Der Band „Leviticus” der BHQ bildet die 8. Lieferung dieser bahnbrechenden neuen Ausgabe der hebräischen Bibel und ist nun auch bei Logos zu erwerben. Neben dem hebräischen Text und der vollständigen Masora des Levitikus nach dem Codex Leningradensis bietet dieser Band einen völlig neu strukturierten textkritischen Apparat und einen umfangreichen Kommentarteil in englischer Sprache. Was genau hat es damit auf sich? Prof. Dr. Thomas Hieke von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat sich die Ausgabe in diesem Video (englisch) anlässlich der IOSOT-Konferenz 2022 genauer angesehen. Zum Mit- und Nachlesen finden Sie unter dem Video ein deutschsprachiges Transkript des Vortrages.
Inhalt
Einleitung
Textkritiker leisten fundamentale Arbeit – und tun damit genau das Gegenteil von dem, was Fundamentalisten tun. Fundamentalisten lesen eine Bibelübersetzung und denken, dass sie damit Gottes Wort direkt erfassen – als ob es in der vorliegenden Gestalt vom Himmel gefallen wäre. Textkritiker zeigen hingegen durch ihre akribische Arbeit, wie schwierig sich der Überlieferungsprozess „des Wortes“ gestaltete und bis heute gestaltet. Sie beschreiben also den komplizierten Prozess, wie das Buch, das wir heute als „Bibel“ bezeichnen, entstanden ist. Zudem zeigen sie detailliert auf, was wir „wirklich“ auf „materieller“ Ebene als Gottes Wort in den Händen halten.
Im Fall der hebräischen Bibel liegen uns Handschriften aus dem Mittelalter und einige Fragmente vor, die ein Jahrtausend älter sind. Diese bilden die Grundlage für den ersten Teil der christlichen Bibel, die wir Christen als „Altes Testament“ bezeichnen. Für die Exegese, die Predigt und die Lehre ist es entscheidend, eine möglichst zuverlässige Textgrundlage zu haben, auf die man sich stützen kann. Die Erstellung einer kritischen Textausgabe ist daher Grundlagenforschung ersten Ranges. Im Rahmen des Projektes „Biblia Hebraica Quinta“ (BHQ) werden die Ergebnisse dieser Forschung veröffentlicht. Innocent Himbaza aus Fribourg/Schweiz ist Herausgeber der achten Ausgabe der „Biblia Hebraica Quinta“ zum Buch Levitikus/Wajjikra, das den dritten Faszikel der BHQ bildet.1
Die Bestandteile des neuen BHQ-Bandes
Der von der Deutschen Bibelgesellschaft herausgegebene Band enthält den masoretischen Text (MT) des Levitikus-Buches einschließlich des textkritischen Apparates, der Standardsigeln und der Abkürzungen, die im BHQ-Projekt Verwendung fanden. Zudem sind eine kurze Einleitung, Anmerkungen zur Masora parva, zur Masora magna und ein Kommentar zum textkritischen Apparat enthalten.
Der masoretische Text, die Masora magna und der textkritische Apparat
Innocent Himbaza erstellte den hebräischen Text von Levitikus und die dazugehörigen Masora mithilfe der Farbaufnahmen 56v-73v der Handschrift aus der Russischen Nationalbibliothek mit der Signatur EBP. I B 19a, d.h. dem „Codex Leningradensis“ (Siglum ML, ca. 1008/1009 n. Chr., Russische Nationalbibliothek, St. Petersburg). Diesem wichtigsten Manuskript stellte er drei andere Pentateuch-Handschriften der Masoreten gegenüber: (1) Codex Sassoon 507 (auch: Damascus Pentateuch, MS5, 10. Jahrhundert n. Chr., heute in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem); (2) die Pentateuch-Handschrift EBP. II B 17 (M17, 930 n. Chr., Russische Nationalbibliothek) und (3) der Codex Orientales 4445 (MB, 10. Jahrhundert n. Chr., British Library). Gelegentlich wurden auch andere Handschriften herangezogen.
Himbaza hält als wichtiges Ergebnis fest:
„The Masoretic text of Leviticus is well preserved”
[Der masoretische Text von Levitikus ist gut erhalten]
(S. 5).
