Levitikus unter der Lupe: Der textkritische Apparat der BHQ

Von Prof. Thomas Hieke

Altes Testament, Textkritik
Vor 2 Monaten

Der Band „Levi­ti­cus” der BHQ bil­det die 8. Lie­fe­rung die­ser bahn­bre­chen­den neu­en Aus­ga­be der hebräi­schen Bibel und ist nun auch bei Logos zu erwer­ben. Neben dem hebräi­schen Text und der voll­stän­di­gen Maso­ra des Levi­ti­kus nach dem Codex Lenin­gra­den­sis bie­tet die­ser Band einen völ­lig neu struk­tu­rier­ten text­kri­ti­schen Appa­rat und einen umfang­rei­chen Kom­men­tar­teil in eng­li­scher Spra­che. Was genau hat es damit auf sich? Prof. Dr. Tho­mas Hie­ke von der Katho­lisch-Theo­lo­gi­schen Fakul­tät der Johan­nes Guten­berg-Uni­ver­si­tät Mainz hat sich die Aus­ga­be in die­sem Video (eng­lisch) anläss­lich der IOSOT-Kon­fe­renz 2022 genau­er ange­se­hen. Zum Mit- und Nach­le­sen fin­den Sie unter dem Video ein deutsch­spra­chi­ges Tran­skript des Vortrages.

Einleitung

Text­kri­ti­ker leis­ten fun­da­men­ta­le Arbeit – und tun damit genau das Gegen­teil von dem, was Fun­da­men­ta­lis­ten tun. Fun­da­men­ta­lis­ten lesen eine Bibel­über­set­zung und den­ken, dass sie damit Got­tes Wort direkt erfas­sen – als ob es in der vor­lie­gen­den Gestalt vom Him­mel gefal­len wäre. Text­kri­ti­ker zei­gen hin­ge­gen durch ihre akri­bi­sche Arbeit, wie schwie­rig sich der Über­lie­fe­rungs­pro­zess „des Wor­tes“ gestal­te­te und bis heu­te gestal­tet. Sie beschrei­ben also den kom­pli­zier­ten Pro­zess, wie das Buch, das wir heu­te als „Bibel“ bezeich­nen, ent­stan­den ist. Zudem zei­gen sie detail­liert auf, was wir „wirk­lich“ auf „mate­ri­el­ler“ Ebe­ne als Got­tes Wort in den Hän­den halten. 

Im Fall der hebräi­schen Bibel lie­gen uns Hand­schrif­ten aus dem Mit­tel­al­ter und eini­ge Frag­men­te vor, die ein Jahr­tau­send älter sind. Die­se bil­den die Grund­la­ge für den ers­ten Teil der christ­li­chen Bibel, die wir Chris­ten als „Altes Tes­ta­ment“ bezeich­nen. Für die Exege­se, die Pre­digt und die Leh­re ist es ent­schei­dend, eine mög­lichst zuver­läs­si­ge Text­grund­la­ge zu haben, auf die man sich stüt­zen kann. Die Erstel­lung einer kri­ti­schen Text­aus­ga­be ist daher Grund­la­gen­for­schung ers­ten Ran­ges. Im Rah­men des Pro­jek­tes „Biblia Hebraica Quin­ta“ (BHQ) wer­den die Ergeb­nis­se die­ser For­schung ver­öf­fent­licht. Inno­cent Him­ba­za aus Fribourg/​Schweiz ist Her­aus­ge­ber der ach­ten Aus­ga­be der „Bib­lia Hebraica Quin­ta“ zum Buch Levitikus/​Wajjikra, das den drit­ten Fas­zi­kel der BHQ bil­det.1

Die Bestandteile des neuen BHQ-Bandes

Der von der Deut­schen Bibel­ge­sell­schaft her­aus­ge­ge­be­ne Band ent­hält den maso­re­ti­schen Text (MT) des Levi­ti­kus-Buches ein­schließ­lich des text­kri­ti­schen Appa­ra­tes, der Stan­dard­s­igeln und der Abkür­zun­gen, die im BHQ-Pro­jekt Ver­wen­dung fan­den. Zudem sind eine kur­ze Ein­lei­tung, Anmer­kun­gen zur Maso­ra par­va, zur Maso­ra magna und ein Kom­men­tar zum text­kri­ti­schen Appa­rat enthalten.

Der masoretische Text, die Masora magna und der textkritische Apparat

Inno­cent Him­ba­za erstell­te den hebräi­schen Text von Levi­ti­kus und die dazu­ge­hö­ri­gen Maso­ra mit­hil­fe der Farb­auf­nah­men 56v-73v der Hand­schrift aus der Rus­si­schen Natio­nal­bi­blio­thek mit der Signa­tur EBP. I B 19a, d.h. dem „Codex Lenin­gra­den­sis“ (Sig­lum ML, ca. 1008/​1009 n. Chr., Rus­si­sche Natio­nal­bi­blio­thek, St. Peters­burg). Die­sem wich­tigs­ten Manu­skript stell­te er drei ande­re Pen­ta­teuch-Hand­schrif­ten der Maso­re­ten gegen­über: (1) Codex Sas­so­on 507 (auch: Damas­cus Pen­ta­teuch, MS5, 10. Jahr­hun­dert n. Chr., heu­te in der Israe­li­schen Natio­nal­bi­blio­thek in Jeru­sa­lem); (2) die Pen­ta­teuch-Hand­schrift EBP. II B 17 (M17, 930 n. Chr., Rus­si­sche Natio­nal­bi­blio­thek) und (3) der Codex Ori­en­ta­les 4445 (MB, 10. Jahr­hun­dert n. Chr., Bri­tish Libra­ry). Gele­gent­lich wur­den auch ande­re Hand­schrif­ten herangezogen. 

