Christliches Leben: Tugend oder Heiligung? Teil 2/​3 – Eine Wortstudie

Von Jens Binfet

Heiligung
Juni 13, 2019

Im vor­an­ge­gan­ge­nen Arti­kel habe ich die gro­ßen Denk­li­ni­en der Kir­chen­ge­schich­te in der Fra­ge nach Tugend und Hei­li­gung nach­voll­zo­gen. Der Ein­fach­heit hal­ber nen­ne ich sie „aris­to­te­lisch“ und „refor­ma­to­risch“. Bei­de Tra­di­tio­nen haben ihre eige­nen Begrün­dun­gen, die man ernst neh­men muss. Mir geht es aber in die­sem Arti­kel nicht dar­um, die­se im Ein­zel­nen nach­zu­voll­zie­hen – das wäre Auf­ga­be einer grö­ße­ren his­to­risch-theo­lo­gi­schen Abhandlung.

Daher wen­de ich mich nun dem bibli­schen Text zu und ver­su­che Anhalts­punk­te für Argu­men­te in die­ser Streit­fra­ge offen­zu­le­gen. Es ist sicher nicht mög­lich, die Span­nung zwi­schen Hei­li­gung und Tugend voll­stän­dig auf Arti­kel­län­ge zu beant­wor­ten. Den­noch will ich einen Ein­stieg bie­ten. Im Anschluss skiz­zie­re ich dann noch eini­ge sys­te­ma­tisch-theo­lo­gi­sche Pro­blem­punk­te, die sich aus der Exege­se ergeben.

ἀρετή (Tugend) und ἁγιασμός (Heiligung) im NT und der Septuaginta

Begin­nen wir mit den zen­tra­len Begriffen:

  • Der Kern­be­griff des Aris­to­te­les ist die Tugend: ἀρετή
  • Luther stellt dem den bibli­schen Begriff der Hei­li­gung gegen­über: ἁγιασμός

ἀρετή

Weil Aris­to­te­les vor der Abfas­sung des Neu­en Tes­ta­men­tes (NT) sowie auch vor der Über­set­zung der Sep­tuag­in­ta (LXX) wirk­te, könn­te sein Tugend­be­griff in der Spra­che der Bibel auf­ge­nom­men wor­den sein. Wo also kommt ἀρετή vor?

Logos macht es glück­li­cher­wei­se sehr ein­fach, sol­chen Fra­gen nach­zu­ge­hen. Eine Wort­stu­die bie­tet einen opti­ma­len Aus­gangs­punkt. Dazu muss ich noch nicht ein­mal eine grie­chi­sche Tas­ta­tur bemü­hen, son­dern kann das Wort mit dem „g:”-Präfix ein­fach mit latei­ni­schen Buch­sta­ben in die Suche ein­ge­ben und Logos schlägt mir die Wort­stu­die vor, z. B. „g:arête“

Die Wort­stu­die ver­rät uns, dass das Wort 5‑mal im NT vor­kommt. Ein Blick in Kas­sühl­kes Klei­nes Wör­ter­buch zum Neu­en Tes­ta­ment zeigt die Bedeu­tun­gen im NT: Die erwar­te­te Tugend ist dabei, jedoch auch Got­tes­kraft und Macht­tat. Die Wort­stu­die bie­tet aber noch wei­te­re Abschnit­te: Im Über­set­zungs­gra­phen wird deut­lich, dass in der Luther­über­set­zung tat­säch­lich ein­mal mit „Kraft“ über­setzt wird. Die Schlach­ter Über­set­zung über­setzt durch­ge­hend mit „Tugend“. Der Über­set­zungs­graph funk­tio­niert mit allen Bibel­über­set­zun­gen, für die Sie einen Inter­li­ne­ar-Daten­satz besit­zen. Die wähl­ba­ren Optio­nen sehen Sie, wenn Sie mit der Maus über den Über­schrift­be­reich des Abschnitts gehen und auf die erschei­nen­den „Ein­stel­lun­gen“ klicken

Nun schau­en wir uns die fünf Ver­se ein­mal genau­er an: In der Wort­stu­die kann ich dazu ein­fach eine Suche nach dem Lem­ma in ver­schie­de­nen Werk­grup­pen star­ten – in die­sem Fall „Neu­es Tes­ta­ment“. (Abschnitt: „Eine Suche star­ten“)

Wir ent­de­cken eine Erwäh­nung im Phil­ip­per­brief sowie vier bei Petrus. Zwei der Petrusstel­len bezie­hen sich auf Got­tes „Tugen­den“, d.h. sei­ne Pracht oder Exzel­lenz. Das ist offen­sicht­lich von dem Gebrauch in der LXX her geprägt. Zurück in der Wort­stu­die kön­nen wir dem im Abschnitt „Sep­tuag­in­ta-Über­set­zung“ nach­ge­hen. Hier sehen wir, dass ἀρετή die (sel­te­ne) Über­set­zung von תְּהִלָּה (Ruhm, Lob­preis) oder הוֹד (Hoheit, Pracht) ist. Nach Otto Bau­ern­feind (ThWNT) ist das Wort sogar syn­onym zu δόξα (Lob, Herr­lich­keit). Das Wort ist somit in der LXX ein rei­ner Anbe­tungs­be­griff in Bezug auf Gott – kei­ne Spur von Tugenderwerb.