Unter dem MT befindet sich die Masora magna (Mm) in kleinerer Schriftgröße. Das letzte Drittel jeder Seite bietet Platz für den textkritischen Apparat.
Die BHS verwendet kleine, hochgestellte lateinische Buchstaben, um auf den textkritischen Apparat zu verweisen. Obwohl Wissenschaftler mit dieser Vorgehensweise vertraut sind, könnten die lateinischen Buchstaben und die Versnummerierung mit arabischen Zahlen im gedruckten Text zu der Annahme verleiten, dass es sich nicht um eine mittelalterliche Handschrift handelt. In der BHQ sind daher lediglich die hebräischen Konsonanten, die Vokalisierung, die Akzente der Masoreten (inklusive Abschnittsmarkierungen) sowie die Circelli abgedruckt. Letztere verweisen auf die Masora im Text. Die Vers- und Kapitelnummern finden sich am Rand. Der textkritische Apparat leitet jede Angabe mit dem entsprechenden Wort (Lemma) bzw. Ausdrucks ein.
Diese Vorgehensweise hat zwei Vorteile: Zum einen vermittelt sie ein einheitliches Textbild des hebräischen Haupttextes im oberen Teil der Seite. Dies ist zugegebenermaßen Geschmackssache. Die gedruckte Ausgabe der BHS, der Vorgängerin der BHQ, streut arabische Versnummern und hochgestellte lateinische Indexbuchstaben ein und suggeriert damit, dass der hebräische Text voller Probleme sei. Obwohl das in gewisser Hinsicht stimmt, spiegelt sich darin eher eine moderne Perspektive wider. Etwas mehr Zurückhaltung in Bezug auf das ehrwürdig hohe Alter und die Integrität des Textes ist angebracht, wie sie richtigerweise auch in der BHQ zum Ausdruck kommt. Zum anderen befindet sich das im Sinne der Textkritik problematische Wort, bzw. die Wortverbindung dort, wo es/sie hingehört, nämlich im textkritischen Apparat.
Ein Eintrag zu Lev 1,3 lautet beispielsweise wie folgt:
לִרְצֹנ֖וֺ (Smr) GMss σ’ V S T | > sfx G
Dadurch ist es nicht mehr nötig, den Blick zwischen dem masoretischen Text und dem textkritischen Apparat hin- und herwandern zu lassen. Stattdessen kann man einer einzigen Zeile entnehmen, dass in „Old Greek“ (außer bei einigen Manuskripten) das Suffix für die 3. Person Singular fehlt. Diese Information findet sich im textkritischen Apparat der BHS nicht. Die Biblia Hebraica Stuttgartensia liefert hingegen eine andere Information. In ihrem Haupttext findet sich der Ausdruck לִפְנֵ֥י יְהוׇֽה (lipnê YHWH), und der Indexbuchstabe a verweist auf den Eintrag > ℭ. Dieses Sigel wiederum verweist auf Fragmente hebräischer Handschriften aus der Kairoer Geniza. Das Zeichen > bedeutet in der BHS „plus quam“ bzw. „deest in“. Daher würde man annehmen, dass das Wort JHWH in dem Fragment fehlt, was kaum vorstellbar ist. Innocent Himbaza teilte mir per E‑Mail mit, dass im Fragment der Geniza in Kairo das Tetragramm in den Versen 1–5 traditionell durch ייי ersetzt wird.
Man könnte nun fragen, welche Information zum hebräischen Text von Lev 1,3 wichtiger ist: Das fehlende Suffix in „Old Greek“ (wie durch die BHQ angegeben) oder das in einem Fragment der Geniza aus Kairo ersetzte Tetragramm (wie durch die BHS angegeben)? Wahrscheinlich würde man hier Himbazas BHQ-Ausgabe und deren textkritischem Apparat den Vorzug geben. Das Fragment aus Kairo führt nicht zu einer besseren oder älteren Textvariante für Lev 1,3. Die Version ohne Suffix ist hingegen möglicherweise eine Überlegung wert (Beispiel aus dem Englischen: „acceptable before the Lord“, NETS, vs. „for acceptance in your behalf before the LORD“, NRSV). Für detailliertere Studien zur Textkritik können jedoch Informationen aus beiden Ausgaben der hebräischen Bibel miteinander kombiniert werden.
