildungsfähige Sein sei damit bezeichnet worden; denn in ihm sei bereits, wenn auch in wirrem Durcheinander, das noch nicht durch seine besonderen Eigenschaften und Formen geschieden, das vorhanden, was jetzt in seiner Ausgestaltung Himmel und Erde heiße, wobei jener die geistige Schöpfung, diese die Körperwelt bedeute.
(Conf. XII.17, 26)
Augustinus als Verfechter der exegetischen Freiheit
Es werden noch weitere Meinungen und Standpunkte erwogen. Augustinus untersucht diese ausführlich in Buch XII. Moderne Exegeten reagieren möglicherweise frustriert auf die Tatsache, dass es mehr als eine gültige Interpretation gibt. Augustinus ließ sich davon jedoch nicht beirren.
Wenn ich mich nun zu diesen [Geboten] mit glühender Liebe bekenne, mein Gott, du ‚Licht meiner Augen’ im Verborgenen, was kann es mir da schaden, wenn diese Worte, die dessen ungeachtet wahr bleiben, verschiedene Auffassungen zulassen?
(Conf. XII.18, 27)
Dies zeigt eine große exegetische Freiheit, wie Augustinus weiter bekräftigt: „Ebenso nimmt, was das Verständnis […] anbetrifft, aus den verschiedenen wahren Auffassungen der eine sich die, der andere die“ (Conf. XII.21, 30). Einmal von ihrer Wahrheit überzeugt, ist Augustinus nicht weiter daran interessiert, die Liste der zulässigen Auslegungen weiter einzugrenzen. Er geht sogar so weit, Einwände gegen einige Auslegungen seiner Gegner vorwegzunehmen und sie jeweils kurz zu verteidigen (siehe Conf. XII.22, 31). Dabei zeigt er auf, dass eine Vielfalt möglicher Interpretationen eines Bibeltextes nicht notwendigerweise ein Symptom für Untreue gegenüber der Rechtgläubigkeit oder der Heiligen Schrift sein muss. Ganz im Gegenteil: Exegeten können sich in diesen Punkten einig sein und doch zu unterschiedlichen Auslegungen kommen. Augustinus bekräftigt, dass diese Standpunkte, obwohl sie sehr verschieden sind, dennoch nicht falsch sind.
Am Ende bleiben Augustinus fünf verschiedene Auslegungsmöglichkeiten. Alle von diesen haben seine ersten beiden Tests bestanden: Alle fünf berücksichtigen den breiteren literarischen Kontext und keine von ihnen widerspricht der Glaubensregel.
Und was jetzt?
Augustinus und die Absicht der biblischen Autoren
Das eigentliche Ziel der Exegese war für Augustinus, die ursprüngliche Absicht des Verfassers eines biblischen Buches zu verstehen. Augustinus war sich der Tatsache bewusst, dass ein Text bei seinem Leser eine Wirkung entfalten kann, die der Autor ursprünglich nicht unbedingt beabsichtigte. Darin könnte manchmal das Wirken des Heiligen Geistes gesehen werden, der durch den Text zum Leser spricht (Conf. XII.32, 43). Doch der Exeget sollte sich nicht darauf verlassen, automatisch eine direkte Offenbarung durch den Heiligen Geist zu erhalten, wenn er in der Bibel liest. Augustinus erklärt, dass „die Absicht des Autors zu erkennen, der dir [Gott] dient, die richtigste und beste Art der Exegese ist“ (siehe Conf. XII.32, 43). Die Hauptaufgabe eines Exegeten besteht nach Augustinus darin, die Intention des Autors zu verstehen.
Welche Absicht verfolgte Mose in Genesis 1,1?