Blei­ben noch Phil­ip­per 4,8 und 2Petr 1,5. Hier ist die Tugend etwas, was der Christ anstre­ben soll. Das klingt auf den ers­ten Blick stark nach dem aris­to­te­li­schen Sche­ma der Übung zum Tugen­d­er­werb. Aller­dings wird hier im Kon­text nie­mals nahe­ge­legt, ein Mensch kön­ne in sei­nem Wesen gut wer­den, indem er tugend­haft han­delt. Im Gegen­satz: Immer wird die Neu­schöp­fung des Chris­ten vor­aus­ge­setzt, auf die dann die tugend­haf­ten Wer­ke fol­gen. Der aris­to­te­li­sche Tugend­be­griff ist somit weder im NT noch in der LXX direkt nachweisbar.

Die Unter­su­chung des brei­te­ren Wort­fel­des ist eben­falls nur wenig ergie­big. Im Abschnitt „Wur­zel“ kön­nen wir die 42 Vor­kom­men des Wort­fel­des αρεσκω sich­ten: Die Anklän­ge in Pau­lus haben fast immer die Wohl­ge­fäl­lig­keit (=Tugend) des Gerecht­fer­tig­ten in der Hei­li­gung zum Inhalt. Nie geht es dar­um, Tugend zu erwer­ben oder zu erler­nen. Römer 8,8 könn­te gar als Unfä­hig­keit des natür­li­chen Men­schen, Tugend zu erwer­ben, auf­ge­fasst wer­den: „Die aber fleisch­lich sind, kön­nen Gott nicht gefallen.“

Ins­ge­samt wei­sen die Ergeb­nis­se unse­rer Wort­stu­die eher dar­auf hin, dass das bibli­sche Kon­zept der Tugend sich deut­lich vom aris­to­te­li­schen Gedan­ken unterscheidet.

ἁγιασμός

Viel häu­fi­ger als Tugend fin­det man in der christ­li­chen Tra­di­ti­on das Wort „Hei­li­gung“. Das ist in gewis­ser Wei­se der christ­li­che Fach­be­griff für den Pro­zess hin zu einem tugend­haf­ten Leben – also genau das, was Aris­to­te­les bewegt. Daher gehen wir die­sem Wort­feld eben­falls kurz nach. (Das kann natür­lich mit den oben gezeig­ten Mit­teln auch noch ver­tieft wer­den.) ἁγιασμός/​ἁγιάζω (Heiligung/​heiligen) kommt im NT ins­ge­samt 39 Mal vor. Auch bei die­ser Wort­feld­be­trach­tung wird schnell deut­lich: „Das logi­sche Sub­jekt der Hei­li­gung ist ein­zig und allein Gott, nicht der Mensch.“(Otto Procksch/​Gerhard Kit­tel (Hrsg.), Arti­kel im ThWNT zu ἁγιασμός). Ἁγιασμός ist also ein Pro­zess, der immer von Gott ausgeht.

Biblisch unter­streicht bspw. Offb 22,11 die­sen Zusam­men­hang deut­lich: „Wer gerecht ist, der übe wei­ter­hin Gerech­tig­keit, und wer hei­lig ist, der sei wei­ter­hin hei­lig.“ Der Zustand der Gerechtigkeit/​Heiligkeit ist die Basis für die heilige/​gerechte Tat und nicht umge­kehrt. Oder wie es Jesus for­mu­liert: Der gute Baum bringt gute Frucht, aber kei­ne Frucht kann das Wesen des Bau­mes ändern. Dazu braucht es Gott.

Theologische Beobachtungen zu diesem Diskurs

Der sprach­li­che Befund unter­stützt also die refor­ma­to­ri­sche Sicht­wei­se deut­lich. Aber es wäre zu kurz gesprun­gen, hier auf­zu­hö­ren. Eine Wort­stu­die hat in sich nicht genug Gewicht, um dog­ma­ti­sche Fra­gen zu klären.

