Inhalt
Die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg
Es war kurz nach dem 1. Weltkrieg in der Schweiz. Ein bis dahin nicht sonderlich bekannter Pfarrer wurde mit einem Schlag im deutschsprachigen Raum und später weltweit bekannt. Bis dahin verlief sein Leben relativ ruhig und ohne große Aufregung. Seine Dienststelle war im Schweizer Kanton Aargau, wo er im Ort Safenwil seit dem Jahr 1911 tätig war. Bis dahin war der junge Karl Barth ein reformierter Pfarrer unter vielen anderen. Karl Barth hatte weder promoviert, noch deutete etwas darauf hin, dass er einer der bedeutenden Theologen seit Schleiermacher werden sollte.
Ausschlaggebend dafür war ein Kommentar zum Römerbrief, den Karl Barth 1919 veröffentlichte und 1922 in einer überarbeiteten Ausgabe neu herausgab. Mit diesem Werk katapultierte sich der junge Pfarrer Barth schlussendlich mitten hinein in die akademische Theologie und wurde zu einem einflussreichen Dogmatik Professor, der aus der Theologiegeschichte nicht mehr weggedacht werden kann.
Das alles ist Grund genug für eine ausführlichere Beschäftigung mit einem Mann, der aus dem Nebel des Unbekannten heraus zu einem weltweit prägenden Theologen der dialektischen Theologie wurde.
Schlaglichter des Lebens von Karl Barth
Kindheit, Jugend, Studium und Pfarramt
Karl Barth wurde am 10.05.1886 als Sohn des Basler Theologen Fritz Barth und seiner Frau Anna Katharina geboren. Er war eines von fünf Kindern des Ehepaars Barth. Es wird berichtet, dass unter seinen Vorfahren auch der Reformator Heinrich Bullinger zu finden ist. Als Karl Barth 3 Jahre alt war, wurde sein Vater zum Nachfolger von Adolf Schlatter an die Universität von Bern berufen.
Ab dem Jahr 1904, begann Karl Barth sein Studium in der evangelischen Theologie. Er begann sein Studium an der Universität von Bern, studierte anschließend noch in Berlin, Tübingen und Marburg.
Im Gegensatz zu seinem Vater, welcher ein Schüler des Pietisten Johann Tobias Beck war und als „Biblizist“ bezeichnet wurde, fühlte Karl Barth sich zur liberalen Theologie hingezogen. In Berlin studierte er bei Hermann Gunkel und Adolf von Harnack. In Marburg wurde Wilhelm Herrmann sein Lehrer. Auch von Martin Rade lernte Barth viel. Insgesamt war Barth in seinem Studium an Friedrich Schleiermacher interessiert, den er gründlich studierte (und den er später deutlich kritisieren sollte – siehe Barths Werk: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert). Zwischen Berlin und Marburg war Karl Barth auch in Tübingen bei Adolf Schlatter. Dies ging besonders auf den Wunsch und das Betreiben seines Vaters Fritz Barth zurück.
Nachdem Barth zuerst eine Anstellung als Hilfsprediger in Genf hatte (1909–1911) begann sein gut 10 Jahre langer Dienst im Schweizer Ort Safenwil. Hier war Barth von 1911 bis zu seiner Berufung als Professor im Jahr 1921 tätig. In dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau Nelly Hoffmann (1893–1976) kennen, mit welcher er sich im Jahr 1911 verlobte. Im Jahr 1913 heirateten Nelly und Karl Barth. Das Paar hatte zusammen 5 Kinder. Einer seiner Söhne, Markus Barth, sollte später ein bedeutender Neutestamentler in den USA werden.