Im letzten Drittel von Buch XII vollzieht Augustinus einen Perspektivwechsel. Nachdem er alle üblichen Verfahren der Exegese ausgeschöpft hat, beginnt er sich für die Person und das Denken des Verfassers, Mose, zu interessieren. Nun geht es nicht mehr darum, welche Auslegungsmöglichkeiten exegetisch tragfähig sind, sondern darum, welche der fünf möglichen Interpretationen Mose wohl kommunizieren wollte. Augustinus bedauert es, dass Mose nicht mehr selbst erklären kann, was er mit Genesis 1,1 meinte:
So hat Moses geschrieben; er hat es geschrieben und ist geschieden, ist hinübergegangen von hinnen von dir zu dir [d.h. er ist gestorben] und ist nun nicht mehr vor mir. Denn wäre er noch hier, so würde ich ihn festhalten und ihn fragen und ihn bei dir beschwören, dass er mir diese Worte erkläre.
(Conf. XI.3, 5)
Augustin hegte ernsthafte Zweifel daran, dass ein Exeget zu einer definitiven Entscheidung darüber kommen kann, dass Mose eine bestimmte Auslegung beabsichtigte:
Sieh also, wie töricht die frevelhafte Behauptung ist, Moses habe aus einer so großen Anzahl ganz wahrer Ansichten, die man aus Worten entnehmen kann, gerade eine bestimmte beabsichtigt.
(Conf. XII.25, 35)
Augustinus und der Umgang mit verengten Sichtweisen
Diejenigen, die beharrten „Moses hat das nicht gemeint, was du sagst, sondern er hat das gemeint, was ich sage“ seien weniger an einem Verfasser wie Mose und eher an sich selbst interessiert, „weil sie voll Stolz sind und die Ansicht des Moses nicht kennen, sondern nur die ihrige lieben, nicht weil sie die wahre, sondern weil sie die ihrige ist“ (Conf. XII.25, 34).
Augustin fragt noch einmal:
Doch wer von uns wird aus so vielen Wahrheiten, die sich bei so verschiedener Auffassung der fraglichen Worte dem Forscher aufdrängen, gerade den Sinn herausfinden, so dass er ebenso zuversichtlich sagen kann, dies habe Moses gemeint und so habe er seinen Bericht verstanden wissen wollen, wie er behauptet, seine Auffassung entspreche der Wahrheit, ob es nun Moses so oder so gemeint habe?
(Conf. XII.24, 33)
Augustinus verneinte, dass Exegeten in der Lage sind, zu sagen, dass Mose nur eine der fünf möglichen Auslegungen, aber keine der anderen im Sinn gehabt hätte. Mose hat sicherlich nichts Unwahres geschrieben. Doch das bedeutet lediglich, dass er jede der fünf möglichen Interpretationen im Sinn gehabt haben könnte:
Ich sehe mit Gewissheit, dass beide Ansichten in Wahrheit ausgesprochen werden können, aber was sich Moses in Wirklichkeit gedacht, das sehe ich nicht ebenso klar. Mag aber jener große Mann, als er diese Worte niederschrieb, eine der von mir angeführten Ansichten oder eine andere im Sinne gehabt haben, ich zweifle keineswegs, dass er die Wahrheit erkannt und sie in geeigneter Form ausgesprochen hat.
(Conf. XII.24, 33)
Aus diesem Grund hatte Augustinus keine Geduld mit Menschen, die fest behaupteten, dass Mose genau das im Sinne gehabt habe, was sie sagten und nichts anderes. Das ist eine Verkennung der vielfältigen exegetischen Möglichkeiten.
In der Folge unterbricht Augustinus diesen Gedankengang und betet – auf der Grundlage des Gebots, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst -, dass er es sich nicht vorstellen könne, dass er, Augustinus, „ein schlechteres Geschenk erhalten hätte“, als das, was Mose, „dein treuer Diener“ erhalten hat, wenn es Augustinus‘ Aufgabe gewesen wäre, das Buch Genesis zu schreiben.