Die Einleitung
In seiner Einleitung präsentiert Himbaza die bereits erwähnten Informationen zu den Textzeugen des masoretischen Textes (MT). Auf S. 6* fügt er präzisierend hinzu:
„The ML of Leviticus is well preserved in comparison to other books, and its text is in overall agreement with other Tiberian manuscripts of th same book.”
[Im Vergleich zu anderen Büchern ist der ML von Levitikus gut erhalten. Der Text stimmt insgesamt mit anderen tiberiensischen Handschriften des gleichen Buchs überein.]
Das Textmaterial aus Qumran spricht ähnlich wie die Fragmente aus Masada und En Gedi für den masoretischen Text. Einige Fragmente weisen jedoch Ähnlichkeiten zum Samaritanischen Pentateuch (Smr) und der Septuaginta-Vorlage (G) auf. Anschließend erläutert Himbaza, welche Ausgaben des Smr und welche griechischen Belege er verwendete und in welcher Verbindung sie im Allgemeinen zum MT stehen. Ähnliche Bemerkungen zu den lateinischen und syrischen Textzeugen sowie zu den Targumen folgen.
In drei Anhängen wird die Einteilung des Buches Levitikus in Abschnitte (pətuḥâ, sətumâ) mit den masoretischen Kodizes, den Schriftrollen vom Toten Meer und den samaritanischen Handschriften verglichen. Die Einteilung in Abschnitte ist ein Thema für sich und spielt für den Aufbau einer Perikope sowie für deren Abgrenzung vom Kontext eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht stellen diese Übersichten eine wertvolle Quelle dar. Die Einteilungen im masoretischen Text weisen erhebliche Unterschiede auf. Hinsichtlich des Levitikus-Buches sind diese Einteilungen nicht gut harmonisiert.2 Wie die Qumran-Handschriften zu Levitikus zeigen, existierte die von den Masoreten überlieferte Einteilung schon sehr früh. Die samaritanischen Handschriften weisen etwas mehr Abschnitte auf.
In einer Auswertung stellt I. Himbaza fest:
„Interestingly, M and Smr share the majority of the paragraphs, and contain almost the same divisions in Lev 1–7; 12–13; 19; and 21–25. The major differences occur when one witness considers a chapter as divided into many paragraphs, while the other restricts the number of paragraphs to one or two. Such cases occur in Lev 8; 9; 16; 18; and 27”.3
[Interessanterweise stimmen M und Smr hinsichtlich der Abschnitte mehrheitlich überein und weisen größtenteils die gleichen Unterteilungen in Lev 1–7; 12–13, 19 und 21–25 auf. Die größten Unterschiede treten zutage, wenn ein Textzeuge ein Kapitel in viele einzelne Abschnitte unterteilt, während der andere sich auf einen oder zwei Abschnitte begrenzt. Das ist in Lev 8, 9, 16, 18 und 27 der Fall.]
Notizen zur Masora
Die Anmerkungen zur Masora parva (Mp) zitieren den entsprechenden Teil des masoretischen Textes sowie die dazugehörigen Symbole. Anschließend erfolgt die Übersetzung ins Englische. In Fällen, die Himbaza für problematisch bzw. erklärungsbedürftig hält, erfolgt ein kurzer Kommentar mit Erklärungen zu den Anmerkungen der Masoreten (gekennzeichnet durch die Abkürzung „Com.:“). Gelegentlich beziehen sich Kommentare auf Anmerkungen zur Masora magna (Mm). Bei der Mm werden alle Einträge übersetzt. Schwierige Fälle werden kommentiert. In den Anmerkungen zur Mm werden lediglich die Konsonanten des betreffenden Lemmas aus dem MT zitiert. Die Mm selbst (die zusammen mit dem masoretischen Text abgedruckt ist) wird übersetzt. Verweise auf Bibelstellen werden bei der Mm mittels kurzer Zitate des hebräischen Konsonantentextes realisiert. Diese Zitate werden in die moderne Einteilung nach Buch, Kapitel und Vers „übersetzt“. Wenn weitere Informationen oder Erklärungen erforderlich sind, folgt ein Kommentar (Kennzeichnung durch „Com.:“).