In seiner Anfangszeit als Theologe und Pfarrer war Karl Barth, im Gegensatz zu seinem Vater, durchaus von der liberalen Theologie angetan und begeistert. Hinzu kam, dass seine Begegnung mit der Armut und Ausbeutung ihn zu einem deutlichen Gegner des damaligen Kapitalismus werden ließ. Er unterstützte Arbeiterinnen und Arbeiter, die in nahezu ausbeuterischen Beschäftigungen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten und viel zu oft unter der Armut litten. Karl Barth wollte den Himmel auf die Erde bringen. Barths öffentliche Äußerungen sorgten durchaus auch für Unmut und ihm wurde vorgeworfen, er befeuere einen Klassenkampf. Barth war mit religiös-sozialen Pfarrern vernetzt und pflegte auch den Kontakt zu Sozialisten. Karl Barth galt als der „rote Pfarrer von Safenwil“ und erlebte so auch Kritik und Widerstand.
Der Schock des ersten Weltkriegs
Der erste Weltkrieg war nicht nur für Karl Barth, sondern auch für die Theologie in Europa ein einschneidendes und historisch erschütterndes Ereignis. In den Jahren vor dem 1. Weltkrieg war der sogenannte Kulturprotestantismus auf seinem Höhepunkt. Hier wurden sehr große Hoffnungen auf den Fortschritt durch Technik und Wissenschaft, durch Zivilisation und Kultur, gesetzt. Dann brach der große und blutige Krieg aus, in welchem die Hoffnung durch den Fortschritt, zusammen mit Millionen von Soldaten, in den Schützengräben starb. Im Granatenhagel der selbsternannten „zivilisierten Welt“ starben auch die idealistischen Vorstellungen des Kulturprotestantismus einen langsamen und schmerzhaften Tod.
Die scheinbare Hochkultur erlebte einen Zivilisationsbruch und einen wahren Sturz in das barbarische und sinnlose Töten hinein. Die Geschichte des Krieges wurde vielfältig erzählt und der Krieg ist sicher auch nicht monokausal zu erklären. Nach Jahren der gegenseitigen Provokationen und des tiefen Misstrauens gegeneinander, welches vom Hass geschürt wurde, war der Krieg zwar nicht unausweichlich, aber auch leider keine Überraschung mehr. In dem Europa, das durch verflochtene Bündnisse die Möglichkeit schuf, einen umfassenden Krieg aus einem lokalen Konflikt heraus entstehen zu lassen, brach in einer Domino-Manier ein Ereignis das Nächste hervor, bis die große europäische und weltweite Katastrophe geschaffen war.
Unumstritten ist sicherlich, dass in den beteiligten europäischen Großmächten eine regelrechte Kriegseuphorie ausbrach (die sicher auch damit zusammen hing, dass in den europäischen Medien regelrecht die nationalistische Töne der jeweiligen Großmacht angeschlagen wurden und zudem sich viele Krisen unheilvoll angestaut hatten). Der erste Weltkrieg war für den jungen Pfarrer Karl Barth ein enormer und Theologie verändernder Schock. Die Freude und Euphorie über den Krieg mussten ihn förmlich angewidert haben. Auch das Verhalten in der Kriegszeit von vielen seiner theologischen Lehrer war für Barth erschütternd.
Er war über die Verteidigung des Krieges und deren Kriegsbegeisterung entrüstet. So unterstützten und befürworteten seine Lehrer Martin Rade und Wilhelm Hermann den Krieg. Für Karl Barth führte dies dazu, dass er sich schlussendlich von der liberalen Theologie und ihrer Identifizierung vom Reich Gottes mit der sozialen Bewegung abwandte. Barth brauchte ein neues theologisches Zuhause. Dies sollte die Dialektische Theologie werden. Barth fand in einer Theologie eine Heimat, die großen Wert auf Gott, seine Offenbarung und seiner Unverfügbarkeit außerhalb dieser Offenbarung legte. Auf Gott, der ganz anders ist, der selbst der ganz andere ist.
Ohne Promotion, aber mit einer Ehrendoktorwürde
Barth überlegte sich noch vor dem Ende des 1. Weltkriegs über Schleiermachers Lehre über das Gebet zu promovieren, verzichtete aber dann darauf und studierte die Institutio des Genfer Reformators Johannes Calvin gründlich. Dann, im Jahr 1919, erschien sein berühmter Kommentar zum Römerbrief. Damit wurde Karl Barth bekannt und kam in aller Munde. Sein Werk wurde vielfach rezensiert und häufig eifrig freundlich und kontrovers diskutiert.
