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Auf der Flucht
Bevor Hagar zu einem besonderen Gotteserlebnis kommen sollte, ist sie auf der Flucht. Auf der Flucht vor ihrer Gegenwart, welche bereits durch die Vergangenheit vorbereitet war. Eine Flucht aus Verzweiflung in die Wüste, dem unwirklichen Ort.
Hansjörg Bräumer schreibt hierzu:
„Hagar findet ihre Lage unerträglich und flieht. In der »Flucht ins Hoffnungslose« sieht Hagar die einzige Möglichkeit ihrer Befreiung. Sie riskiert dabei ihr Leben und das Leben des werdenden Kindes. »Die Flucht der Hagar aus der ›rechtmäßigen‹ Unterdrückung durch Sara in die Wüste, allein allen Gefahren der Wüste ausgesetzt, das ist ein Urbild menschlichen Freiheitswillens.«“ (Bräumer, Das erste Buch Mose (12–36, S. 110)
Mitten in dem lebensfeindlichen Ort, der Wüste, soll Hagar Gott als den kennenlernen, der sie sieht. Als den Gott der ihren Schmerz fühlt, der ihr Leid kennt, der ihre Trauer versteht und der mit ihr den Weg geht.
Sie kommt an einem Brunnen in der Wüste an. Die Weiterreise war unklar. Plant sie den Gang nach Ägypten, oder ist sie vollkommen orientierungslos? Zumindest wird Hagar vom Engel Gottes an diesem Brunnen in der Wüste gefunden. Hier beginnt ihre Seelsorge.
In der Seelsorge Gottes
Sie wird vom Engel des Herrn in die Seelsorge Gottes genommen. Es wird deutlich: Gott hat ihr Leid barmherzig und mitleidend gesehen. Gesehen und nicht nur kalt registriert. Gesehen und damit auch eingegriffen.
Der Blick Gottes nimmt die Vergangenheit und Zukunft von Hagar in den Blick und nimmt sich ihrer an. Die Sklavin Hagar erfuhr durch die Begegnung mit dem Engel des Herrn eine Gottesbegegnung. Eine Begegnung mit dem sie sehenden Gott.
Der Engel des Herrn zeigt der Hagar, dass sie Gott nicht egal ist. Der Blick Gottes traf Hagar, als ihr Leid zum Höhepunkt gekommen ist. Das Leid und die Fragen nach dem sehenden Gott kommen hier zusammen.
Der Engel des Herrn nimmt sie in die Seelsorge. Er fragt sie: „Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, woher kommst du, und wohin gehst du? Und sie sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht.“ (Genesis 16,8)
Hagar darf ihr erlittenes Leid klagen. Sie bekommt in der göttlichen Seelsorge die Möglichkeit, ihren Schmerz von der Seele zu sprechen.
Ein Versprechen und ein Befehl
Hagar bekommt dann aber auch einen Befehl und ein Versprechen. Sie soll zurückkehren und Gott wird ihren Nachkommen Ismael zu einem großen Volk machen. Wörtlich fügt der Engel des Herrn hinzu:
„Und der Engel des HERRN sprach weiter zu ihr: Siehe, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären; dem sollst du den Namen Ismael geben, denn der HERR hat auf dein Elend gehört. Und er, er wird ein Mensch wie ein Wildesel sein; seine Hand gegen alle und die Hand aller gegen ihn, und allen seinen Brüdern setzt er sich vors Gesicht.“ (Genesis 16,11–12)
Hagar lernte: Wenn Gott ins Leben tritt, dann werden die Umstände nicht unbedingt leichter, aber im Fall von Hagar änderte sich ihre Perspektive. Gott reißt den Vorhang der Dunkelheit und Ausweglosigkeit auf und zeigt ihr den Weg, auf dem die Spuren der Hoffnung zu einem großen Gesamtbild zusammenfließen.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.” Das ist Hagars Fazit zu ihrer Begegnung mit Gott. Es ist eine Antwort auf Gottes Begegnung und die Ermutigung durch Gott.
Das „Sehen“ Gottes zieht sich durch die Bibel hindurch. Es startete nicht bei Hagar und es endete nicht bei Hagar.
Wenn Gott sieht – eine Spurensuche in der Bibel
Wie handelt Gott, wenn er das Leid sieht?
Wir werden uns nun auf eine Spurensuche durch die Bibel machen, wie sich der Blick Gottes dort auswirkte. Ich möchte dies anhand von drei Stationen darlegen.