Die Anmerkungen zur Masora sind ein hilfreiches Instrument, das die wertvollen Beobachtungen der Masoreten zum hebräischen Text zugänglich und gut verständlich macht. Damit wird ein unbefriedigender Aspekt der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) überwunden. Dort wurde die Mm nämlich vollständig in eine separate Ausgabe ausgelagert (herausgegeben 1971 von Gérard E. Weil).4
An einem Beispiel lässt sich leicht demonstrieren, dass die Hinzufügung der Masora zur Übersetzung und zum Kommentar für den Durchschnittsnutzer der hebräischen Bibel hilfreich und wertvoll ist. In Lev 11,42 befindet sich im hebräischen Manuskript ein größeres waw im Wort גָּח֜וֺן gāḥôn (Körper der Schlange)“. Die BHS gibt die Mp an (חצי אותיות התורֹ ) und erklärt in einer Fußnote: “Littera ו major est quam aliae litterae” (was für den Leser bereits aus dem abgedruckten Text ersichtlich wird). Die von Himbaza herausgegebene BHQ-Ausgabe lüftet auf S. 29 das Geheimnis um das große waw, indem die Mp übersetzt („Mitte der Tora nach Zählung der Buchstaben) und kommentiert wird:
„This indication is accompanied by a special decoration above and below it, which draws attention to it and points to its unusual content. The precise letter concerned is the ו, which is larger than the others. The passage in b. Qidd. 30a. is in agreement with ML since it indicates the same letter as the middle of the Torah. See the Mp at 10:16.”
[Diese Markierung wird mit einer besonderen Verzierung oben und unten versehen. Diese lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wort und weist auf ihren ungewöhnlichen Inhalt hin. Konkret geht es um den Buchstaben ו, der größer als die anderen ist. Der Abschnitt in b. Qidd. 30a stimmt mit MLüberein und weist auf denselben Buchstaben als Mitte der Tora hin. Siehe Mp zu 10,16.]
Die Abkürzung b. Qidd 30a verweist auf einen Abschnitt im Babylonischen Talmud (Bavli, Traktat Qidduschin). Dort wird erklärt, warum Gelehrte schon sehr früh als Soferim bezeichnet wurden: Die Wurzel SPR wurde wörtlich als „zählen“ interpretiert, d.h. die Gelehrten der Frühzeit zählten alle Buchstaben der Tora, um sicherzustellen, dass im Text keine Fehler vorhanden waren. Der Vorgang des Zählens wird in der Handschrift durch das große waw und die besonderen Verzierungen gekennzeichnet. Laut b. Quidd. 30a und der Mp zu Lev 10,16 markiert der Ausdruck דָּרֹ֥שׁ דָּרִַ֥שׁ dārōš dāraš die Mitte der Tora, wenn die Anzahl der Wörter als Maßstab genommen wird. Die Handschrift ML stimmt also in beiden Fällen (Mitte der Tora nach Wörtern bzw. nach Buchstaben) mit dem Abschnitt in Bavli überein.5
Kommentar zum Textkritischen Apparat
In seinem Kommentar zum textkritischen Apparat erörtert Himbaza Fragen, die vor allem die Lesarten des masoretischen Textes betreffen. Der Kommentar liefert hilfreiche Informationen zu den Textzeugen und versucht, den Ursprung und die Entwicklung der beobachteten Unterschiede zu erklären. Dies umfasst sowohl einzelne Details als auch schwierigere Fragestellungen. Ein Beispiel für ein eher kleineres Problem findet sich in Lev 14,43: ML verwendet hier die Lesart בַּבַּ֔ית. Während die BHS die korrekte Vokalisierung wiedergibt, d.h. בַּבַּ֔יִת , die sich auch außer in ML in allen tiberischen Handschriften findet, wird in der BHQ die außergewöhnliche Schreibweise von ML ohne ḥîreq angegeben. Im textkritischen Apparat („err“) und dem dazugehörigen Kommentar wird diese Schreibweise auf einen Schreibfehler zurückgeführt.