Im Jahr 1922 erhielt Barth von der Universität Münster die Ehrendoktorwürde. Es sollte der erste von 11 Ehrendoktoren sein, mit denen er im Laufe seines Lebens ausgezeichnet wurde.
Professor für Theologie in Deutschland
Obwohl Barth keine Promotion oder Habilitation vorweisen konnte, wurde er im Jahr 1921 als Honorarprofessor nach Göttingen berufen. Er stand vor der Herausforderung, kurzfristig seine Vorlesungen vorzubereiten und unterrichtete über Zwingli, den Bekenntnisschriften, Calvins Institutio (Unterricht in der christlichen Religion) und Schleiermacher. In seiner Göttinger Zeit geriet er mit anderen Kollegen in Konflikt, wie mit dem Kirchenhistoriker Emanuel Hirsch, welcher später auch zu den Nationalsozialisten gehören sollte. Im Jahr 1925, nachdem Karl Barth durchaus auch konfliktreiche Zeiten an der Universität Göttingen erlebt hatte, wurde er zum ordinierten Professor nach Münster berufen. In dieser Zeit lernte er auch Charlotte von Kirschbaum kennen, die seine Assistentin wurde. Ab 1930 lehrte Barth in Bonn. Hier begann er auch mit seinem Lebenswerk und startete die „Kirchliche Dogmatik“, Karl Barth und seine Kirchliche Dogmatik.
Karl Barth hat mit seinem Opus magnum einen ausführlichen Entwurf in der Systematischen Theologie geliefert. Der „Weiße Wal“, wie seine Kirchliche Dogmatik liebevoll genannt wurde, umfasst in 13 Teilbänden über 9000 Seiten.
Eine Besonderheit von Barths Dogmatik ist, dass sie nicht nur sehr ausführlich ist, sondern immer wieder auch exegetische Exkurse beinhaltet und so die Dogmatik und Exegese miteinander verknüpft und in das gemeinsame Gespräch bringt. Auch findet sich bei Barth keine klare Trennung von Dogmatik und Ethik, sondern in seiner Dogmatik behandelt Barth ausführlich ethische Themen.
Bei einem so umfassenden Werk, wie Barths Kirchliche Dogmatik, ist es zwar nicht möglich sämtliche Themen zusammenzufassen, einige Schlaglichter sollen aber kurz skizziert werden. Grundsätzlich gilt, dass Barth unter der Theologie die Besinnung auf das Wort Gottes verstand.
Eine durchaus noch zu behandelnde Frage in der Forschung betrifft den Einfluss von Charlotte von Kirschbaum bei der Entstehung der Kirchlichen Dogmatik. Bekannt ist, dass sie Karl Barth durchaus zugearbeitet hat. Wie ausführlich der Einfluss von Charlotte von Kirschbaum in der schriftlichen Ausgestaltung ausgesehen hat, kann ich hier nicht beurteilen und damit auch nicht ausführen.
Barths Tauflehre
In seiner Tauflehre, die im Rahmen seiner Kirchlichen Dogmatik als Fragment veröffentlicht wurde (KD IV/4) griff Barth unter anderem auf die exegetische Arbeit seines Sohnes Markus Barth zurück. Mit seiner Sichtweise eckte Karl Barth deutlich an und er stieß für seine Ausführungen teilweise auf gewaltigen Widerspruch. Besonders seine Aussagen über die Kindertaufe brachte Barth besonders viel Widerspruch entgegen. Gemäß Barth ist die Kindertaufe eine „unordentliche Taufpraxis.“ Barth machte Calvin Vorwürfe, weil er für die Säuglingstaufe argumentierte und nicht von ihr abwich. Barth schreibt:
„Der Theologie kann ihr nicht bestätigen, daß sie dabei im Gehorsam handelt und also ein gutes Gewissen haben darf. Sie kann die Verantwortung, die die Kirche mit der Einführung dieser Taufpraxis übernommen hat und mit ihrer Aufrechterhaltung fort und fort übernimmt, nicht mir [sic!] ihr teilen. Sie ist eine tief unordentliche Taufpraxis.“ (KD, IV/4, S. 213).