Der Exodus von dem Volk Israel aus Ägypten gilt als ein grundlegendes Paradigma von Gottes heilschaffenden Handeln in seiner Geschichte mit der Welt. Auch der Exodus beginnt mit dem Blick Gottes. Mit dem Gott, der das Leid seines Volkes Israel sieht (Ex 3,7). Der die Schreie seines Volkes hört und zur Rettung kommt (Ex 3,7–8). So sagt Gott zu Mose, als er diesen in seinen Dienst zum Anführer des Volkes Israels beruft:
„Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Geschrei über ihre Bedränger habe ich gehört; ich habe ihre Leiden erkannt.“ (Ex 3,7)
Die Folge des Sehen Gottes war ein Prozess zur Befreiung Israels aus der Sklaverei. Gottes Sehen veränderte die Geschichte. Gottes Blick bewirkte, dass ein Prozess der Befreiung und der Heilung ins Leben rief.
Wenn Gott Unrecht sieht – was dann?
Die zweite Station geht auf die Zeit von Abraham zurück. Es ist allerdings nach der Geburt von Ismael und vor der Geburt von Isaak. In diesem Fall hat Abraham eine Gottesbegegnung. Neben der Wiederholung und Bekräftigung von dem Versprechen Gottes gegenüber Abraham und Sara, wird auch auf die Situation einer Sorgen-Stadt eingegangen. Die Rede ist von Sodom. Gott sagt zu Abraham:
„Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorra, denn ihre Sünden sind sehr schwer. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob’s nicht so sei, damit ich’s wisse.“ (Gen 18,20–21)
Hier führte Gottes Blick dazu, dass Ungerechtigkeit und deren Verursacher gerichtet wurden. Dagegen wurde Lot mit seiner Familie aus der Stadt gerettet (die Geschichte mit Lots Frau wird hier mal außer Acht gelassen).
Wie sieht Jesus uns?
Die dritte Station betrifft Jesus und eine große Menge Menschen. In Matthäus 14,14 wird berichtet:
„Und als Jesus es hörte, zog er sich von dort in einem Boot abseits an einen öden Ort zurück. Und als die Volksmengen es hörten, folgten sie ihm zu Fuß aus den Städten. Und als er ausstieg, sah er eine große Volksmenge, und er wurde innerlich bewegt über sie und heilte ihre Kranken.“
Hier sieht Jesus die Situation und lässt sich davon berühren. Das führt dazu, dass Jesus ihre Krankheiten heilt und ihnen das Evangelium vom Reich Gottes predigt.
Sieht Gott heute die Situationen in unserer Welt?
Was bleibt von dieser Geschichte für das 21. Jahrhundert und für das Jahr 2023?
Der Blick Gottes verändert alles.
Der Blick Gottes wirkt heilend und lebensfördernd, aber auch korrigierend und bringt auch Gericht.
Hier haben wir uns Anfragen gefallen zu lassen. Sieht Gott die heutige Welt mit seinem Blick an? Wenn er der Gott ist, der sieht, warum ist unsere Welt dann so, wie sie eben ist?
Nur zur Erinnerung, auch wenn dies die Stimmung etwas trüben dürfte: Wir haben 2022 die Erschütterung eines Krieges mitten in Europas erlebt. Hier wurden wir mit einem Schrecken daran erinnert, dass Krieg und der Überfall eines Landes durch einen Nachbar auch im Europa des 21. Jahrhunderts möglich ist.
Familien wurden in der Folge zerstört. Kinder wurden zu Waisen, verloren Vater oder auch Mutter. Eltern verloren ihre Kinder. Andere erfuhren, dass ihre Kinder in Kriegsgefangenschaft geraten sind. Sie machen sich Sorgen darüber, ob ihre Lieben misshandelt werden und ob sie den Horror überhaupt überleben und danach weiterleben können.
Ist Gott heute noch „ein Gott, der mich sieht“?
Sieht Gott die Sklavinnen in Deutschland?
Eine andere Situation findet mitten in Deutschland statt. Sklaverei und Menschenhandel. Deutschland gilt als das Bordell Europas. Laut dem Deutschlandfunk (14.04.2020) machen über 90% der Prostituierten das nicht freiwillig. Sie werden gezwungen, verkauft, versklavt, misshandelt und vergewaltigt. Ein unermessliches Leid findet vor unserer Haustüre statt. Täglich!
Die Gesetze von Deutschland begünstigen diese Situation und damit das Leid der Sex-Sklavinnen. Sieht Gott ihr Leid. Können sie auch sagen: „Du bist ein Gott, der mich sieht“?
Sieht Gott die nagende Einsamkeit?
Die letzte Situation. Einsamkeit ist das Schlagwort. Eine Frau wurde von ihrem Mann bzw. ihrem Freund verlassen. Eltern hat sie nicht mehr oder sie haben keinen Kontakt mehr. Kinder hat sie nicht; dieses Schicksal teilt sie sich mit Sara und Abraham.