Eine der größeren Fragen betrifft Lev 15,3. In diesem Vers enthalten G („Old Greek“), Smr (Samaritanischer Pentateuch) und 11QpaleoLeva (eine in paläohebräischer Schrift verfasste Levitikus-Handschrift aus Qumranhöhle 11) einen Zusatz mit mehr oder weniger identischen Formulierungen. Dieser Zusatz betont die Tatsache, dass eine Unreinheit so lange besteht, wie der Ausfluss von Körperflüssigkeit Bestand hat.6
Der Apparat der BHQ zitiert für Lev 15,3 den Konsonantentext von Smr,7 die im Qumran-Fragment enthaltenen Konsonanten, den griechischen Text, sowie eine Rekonstruktion des masoretischen Textes (auf Grundlage von Smr), wie er zu bevorzugen ist. Der Kommentar auf den Seiten 101 – 102 zitiert den Konsonantentext von Smr, eine englische Übersetzung, einen rekonstruierten Wortlaut von 11QpaleoLeva mit einer englischen Übersetzung sowie den griechischen Text und eine dazugehörige Übersetzung. Im Kommentar wird anschließend erklärt, dass der kürzere masoretische Text auf eine Auslassung aufgrund eines Homoioteleutons zurückzuführen ist.
Nach einer kurzen Erläuterung der denkbaren Erklärungen entscheidet sich Himbaza dafür, dass Smr die früheste und damit die vorzuziehende Variante des Zusatzes und damit auch die älteste überlieferte Version dieses Abschnittes darstellt, da die Auslassung im masoretischen Text sekundär ist. Auch hier ist die BHQ deutlich klarer und präziser als die BHS. Der textkritische Apparat kommentiert den Zusatz für Smr und G als „addunt“ und legt damit nahe, dass es sich um eine sekundäre Hinzufügung handelt. In der BHQ wird hingegen der Wortlaut von Smr, G und 11QpaleoLeva wiedergegeben, wodurch eine viel differenziertere Beurteilung möglich wird. Auf der Grundlage der von der BHQ und Himbaza gelieferten Belege könnte ein Übersetzer oder Kommentator entscheiden, den rekonstruierten Text (auf Grundlage von Smr) für die Übersetzung des Bibeltextes heranzuziehen oder zumindest eine Fußnote zu setzen, die die längere Lesart angibt. Der Kommentar zum kritischen Apparat macht jedoch keine Angaben, inwieweit der Zusatz die Bedeutung des Bibelverses verändert.
Meiner Meinung nach ändert sich die Bedeutung des Verses kaum. Dies kann als weiteres Argument für eine sekundäre Auslassung des Zusatzes im masoretischen Text betrachtet werden. Der kürzere Text ist nach wie vor verständlich und niemand würde die längere Lesart wirklich vermissen. In der Regel würde man gemäß dem Prinzip lectio brevior lectio potior [die kürzere Lesart ist vorzuziehen; Anm. d. Übersetzers] dem MT folgen. Allerdings sprechen in diesem Fall die Belege in Smr, G und 11QpaleoLeva sowie die Möglichkeit eines Homoioteleutons bzw. eines Homoioarction eher für die Annahme, dass es sich bei der längeren Fassung um die ältere Lesart handelt.8
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie schwierig es sein kann, textkritische Argumente gegeneinander abzuwägen. Es zeigt auch, welche Vorteile die BHQ gegenüber der BHS hat. Während die BHS lediglich Ergebnisse bzw. Vorschläge präsentiert, verdeutlicht der Kommentar in der BHQ die Evidenz der verschiedenen Handschriften und Lesarten, identifiziert das Problem und zeigt die Argumentationslinie auf, die zu der im kritischen Apparat dargestellten Entscheidung geführt hat. – Erwähnt sei an dieser Stelle eine Korrektur für Zeile 4 auf S. 109* unten: Anstelle von „Dtn 29,9“ müsste es „Dtn 22,9“ heißen.