Karl Barth versteht die Taufe nicht als ein Sakrament (während er in seinem Kommentar zum Römerbrief die Taufe als ein Zeichen und Sakrament bezeichnen konnte, wandte sich Barth später vom Sakramentsbegriff ab). Wenn dann, so Barth, kann man von der Geistestaufe als ein sakramentales Geschehen sprechen. So führt Barth auch zuerst seine Auffassung zur Geistestaufe aus, bevor er auf die Wassertaufe zu sprechen kommt.
Unter der Geistestaufe versteht Barth das Handeln Jesu, indem er den Menschen zum Christen macht. In der Geistestaufe wird nach Barth der Mensch auch in die Kirche aufgenommen und bekommt Jesus als seinen Herrn und Meister. Barth unterscheidet die Geistestaufe von der Wassertaufe. Die Taufe mit Geist wird nicht durch die Taufe mit Wasser empfangen. Vielmehr setzt die Wassertaufe die Taufe mit Geist voraus. Die Taufe mit Geist hingegen fordert die Taufe mit Wasser.
Über den Zusammenhang von der Taufe mit Wasser und der Taufe mit Geist schreibt Karl Barth:
„Die Taufe mit dem Heiligen Geist schließt die Taufe mit Wasser nicht aus, sie macht sie auch nicht überflüssig, sie ermöglicht und fordert sie vielmehr. Die Taufe mit Wasser wiederum ist, was sie ist, allein in ihrer Beziehung zur Taufe mit dem Heiligen Geist: sie setzt diese […] voraus.“ (KD IV/4, S. 45).
Unter der Taufe mit Wasser versteht Barth die Handlung des Menschen, der bereits mit Heiligem Geist getauft wurde. Der Geistgetaufte entschließt sich hierzu, weil Christus es befohlen hat. Für Barth ist die Taufe ein Glaubensbekenntnis zu Gottes Gnade und seiner Offenbarungstat. Sie ist sichtbar, verbindlich und verpflichtend. Sie ist die verbindliche Antwort des Menschen.
Für Barth ist die Taufe allerdings nicht optional für den Glauben. Über die Möglichkeit eines Glaubens ohne die Taufe schreibt Barth:
„Die Freiheit der Kinder Gottes wird auch in solchen möglichen Ausnahmefällen keine Freiheit von der Taufe; sie ist und bleibt auch in solchen Ausnahmefällen ihre Freiheit zur Taufe.“ (KD IV/4, S. 173).
Aufgrund seiner Überlegungen kommt Barth zum (etwas polemischen) Ergebnis, dass die Theologie der Säuglingstaufe eine „theologia ex eventu“ sei. Er fordert eine Beweislastumkehr, dass die Vertreter der Säuglingstaufe von der Schrift her ihre Berechtigung begründen müssen.
Barth schreibt:
„So viel zu den wichtigsten exegetischen Argumenten. Das eine große dogmatische Problem jeder Kindertauflehre, dem wir uns nun zuwenden, ist das des Verhältnisses zwischen dem Taufgeschehen auf der einen und dem Glauben auf der anderen Seite.“ (KD IV/4, S. 204).
Barths Sicht wurde teilweise vorgeworfen, dass sie den Schwerpunkt in der Taufe zu sehr auf das Handeln des Menschen lege und zu wenig Gottes Handeln in der Taufe berücksichtige. Diese Vorwürfe kommen auch von Seiten, die die Glaubenstaufe vertreten. Hier dürfte durchaus auch eine der Schwächen von Barths Tauftheologie liegen. Seine bleibende Bedeutung und Anfragen an die Praxis der Säuglingstaufe sind weiterhin zu diskutieren.
