Im vorangegangenen Artikel habe ich die großen Denklinien der Kirchengeschichte in der Frage nach Tugend und Heiligung nachvollzogen. Der Einfachheit halber nenne ich sie „aristotelisch“ und „reformatorisch“. Beide Traditionen haben ihre eigenen Begründungen, die man ernst nehmen muss. Mir geht es aber in diesem Artikel nicht darum, diese im Einzelnen nachzuvollziehen – das wäre Aufgabe einer größeren historisch-theologischen Abhandlung.
Daher wende ich mich nun dem biblischen Text zu und versuche Anhaltspunkte für Argumente in dieser Streitfrage offenzulegen. Es ist sicher nicht möglich, die Spannung zwischen Heiligung und Tugend vollständig auf Artikellänge zu beantworten. Dennoch will ich einen Einstieg bieten. Im Anschluss skizziere ich dann noch einige systematisch-theologische Problempunkte, die sich aus der Exegese ergeben.
Inhalt
ἀρετή (Tugend) und ἁγιασμός (Heiligung) im NT und der Septuaginta
Beginnen wir mit den zentralen Begriffen:
- Der Kernbegriff des Aristoteles ist die Tugend: ἀρετή
- Luther stellt dem den biblischen Begriff der Heiligung gegenüber: ἁγιασμός
ἀρετή
Weil Aristoteles vor der Abfassung des Neuen Testamentes (NT) sowie auch vor der Übersetzung der Septuaginta (LXX) wirkte, könnte sein Tugendbegriff in der Sprache der Bibel aufgenommen worden sein. Wo also kommt ἀρετή vor?
Logos macht es glücklicherweise sehr einfach, solchen Fragen nachzugehen. Eine Wortstudie bietet einen optimalen Ausgangspunkt. Dazu muss ich noch nicht einmal eine griechische Tastatur bemühen, sondern kann das Wort mit dem „g:”-Präfix einfach mit lateinischen Buchstaben in die Suche eingeben und Logos schlägt mir die Wortstudie vor, z. B. „g:arête“
Die Wortstudie verrät uns, dass das Wort 5‑mal im NT vorkommt. Ein Blick in Kassühlkes Kleines Wörterbuch zum Neuen Testament zeigt die Bedeutungen im NT: Die erwartete Tugend ist dabei, jedoch auch Gotteskraft und Machttat. Die Wortstudie bietet aber noch weitere Abschnitte: Im Übersetzungsgraphen wird deutlich, dass in der Lutherübersetzung tatsächlich einmal mit „Kraft“ übersetzt wird. Die Schlachter Übersetzung übersetzt durchgehend mit „Tugend“. Der Übersetzungsgraph funktioniert mit allen Bibelübersetzungen, für die Sie einen Interlinear-Datensatz besitzen. Die wählbaren Optionen sehen Sie, wenn Sie mit der Maus über den Überschriftbereich des Abschnitts gehen und auf die erscheinenden „Einstellungen“ klicken
Nun schauen wir uns die fünf Verse einmal genauer an: In der Wortstudie kann ich dazu einfach eine Suche nach dem Lemma in verschiedenen Werkgruppen starten – in diesem Fall „Neues Testament“. (Abschnitt: „Eine Suche starten“)
Wir entdecken eine Erwähnung im Philipperbrief sowie vier bei Petrus. Zwei der Petrusstellen beziehen sich auf Gottes „Tugenden“, d.h. seine Pracht oder Exzellenz. Das ist offensichtlich von dem Gebrauch in der LXX her geprägt. Zurück in der Wortstudie können wir dem im Abschnitt „Septuaginta-Übersetzung“ nachgehen. Hier sehen wir, dass ἀρετή die (seltene) Übersetzung von תְּהִלָּה (Ruhm, Lobpreis) oder הוֹד (Hoheit, Pracht) ist. Nach Otto Bauernfeind (ThWNT) ist das Wort sogar synonym zu δόξα (Lob, Herrlichkeit). Das Wort ist somit in der LXX ein reiner Anbetungsbegriff in Bezug auf Gott – keine Spur von Tugenderwerb.
Bleiben noch Philipper 4,8 und 2Petr 1,5. Hier ist die Tugend etwas, was der Christ anstreben soll. Das klingt auf den ersten Blick stark nach dem aristotelischen Schema der Übung zum Tugenderwerb. Allerdings wird hier im Kontext niemals nahegelegt, ein Mensch könne in seinem Wesen gut werden, indem er tugendhaft handelt. Im Gegensatz: Immer wird die Neuschöpfung des Christen vorausgesetzt, auf die dann die tugendhaften Werke folgen. Der aristotelische Tugendbegriff ist somit weder im NT noch in der LXX direkt nachweisbar.
Die Untersuchung des breiteren Wortfeldes ist ebenfalls nur wenig ergiebig. Im Abschnitt „Wurzel“ können wir die 42 Vorkommen des Wortfeldes αρεσκω sichten: Die Anklänge in Paulus haben fast immer die Wohlgefälligkeit (=Tugend) des Gerechtfertigten in der Heiligung zum Inhalt. Nie geht es darum, Tugend zu erwerben oder zu erlernen. Römer 8,8 könnte gar als Unfähigkeit des natürlichen Menschen, Tugend zu erwerben, aufgefasst werden: „Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen.“
Insgesamt weisen die Ergebnisse unserer Wortstudie eher darauf hin, dass das biblische Konzept der Tugend sich deutlich vom aristotelischen Gedanken unterscheidet.