Kurze Bewertung
Himbazas BHQ-Band „Leviticus“ ist der neue Standard und unverzichtbare Ausgangspunkt für die textkritische und exegetische Arbeit am 3. Buch Mose. Die Verbesserungen gegenüber der BHS sind enorm. Die Erschließung der Masora magna und Masora parva für Laien ist äußerst hilfreich. Der differenziertere textkritische Apparat ermöglicht eine genauere Beurteilung der Textüberlieferung. Der ausführliche Kommentar zum textkritischen Apparat dürfte sich als Nachschlagewerk für alle, die das Buch Leviticus übersetzen, kommentieren und wissenschaftlich untersuchen und die an einer verantwortungsvollen Exegese interessiert sind, die auf dem real vorliegenden Textbestand der biblischen Texte fußt.9
- Innocent Himbaza, Leviticus (BHQ 3), Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2020.
- Vgl. Himbaza, Leviticus, 13.
- Himbaza, Leviticus, 20.
- Weil, Gérard E. (Hrsg.), Massorah Gedolah iuxta codicem Leningradensem B 19a. Vol. I. Catalogi, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, 1971.
- Hinsichtlich der Anzahl der Buchstaben und Wörter gibt es jedoch von Manuskript zu Manuskript kleine Unterschiede, so dass sich auch die „Mitte der Tora nach Worten“ und die „Mitte der Tora nach Buchstaben“ von Manuskript zu Manuskript unterscheidet. Himbaza weist auf diesen Sachverhalt in seinem Kommentar zur Mp zu Lev 10,16 hin (siehe S. 28*).
- Siehe Jacob Milgrom, Leviticus 1–16 (AncB 3), New York et al.: Doubleday, 1991, 108–109.
- In Bezug auf den Samaritanischen Pentateuch folgt Himbaza der samaritanischen Handschrift G6 (Ms Nablus, Synagoge 6, 1204). In diesem Manuskript findet sich die Lesart כל ימי זוב בשרו „alle Tage des Ausflusses aus seinem Körper“. Die kritische Ausgabe des Samaritanischen Pentateuchs (Leviticus) von Stefan Schorch (Hrsg.), Leviticus. The Samaritan Pentateuch 3, Berlin/Boston: de Gruyter, 2018, verwendet D1 (Ms Dublin, Chester Beatty Library, 751, 1225) als Grundlage. In dieser Ausgabe findet sich die Lesart כל ימי זב בשרו , siehe S. 126. Die Lesart זוב (Substantiv, G6) anstelle von זב (infinitivus constructus, inf.cs., D1) ist ausschließlich in G6 bezeugt (das ו fehlt in M1, Ms Manchester, John Rylands Library, Sam 1, 1211). Möglicherweise handelt es sich um eine lectio facilior, da das Substantiv זוב drei Mal in Lev 15,3 (MT) und drei Mal im gesamten Kapitel vorkommt, während der inf.cs.lediglich hier erscheint. Daher handelt es sich beim inf.cs. (זֻב möglicherweise um die ältere Lesart („alle Tage des Ausflusses aus seinem Körper“). Eine ähnliche constructus-Kette mit „Tagen“ + Verb, die mithilfe eines inf.cs. Unreinheit beschreibt, kommt in Lev 12,2 vor ( כִּימֵ֛י נִדַּ֥ת דְּוֺתׇ֖הּ , kîmê niddat dəwōtāh, “ = „wenn sie ihre Tage hat“). Ich bedanke mich bei Martin Tscheu, der mich auf diese Thematik aufmerksam gemacht hat. Diese inf.cs.-Form des Verbs ZūB („fließen“) kommt (bzw. käme) im ganzen Kapitel jedoch nur einmal vor, während das Substantiv zôb und das Partizip sehr häufig vorkommen. Diese feinen Unterschiede sind für die Bedeutung des Textes jedoch unerheblich.
- Siehe auch: Emanuel Tov, Textual Harmonization in Leviticus, in: Innocent Himbaza (Hrsg.), The Text of Leviticus (OBO 292), Leuven: Peeters, 2020, 13–37, hier: S. 18.
- Ich bedanke mich bei Juliane Eckstein, Martin Rösel und Martin Tscheu für ihre hilfreichen Kommentare zu diesem Paper. Diese haben zu umfangreichen Verbesserungen geführt. Alle in diesem Manuskript verbliebenen Fehler sind allein mein Verschulden.