Die Schriftlehre von Karl Barth
Bekannt wurden die Sätze, die Barth im Vorwort zur ersten Auflage seines Kommentars zum Römerbrief schrieb:
„Die historisch-kritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müßte zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzten greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Ich bin froh nicht wählen zu müssen zwischen beiden. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist.“
Über diese Aussage wurde vielfältig diskutiert. Der Regensburger Theologe Hans Schwarz schreibt treffend über Barth:
„Barth war in keiner Weise ein Biblizist. Aber er war der Ansicht, dass eine historisch-kritische Untersuchung nur unser Wissen erweitert, weil sie der „Vorbereitung des Verständnisses“ dient, während die Inspirationslehre „auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist“, d.h. dass wir in unser Dasein das aufnehmen müssen, was im Text enthalten ist.“ (Theologie im globalen Kontext, S. 322).
Ganz grundsätzlich galt für die Schriftlehre von Karl Barth, dass er von einer dreifachen Gestalt des Wortes Gottes ausging. Barth konnte vom geoffenbarten Wort Gottes, vom geschriebenen Wort Gottes und vom verkündigten Wort Gottes sprechen.
Das geoffenbarte Wort Gottes ist Gottes Offenbarung in der Geschichte (im Besonderen in Christus), welche in der Bibel (als geschriebenes Wort Gottes) ihren Niederschlag findet und in der Predigt (dem verkündigten Wort Gottes) weitergegeben wird. Eine gewisse Analogie zum Wesen Gottes in seiner Trinität darf hier durchaus gesehen werden und könnte von Barth auch implizit beabsichtigt sein.
Barth schreibt:
„Weil die Offenbarung die sie bezeugende Bibel erzeugt, weil Jesus Christus das Alte und Neue Testament in die Existenz gerufen hat, weil die Heilige Schrift das Dokument eines einzigartigen Hörens auf einen einzigartigen Ruf, das Dokument eines einzigartigen Gehorsams gegen einen einzigartigen Befehl ist, darum konnte sie Kanon und darum kann sie je und je bewegter Kanon werden: Künderin der Offenbarung, Ruf und Befehl Gottes, Gottes Wort an uns.“ (KD I/1, S. 118).
Barth vertrat die These, dass die Bibel im Ereignis Wort Gottes ist und zum Wort Gottes wird. Für Barth ist die Bibel auch Wort Gottes „sofern Gott sie sein Wort sein läßt, sofern Gott durch sie redet“ (KD I/1, S. 112). Barth beschreibt, dass die Bibel im Ereignis zum Wort Gottes wird. Sie greift nach dem Menschen und daher gilt für Barth:
„Die Bibel wird also Gottes Wort in diesem Ereignis und auf ihr Sein in diesem Werden bezieht sich das Wörtlein „ist“ in dem Satz, daß die Bibel Wort Gottes ist. Nicht darin wird sie Gottes Wort, daß wir ihr Glauben schenken, wohl aber darin, daß sie uns Offenbarung wird.“ (KD, I/1, S. 113)
Grundsätzlich vertrat Barth auch die Sichtweise, dass menschliche Gotteserkenntnis nur dort möglich ist, wo Gott sich dem Menschen offenbart. So kann Gott nur durch Gottes Wirken und Gottes Offenbarung erkannt werden. Der Mensch ist auf Gottes Offenbarung vollkommen angewiesen. Gott offenbart sich dem Menschen bei Barth als der Verborgene und macht sich als der verborgene Gott zum offenbaren Gott. Hierin zeigt sich Gottes Gnade und Heiligkeit. Der Mensch kann sich nach der Ansprache durch das Wort Gottes nur zum Ja des Glaubens oder zum Nein des Unglaubens entscheiden.