Er fährt fort:
Wäre ich also damals an seiner [Moses] Stelle gewesen und hättest du [Gott] mir aufgetragen, das Buch Genesis zu schreiben, so hätte ich gewünscht, mir wäre eine solche Kraft der Rede, eine solche Fähigkeit, meine Gedanken darzustellen, verliehen worden, daß diejenigen, die sich noch nicht zur Einsicht erheben können, wie Gott schafft, meine Worte nicht als ihre Fassungskraft übersteigend verwerfen, daß diejenigen aber, die ich bereits zu dieser Einsicht erhoben, in den wenigen Worten deines Dieners den wahren Sinn, zu dem sie vielleicht ihr eigenes Nachdenken geführt, nicht übergangen finden Und daß, wenn ein anderer im Lichte der Wahrheit wieder eine andere Auffassung erschaute, auch diese unter jenen Worten verstanden werden könnte.
(Conf. XII.26, 36)
Zwischenfazit: Es gibt mehr als nur eine richtige Auslegung der Bibel
Viele Standpunkte und Meinungen haben den Sieb der exegetischen Regeln durchlaufen. Fünf davon sind übrig geblieben. Doch warum sollte Mose nicht alle fünf im Sinn gehabt haben? Das ist mindestens genauso gut möglich wie dass er nur die eine oder andere für bedeutsam hielt.
Warum nicht lieber beides, wenn beides wahr ist? Und wenn einer noch eine dritte oder eine vierte oder überhaupt etwas ganz anderes in diesen Worten findet, wofern es nur wahr ist, warum sollen wir nicht glauben, daß Moses all das gesehen, er, durch den der eine Gott die heiligen Schriften dem Verständnisse so vieler angepaßt hat, so daß sie, wenn auch Verschiedenes, so doch nur Wahrheit in ihnen finden?
(Conf. XII.31, 42)
Kurz gesagt: Augustinus drängt uns, uns selbst zu fragen, ob gerade eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten die eigentliche Absicht des Verfassers war. Warum eigentlich nicht? Noch einmal: Augustinus‘ beharrliche Appelle, dass der inspirierte Autor biblischer Texte autoritativ ist, zwingt uns dazu, den Text mit einem tieferen Verständnis für die göttliche Dimension zu betrachten, die durch eine reduktionistische Exegese unweigerlich verloren geht. Wenn wir beispielsweise über eine mehrdeutige Stelle in Gedichten von T. S. Eliot stolpern, nehmen wir an, dass das Absicht war. Diese Mehrdeutigkeit macht den Text reicher und gibt unserem Gehirn etwas zum Nachdenken. T. S. .Eliot wird so immer wertvoller für uns und wir feiern ihn dafür, dass er so schreibt. Warum sollten wir das bei Mose nicht auch tun? Augustinus war der Ansicht, dass genau das richtig war.
Bei der kritischen Betrachtung von Mehrdeutigkeiten in biblischen Texten kommt Augustinus nicht nur zu dem Schluss, dass mehrere Bedeutungen möglich sind, er hält es auch für möglich, dass das Absicht war.
Der pastorale Zweck vielfältiger Auslegungsmöglichkeiten
Nach diesem Maßstab muss Augustinus zwar eingestehen, dass alle fünf verbleibenden Auslegungsmöglichkeiten gleichermaßen wahr sind, doch das bedeutet nicht, dass sie auch alle gleichermaßen hilfreich sind. Einige Auslegungen sind zwar genauso wahr wie andere, haben aber mehr „Substanz“ und helfen unserem Verstand in größerem Maße, beispielsweise bei der wichtigen religiösen Frage „Wie kann man auf gottgefällige Weise über Gott nachdenken? (Gn. adu. Man. 2.29.43). Manche Auslegungsmöglichkeiten sind für Menschen, die neu im Glauben sind, leichter zu verstehen. Andere sind vielleicht schwerer zu verstehen, bauen aber gereifte Christen auf auf. Viele verschiedene Auslegungsmöglichkeiten sind daher ein Segen, da sie sicherstellen, dass jeder Christ die Chance hat, etwas aus der Bibel zu hören und zu verstehen, unabhängig von seiner geistlichen Reife.