Christlich vs. Aristotelisch

Wo lie­gen die Front­li­ni­en in der Dog­ma­tik und wel­che Schluss­fol­ge­run­gen zie­hen sie nach sich? Wäh­rend nach Aris­to­te­les durch die Übung ein Zustand ent­steht (durch tap­fe­re Taten ein tap­fe­res Wesen), dreht die refor­ma­to­ri­sche Sicht­wei­se die­se Glei­chung um. Udo Schnel­le for­mu­liert das im Stan­dard­werk RGG4 (Arti­kel „Hei­li­gung“) so: „Hei­li­gung ist im NT eine Hand­lungs­ka­te­go­rie, die auf der Sta­tus­ka­te­go­rie der Hei­lig­keit basiert.“ Alle christ­li­chen Tra­di­tio­nen sehen „nahe­zu aus­nahms­los Gott selbst als Ursprung und Sub­jekt der Hei­li­gung“ (Man­fred Mar­quardt, eben­falls im RGG Arti­kel) an.

Der Gra­ben ver­läuft also tat­säch­lich zwi­schen der gesam­ten christ­li­chen Tra­di­ti­on auf der einen Sei­te und Aris­to­te­les auf der ande­ren. Das Pro­blem bei Aris­to­te­les ist die Zen­trie­rung der Tugend auf den Men­schen. Das ruft aus mei­ner Sicht meh­re­re theo­lo­gi­sche Pro­ble­me her­vor: Zual­ler­erst berührt die Fra­ge: „Wie wer­de ich gut?“, direkt die Leh­re vom Heil (Sote­rio­lo­gie). Sie stößt ins Herz der christ­li­chen Theo­lo­gie vor und ist kei­nes­falls zweitrangig.

Denn sobald eige­ne Anstren­gun­gen einen (vor Gott) akzep­ta­blen Zustand errei­chen kön­nen, spre­chen wir von Selbst­er­lö­sung. Gna­de wäre dann irrele­vant. Dies zieht Kon­flik­te mit einem gan­zen Bün­del zen­tra­ler christ­li­cher Dog­men nach sich: z. B. der Erlö­sungs­be­dürf­tig­keit des Men­schen, der Ernst­haf­tig­keit des Sün­den­pro­blems und des mensch­li­chen Unver­mö­gens, durch die Ursün­de geist­li­che Din­ge kor­rekt zu beur­tei­len. Auch ein so stark von Aris­to­te­les gepräg­ter Theo­lo­ge wie Tho­mas von Aquin weicht auf­grund die­ser theo­lo­gi­schen Pro­ble­ma­tik – mei­nes Erach­tens zurecht – deut­lich von dem Phi­lo­so­phen ab.

Gott oder Mensch?

Aris­to­te­les ver­la­gert also das Gewicht des Tugen­der­werbs voll­stän­dig auf die mensch­li­che Sei­te. Die­ses Über­ge­wicht ist daher auch – zurecht – in der Theo­lo­gie­ge­schich­te viel­fach kri­ti­siert wor­den, nicht zuletzt von den Reformatoren.

Der sprach­li­che Befund unter­streicht die­ses Pro­blem noch. Aus christ­li­cher Sicht kann die Fra­ge nach der Hei­li­gung nicht ohne den Fokus auf das Wir­ken Got­tes beant­wor­tet wer­den. Besie­gelt das nun den Sieg Luthers über Aris­to­te­les? In gewis­ser Wei­se, ja.

Uns soll­te aber fol­gen­des nicht ent­ge­hen: In der Bibel fin­den wir neben dem sou­ve­rä­nen Han­deln und Geschenk Got­tes – immer die Span­nung zur eige­nen Ver­ant­wor­tung für die Hei­li­gung: „schaf­fet, dass ihr selig wer­det, mit Furcht und Zit­tern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt bei­des, das Wol­len und das Voll­brin­gen, nach sei­nem Wohl­ge­fal­len“ (Phil 2,12b-13). Es ist also nie ent­we­der Gna­de oder Bemü­hen – es ist sowohl als auch! Die Rei­hen­fol­ge der bei­den ist aber enorm wich­tig: Die Gna­de geht dem Bemü­hen immer voraus.

Theologie vs. Philosophie

Zum Schluss die­ses Teils will ich aber noch eine Lan­ze für Aris­to­te­les bre­chen: Er ist kein Theo­lo­ge, son­dern ein Phi­lo­soph. Da ist es ver­ständ­lich, wenn er von der Per­spek­ti­ve des Men­schen aus­geht. Sei­ne Beob­ach­tung ist ja durch­aus nach­voll­zieh­bar: Aus der „Frosch­per­spek­ti­ve“ betrach­tet führt Übung tat­säch­lich meist zu einem Fort­schritt in der Lebens­wei­se (auch auf mora­li­schem Gebiet). Dar­aus dann aber zu schlie­ßen, dass ich auch vor Gott gut bin, wäre aus christ­li­cher Sicht verfehlt.


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Jens Binfet

Über den Autor

Der Autor Jens Binfet ist Doktorand an der Universität Wien. Er hat ein Anliegen, Theologie für die Kirche und den einzelnen Menschen zugänglich zu machen.

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