ἁγιασμός
Viel häufiger als Tugend findet man in der christlichen Tradition das Wort „Heiligung“. Das ist in gewisser Weise der christliche Fachbegriff für den Prozess hin zu einem tugendhaften Leben – also genau das, was Aristoteles bewegt. Daher gehen wir diesem Wortfeld ebenfalls kurz nach. (Das kann natürlich mit den oben gezeigten Mitteln auch noch vertieft werden.) ἁγιασμός/ἁγιάζω (Heiligung/heiligen) kommt im NT insgesamt 39 Mal vor. Auch bei dieser Wortfeldbetrachtung wird schnell deutlich: „Das logische Subjekt der Heiligung ist einzig und allein Gott, nicht der Mensch.“(Otto Procksch/Gerhard Kittel (Hrsg.), Artikel im ThWNT zu ἁγιασμός). Ἁγιασμός ist also ein Prozess, der immer von Gott ausgeht.
Biblisch unterstreicht bspw. Offb 22,11 diesen Zusammenhang deutlich: „Wer gerecht ist, der übe weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig.“ Der Zustand der Gerechtigkeit/Heiligkeit ist die Basis für die heilige/gerechte Tat und nicht umgekehrt. Oder wie es Jesus formuliert: Der gute Baum bringt gute Frucht, aber keine Frucht kann das Wesen des Baumes ändern. Dazu braucht es Gott.
Theologische Beobachtungen zu diesem Diskurs
Der sprachliche Befund unterstützt also die reformatorische Sichtweise deutlich. Aber es wäre zu kurz gesprungen, hier aufzuhören. Eine Wortstudie hat in sich nicht genug Gewicht, um dogmatische Fragen zu klären.
Christlich vs. Aristotelisch
Wo liegen die Frontlinien in der Dogmatik und welche Schlussfolgerungen ziehen sie nach sich? Während nach Aristoteles durch die Übung ein Zustand entsteht (durch tapfere Taten ein tapferes Wesen), dreht die reformatorische Sichtweise diese Gleichung um. Udo Schnelle formuliert das im Standardwerk RGG4 (Artikel „Heiligung“) so: „Heiligung ist im NT eine Handlungskategorie, die auf der Statuskategorie der Heiligkeit basiert.“ Alle christlichen Traditionen sehen „nahezu ausnahmslos Gott selbst als Ursprung und Subjekt der Heiligung“ (Manfred Marquardt, ebenfalls im RGG Artikel) an.
Der Graben verläuft also tatsächlich zwischen der gesamten christlichen Tradition auf der einen Seite und Aristoteles auf der anderen. Das Problem bei Aristoteles ist die Zentrierung der Tugend auf den Menschen. Das ruft aus meiner Sicht mehrere theologische Probleme hervor: Zuallererst berührt die Frage: „Wie werde ich gut?“, direkt die Lehre vom Heil (Soteriologie). Sie stößt ins Herz der christlichen Theologie vor und ist keinesfalls zweitrangig.
Denn sobald eigene Anstrengungen einen (vor Gott) akzeptablen Zustand erreichen können, sprechen wir von Selbsterlösung. Gnade wäre dann irrelevant. Dies zieht Konflikte mit einem ganzen Bündel zentraler christlicher Dogmen nach sich: z. B. der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, der Ernsthaftigkeit des Sündenproblems und des menschlichen Unvermögens, durch die Ursünde geistliche Dinge korrekt zu beurteilen. Auch ein so stark von Aristoteles geprägter Theologe wie Thomas von Aquin weicht aufgrund dieser theologischen Problematik – meines Erachtens zurecht – deutlich von dem Philosophen ab.
Gott oder Mensch?
Aristoteles verlagert also das Gewicht des Tugenderwerbs vollständig auf die menschliche Seite. Dieses Übergewicht ist daher auch – zurecht – in der Theologiegeschichte vielfach kritisiert worden, nicht zuletzt von den Reformatoren.
Der sprachliche Befund unterstreicht dieses Problem noch. Aus christlicher Sicht kann die Frage nach der Heiligung nicht ohne den Fokus auf das Wirken Gottes beantwortet werden. Besiegelt das nun den Sieg Luthers über Aristoteles? In gewisser Weise, ja.
Uns sollte aber folgendes nicht entgehen: In der Bibel finden wir neben dem souveränen Handeln und Geschenk Gottes – immer die Spannung zur eigenen Verantwortung für die Heiligung: „schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,12b-13). Es ist also nie entweder Gnade oder Bemühen – es ist sowohl als auch! Die Reihenfolge der beiden ist aber enorm wichtig: Die Gnade geht dem Bemühen immer voraus.
Theologie vs. Philosophie
Zum Schluss dieses Teils will ich aber noch eine Lanze für Aristoteles brechen: Er ist kein Theologe, sondern ein Philosoph. Da ist es verständlich, wenn er von der Perspektive des Menschen ausgeht. Seine Beobachtung ist ja durchaus nachvollziehbar: Aus der „Froschperspektive“ betrachtet führt Übung tatsächlich meist zu einem Fortschritt in der Lebensweise (auch auf moralischem Gebiet). Daraus dann aber zu schließen, dass ich auch vor Gott gut bin, wäre aus christlicher Sicht verfehlt.