Wie eine Quelle im engen Raume wasserreicher ist und in mehreren Bächen größere Flächen bewässert als jeder einzelne Bach, der aus dieser Quelle hervorgeht und über große Strecken dahinfließt, so sprudelt auch die Erzählung deines Vermittlers, eine ergiebige Quelle für viele Dolmetscher der Zukunft, in ihrer einfachen Redeweise Ströme lauterer Wahrheit aus, aus denen sich ein jeder wenn auch auf längeren Umwegen soviel Wahrheit, als er kann, der eine diese, der andere jene entnehmen kann.
(Conf. XII.27, 37)
Eine Vielzahl von Auslegungsmöglichkeiten dient also einem pastoralen Zweck. Jeder Leser kann die Auslegung für sich in Anspruch nehmen, für die er im Moment die Fähigkeit zur Aufnahme und die nötige Reife besitzt. Dadurch wird sichergestellt, dass niemand leer ausgeht und es bestätigt auch, dass die Bibel für alle Menschen ist. Es handelt sich um Texte, die „allen Völkern zum Segen gereichen“ (Conf. XII.26,36), die „eine ergiebige Quelle für viele Dolmetscher der Zukunft sind“, aus denen „Ströme lauterer Wahrheit“ sprudeln, so dass jeder soviel Wahrheit wie er kann, der eine diese, der andere jene entnehmen kann (Conf. XII.27, 37). Ein reduktionistischer Ansatz, der sich auf eine einzige gültige Auslegung beschränkt, wird kaum alle Glieder des Leibes Christi mit Nahrung versorgen können.
Augustinus’ Fazit: Die Bibel ist für alle da!
Augustinus geht hier in Buch XII seiner Bekenntnisse sicherlich weiter als in Über die christliche Lehre. Die Glaubensregel und der breitere Kontext eines Bibelabschnitts bilden nicht nur methodische Grenzen. Augustinus räumt vielmehr die Existenz einer großen Vielfalt von Auslegungsmöglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ein. Er sagt nicht, dass Mose irgendeine dieser möglichen Auslegungen im Sinn gehabt haben könnte, sondern alle. Er sagt nicht, dass alle gleichermaßen wahr sein können, sondern dass sie es alle sind – je nachdem in welcher Verfassung sich der Leser befindet oder welche geistlichen Bedürfnisse er hat. Anders als er es bei seiner Bemerkung über die exegetische Freiheit sagte, die durch die Konsultation der regula fidei ermöglicht wird, sagt er hier nicht, dass „der Wille des Lesers“ darüber entscheidet „welche unterschiedlichen Auslegungen“ gewählt werden (De Doctrina christiana, 3.2.5). Er sagt, dass der Leser die Wahrheit in all diesen unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten anerkennen muss.
Augustin schließt sein Buch XII. mit einem Gebet ab:
Bei dieser Verschiedenheit von Auffassungen, die doch alle wahr sind, möge die Wahrheit selbst uns zur Einigkeit führen, und erbarmen möge sich unser Gott, damit wir sein Gesetz rechtmäßig anwenden in einer Liebe, nach dem Endzwecke seines Gebotes. Wenn mich daher jemand fragt, welche von diesen Auffassungen die deines Dieners Moses gewesen, so liegen solche Erörterungen außerhalb des Bereiches meiner Bekenntnisse, Und wenn ich es dir nicht bekenne, so weiß ich es auch nicht. Und doch weiß ich, daß jene Ansichten wahr sind mit Ausnahme der grob sinnlichen, über die ich soviel als nötig mich ausgesprochen habe. Wir alle aber, die wir, wie ich gestehe, das Wahre erkennen und bekennen, wir wollen einander lieben und wollen gleicherweise auch dich, unsern Gott, lieben, den Quell der Wahrheit, wenn wir nicht nach eitlen Dingen, sondern nach der Wahrheit selbst dürsten. Zugleich wollen wir dadurch deinen von einem Geiste erfüllten Diener, den Verfasser dieser Schrift, also ehren, daß wir glauben, er habe, als er sie niederschrieb, durch deine Eingebung besonders darauf geachtet, was durch das Licht der Wahrheit und durch fruchtbringende Nützlichkeit den ersten Platz verdient.
(Conf. XII.30, 41)