An Heiligabend wird es besonders hart. Sie sitzt alleine vor dem Fernseher und versucht die finsteren Gestalten der Einsamkeit in Schach zu halten. Erfolglos. Die Einsamkeit frisst sich wie Krebs durch ihre Knochen. Auch mit Alkohol lässt sich dieser Schmerz nicht gänzlich betäuben.
Wo ist der Gott, der sie sieht?
Das Sehen Gottes und das Kreuz
Sieht Gott die heutigen Situationen? Der fromme Leser ist geneigt sofort und wie aus der Pistole geschossen „ja, selbstverständlich“ zu antworten. Der skeptische Leser fragt: „Wo ist denn Gott, wenn er mich sieht?“
Bei diesen Fragen kommen wir an dem zentralen Ort der Welt- und Heilsgeschichte nicht vorbei. Jerusalem im Jahr 30 n.Chr. Genauer gesagt, etwas außerhalb der Stadtmauer an dem Henkershügel Golgatha. Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde, steht im Mittelpunkt.
Seine Menschheit führt die Geschichte vom Garten Eden fort und bringt sie auf einen neuen Höhepunkt. Und Gott? Gott liefert sich seiner Menschheit aus. An Karfreitag hätte Friedrich Nietzsche teilweise recht gehabt: „Gott ist tot … wir haben ihn getötet“. Aber sind wir noch bei der Jahreslosung 2023? Wo ist hier am Kreuz das Sehen Gottes?
Wie handelt der Gott, der uns sieht?
Der Gott, der das größte Leid der Menschheit sieht, ist in Christus herabgestiegen, um selbst zu handeln. Der sehende Gott ist der handelnde Gott, der das größte Problem, die Gottestrennung der Menschheit, angeht.
Dies tut er, indem er sich selbst seinem eigenen, dem göttlichen Gericht ausliefert, in die Hände der Menschheit gibt und das Urteil der sündigen Menschheit an sich selbst vollzieht.
Am Kreuz sehen wir den sehenden Gott im Original. Der sehende Gott ist der leidende Gott und der rettende Gott. Gleichzeitig sehen wir am Kreuz auch den richtenden Gott und den rechtfertigenden Gott, der souverän herrscht und die Mächte des Bösen, der Sünde und des Teufels besiegt.
Der leidende Gott ist der herrschende Gott. Dieser siegreiche Gott ist der sehende Gott. Und dieser eine wahre Gott gibt seiner Menschheit einen Auftrag. Einen Auftrag für die Welt und für die Menschheit. Einen Auftrag als Ebenbilder Gottes, Gottes Willen zu bezeugen.
Das Sehen Gottes und der Auftrag der Kirche
Als Hagar dem sehenden Gott begegnete, bekam sie auch einen Auftrag. Der Gott, der unsere Welt mit ihren ganzen Brüchen, mit der Dunkelheit und dem Schmerz sieht, hat seiner Kirche und damit jedem einzelnen Glaubenden einen Auftrag gegeben: Gottes heilende Königsherrschaft in der Welt zu bezeugen und nach diesen Maßstäben zu leben.
In Matthäus 28,18–20 steht über den Auftrag von Jesus an seine Nachfolger:
„Und Jesus trat zu ihnen und redete mit ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie alles zu bewahren, was ich euch geboten habe! Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters.“
Und in Johannes 19,21 lesen wir:
„Jesus sprach nun wieder zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch.“
Der Sehende Gott will uns als handelnde Menschen in seine Sendung einbeziehen, durch die er, der allmächtige Gott, seine rettende Herrschaft ausbreiten und bezeugen möchte. Gott will durch seine Menschen handeln!
Die Ebenbilder Gottes sollen sich im Blick Gottes als gesehen wiederfinden, erneuern lassen und seine gute Botschaft der Welt bringen. Dies schafft die Heilung von den größten Problemen überhaupt: den Problemen der Gottestrennung, der Sünde und der Schuld.
Die Spuren der Hoffnung im Rückspiegel
Wie man das Leben vorwärts lebt und Rückwärts erst versteht, so werden die Spuren der Hoffnung durch den Blick Gottes oft erst im Nachhinein gesehen; eben im Rückspiegel des Lebens.
Das ganze Bild lässt sich oft erst dann sehen, wenn wir uns im Blick Gottes als erkannt erkennen. Wenn wir Christus sehen, wie er ist und wenn er uns im Rückblick auf unser Leben sein Handeln erklärt.
Bis dahin gilt das Vertrauen auf ihn, den sehenden Gott. Denn „du bist ein Gott, der mich sieht.“