Exkurs: Karl Barth und die Frage der Gottesebenbildlichkeit
Einige kurze Anmerkungen noch zur Anthropologie bei Karl Barth. Ausgehend von seinem Ansatz, dass Gott der ganz Andere ist, argumentiert Barth, dass der Mensch die Gottesebenbildlichkeit nicht hat und sie auch nie gehabt hatte und sie somit auch durch den Sündenfall nicht verloren haben konnte. Vielmehr sieht Barth die Gottesebenbildlichkeit als die finale Bestimmung des Menschen von Gott her und nicht eine vorfindliche Qualität. Karl Barth schreibt:
„Seine Gottesebenbildlichkeit ist nicht sein Besitz und wird auch nicht dazu, sondern sie liegt ganz in der Absicht und Tat seines Schöpfers, dessen Willen mit ihm eben diese Entsprechung ist.“ (KD III/1, S. 222).
Karl Barth und seine Ehe- und Sexualethik
Das eigene Leben
Es hat durchaus einen gewissen bitteren Beigeschmack, wenn über Karl Barth und seine Ehe- und Sexualethik gesprochen wird. Die Frage, wie Barths Positionen und sein eigener Lebenswandel in Einklang zu bringen sind, ist durchaus schwierig, wenn nicht vollkommen unmöglich. Karl Barth war seit 1913 mit seiner Frau Nelly verheiratet und hatte fünf Kinder mit ihr. Zehn Jahre nach der Hochzeit mit Nelly lernte Karl Barth die im Jahr 1899 geborene Charlotte von Kirschbaum kennen. Mit ihr pflegte er ein inniges Verhältnis und in dieser Beziehung wurde durchaus auch von Liebe gesprochen. Beide gestanden sich gegenseitig auch ihre Liebe ein. Auch Barths Frau Nelly erfuhr dies direkt von Barth selbst.
Weder Karl noch Nelly Barth wollten aber die Scheidung ihrer zerrütteten Ehe. Dennoch zog Charlotte von Kirschbaum im Jahr 1929 dann auch im Hause Barth ein. Sie fungierte als Karl Barths Assistentin und unterstützte seine Arbeit an der Kirchlichen Dogmatik, sie diskutierte mit ihm theologische Themen und war eine theologische Unterstützung für Karl Barth. Die Beziehung von Barth und Charlotte von Kirschbaum war allerdings nicht einfach nur rein platonisch und geistig. Inwiefern sie auch sexuell war, wurde zwar unterschiedlich gedeutet, es wäre allerdings durchaus nicht nur unwahrscheinlich, sondern in Anbetracht der Umstände auch naheliegend.
Charlotte von Kirschbaum kann daher durchaus mit Fug und Recht als die Geliebte von Karl Barth bezeichnet werden. Es war eine „Ehe zu dritt“, die von ihnen als eine „Notgemeinschaft“ bezeichnet wurde und unter denen die Beteiligten litten (insbesondere für Barths Frau Nelly muss dies äußerst schwerwiegend und schmerzhaft gewesen sein). Charlotte von Kirschbaum blieb, bis sie ins Pflegeheim musste, bei der Familie Barth wohnen und wurde dann auch im Familiengrab der Barths beigesetzt, als sie im Jahr 1975 verstarb.
Der Kontrast
Barths Ausführungen in seiner Kirchlichen Dogmatik (III/4) bilden durchaus einen nicht überbrückbaren Kontrast zu seiner eigenen Lebensführung. In gewissem Sinn führte er auf diesem Gebiet ein „Leben im Widerspruch“ (C. Tietz) zu seiner Theologie und der christlichen Ethik. Wie er dies vor sich und Gott, sowie mit seinem Glauben und seiner Ethik vereinbarte, lässt sich nicht sagen. Vermutlich spürte Barth die Spannung und den Widerspruch nur zu deutlich an sich selbst, ohne ihn aufzulösen.
Karl Barth vertrat schließlich selbst eine traditionell protestantische Ehe- und Sexualethik. So versteht Barth unter der Ehe:
„die Gestalt der Begegnung von Mann und Frau, in der diese durch den freien, durch beiderseitige und zusammentreffende Liebeswahl geleiteten Entschluß eines bestimmten Mannes und einer bestimmten Frau zur verantwortlich eingegangenen, völligen, dauernden, ausschließlichen Lebensgemeinschaft dieser beiden Menschen wird. […] Es geht in der Ehe zunächst darum, dass die Begegnung und Beziehung von Mann und Frau hier fixiert und konkretisiert ist in der Gestalt einer in ihrer Art einmaligen, unwiederholbaren, unvergleichlichen Begegnung und Beziehung eines bestimmten Mannes und einer bestimmten Frau. Und ihre Begegnung und Beziehung bedeutet hier Lebensgemeinschaft.“ (KD III/4, S. 155 und 203).
Weiter bezeichnet Barth die Ehe seiner Dogmatik aber als eine exklusive Lebensgemeinschaft und die Ehe als wesensmäßige Einehe.“ (KD III/4, S. 218). Besonders hier wird die Diskrepanz zu seinem eigenen Lebensentwurf sichtbar, welcher mit großer Wahrscheinlichkeit (zumindest zeitweise, wenn nicht gar dauerhaft) als eine Bigamie bezeichnet werden konnte.
Vor und außerhalb der Ehe
Karl Barth verortete darüber hinaus jeglichen Geschlechtsverkehr exklusiv innerhalb der Ehe von Mann und Frau (u.a. KD III/4, S. 147f). Er schreibt zum Sex außerhalb der Ehe in voller Schärfe: „Koitus ohne Koexistenz ist – nochmals gesagt – eine dämonische Angelegenheit.“ (KD III/4, S. 148).
Karl Barth akzeptierte auch keine feste sexuellen Beziehungen vor der Ehe. Barth schreibt hierzu:
„An die Stelle der Liebe träte dann offenbar die prinzipielle und andauernde Liebelei, das heißt dann aber auch: an die die Stelle der völligen und exklusiven Lebensgemeinschaft der Ehe träte dann ein gemächliches, unverbindliches, jeder eigentlichen Disziplin entbehrendes, von jeder letzten Anstrengung dispensiertes Experimentieren.“ (KD III/V, S. 231).
Den außerehelichen Sex mit wechselnden Partnern verurteilt Karl Barth daher konsequenterweise deutlich schärfer und schreibt dazu:
„Wer noch nebeneinander oder abwechselnd mehrere lieben zu können und zu dürfen meint, der liebt noch gar nicht, der ist noch ein Experimentator und der bleibt, wenn er nicht darüber hinauskommt, ein Stümper in diesem Bereich.“ KD (III/4, S. 218–219).
Seine Ansichten über Homosexualität sind für heutige Verhältnisse als durchaus hart zu bezeichnen. So war Barth der Meinung, dass Homosexualität eine Krankheit sei, welche unter anderem von Ärzten und vom Gesetzgeber und Richter zu begegnen wäre (KD III/4, S. 184f).
Kein privater Bereich
Karl Barth war auch der Meinung, dass Sexualität keine reine Privatsache sei und sehr wohl Gott und seinen Anspruch an den Menschen betreffe und daher nicht zu privatisieren sei. Barth schreibt:
„Das Gebot Gottes beansprucht den ganzen Menschen, sagten wir – und entscheidend dafür, daß es das tut, ist die Heiligung auch der physischen Geschlechtlichkeit und Geschlechtsbeziehung […] wer es [d. h. die Geschlechtlichkeit] privatisiert. Sei es, um es als ein Reservat zu behandeln, in welchem er selber Herr und Meister sein will, sei es, um sich daselbst irgendeinem besonderen Gesetz und Régime zu unterwerfen, der entzieht sich eben damit – wohlverstanden auch und gerade in diesem Fall! – dem Gebot Gottes. Die Privatisierung des Geschlechtlichen als solche ist die Verhinderung der Heiligung – des Menschen überhaupt und des Menschen in diesem besonderen Bereich.“ (KD III/4, S. 146).
Fortsetzung und Einladung zur Panel-Diskussion
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