Him­ba­za hält als wich­ti­ges Ergeb­nis fest: 

The Maso­retic text of Levi­ti­cus is well preserved”

[Der maso­re­ti­sche Text von Levi­ti­kus ist gut erhalten] 

(S. 5).

Unter dem MT befin­det sich die Maso­ra magna (Mm) in klei­ne­rer Schrift­grö­ße. Das letz­te Drit­tel jeder Sei­te bie­tet Platz für den text­kri­ti­schen Apparat.

Die BHS ver­wen­det klei­ne, hoch­ge­stell­te latei­ni­sche Buch­sta­ben, um auf den text­kri­ti­schen Appa­rat zu ver­wei­sen. Obwohl Wis­sen­schaft­ler mit die­ser Vor­ge­hens­wei­se ver­traut sind, könn­ten die latei­ni­schen Buch­sta­ben und die Vers­num­me­rie­rung mit ara­bi­schen Zah­len im gedruck­ten Text zu der Annah­me ver­lei­ten, dass es sich nicht um eine mit­tel­al­ter­li­che Hand­schrift han­delt. In der BHQ sind daher ledig­lich die hebräi­schen Kon­so­nan­ten, die Voka­li­sie­rung, die Akzen­te der Maso­re­ten (inklu­si­ve Abschnitts­mar­kie­run­gen) sowie die Cir­cel­li abge­druckt. Letz­te­re ver­wei­sen auf die Maso­ra im Text. Die Vers- und Kapi­tel­num­mern fin­den sich am Rand. Der text­kri­ti­sche Appa­rat lei­tet jede Anga­be mit dem ent­spre­chen­den Wort (Lem­ma) bzw. Aus­drucks ein. 

Die­se Vor­ge­hens­wei­se hat zwei Vor­tei­le: Zum einen ver­mit­telt sie ein ein­heit­li­ches Text­bild des hebräi­schen Haupt­tex­tes im obe­ren Teil der Sei­te. Dies ist zuge­ge­be­ner­ma­ßen Geschmacks­sa­che. Die gedruck­te Aus­ga­be der BHS, der Vor­gän­ge­rin der BHQ, streut ara­bi­sche Vers­num­mern und hoch­ge­stell­te latei­ni­sche Index­buch­sta­ben ein und sug­ge­riert damit, dass der hebräi­sche Text vol­ler Pro­ble­me sei. Obwohl das in gewis­ser Hin­sicht stimmt, spie­gelt sich dar­in eher eine moder­ne Per­spek­ti­ve wider. Etwas mehr Zurück­hal­tung in Bezug auf das ehr­wür­dig hohe Alter und die Inte­gri­tät des Tex­tes ist ange­bracht, wie sie rich­ti­ger­wei­se auch in der BHQ zum Aus­druck kommt. Zum ande­ren befin­det sich das im Sin­ne der Text­kri­tik pro­ble­ma­ti­sche Wort, bzw. die Wort­ver­bin­dung dort, wo es/​sie hin­ge­hört, näm­lich im text­kri­ti­schen Apparat. 

Ein Ein­trag zu Lev 1,3 lau­tet bei­spiels­wei­se wie folgt:

לִרְצֹנ֖וֺ (Smr) GMss σ’ V S T | > sfx G 

Dadurch ist es nicht mehr nötig, den Blick zwi­schen dem maso­re­ti­schen Text und dem text­kri­ti­schen Appa­rat hin- und her­wan­dern zu las­sen. Statt­des­sen kann man einer ein­zi­gen Zei­le ent­neh­men, dass in „Old Greek“ (außer bei eini­gen Manu­skrip­ten) das Suf­fix für die 3. Per­son Sin­gu­lar fehlt. Die­se Infor­ma­ti­on fin­det sich im text­kri­ti­schen Appa­rat der BHS nicht. Die Biblia Hebraica Stutt­gar­ten­sia lie­fert hin­ge­gen eine ande­re Infor­ma­ti­on. In ihrem Haupt­text fin­det sich der Aus­druck לִפְנֵ֥י יְהוׇֽה (lip­nê YHWH), und der Index­buch­sta­be a ver­weist auf den Ein­trag > ℭ. Die­ses Sigel wie­der­um ver­weist auf Frag­men­te hebräi­scher Hand­schrif­ten aus der Kai­ro­er Geni­za. Das Zei­chen > bedeu­tet in der BHS „plus quam“ bzw. „deest in“. Daher wür­de man anneh­men, dass das Wort JHWH in dem Frag­ment fehlt, was kaum vor­stell­bar ist. Inno­cent Him­ba­za teil­te mir per E‑Mail mit, dass im Frag­ment der Geni­za in Kai­ro das Tetra­gramm in den Ver­sen 1–5 tra­di­tio­nell durch ייי ersetzt wird. 

Man könn­te nun fra­gen, wel­che Infor­ma­ti­on zum hebräi­schen Text von Lev 1,3 wich­ti­ger ist: Das feh­len­de Suf­fix in „Old Greek“ (wie durch die BHQ ange­ge­ben) oder das in einem Frag­ment der Geni­za aus Kai­ro ersetz­te Tetra­gramm (wie durch die BHS ange­ge­ben)? Wahr­schein­lich wür­de man hier Him­ba­zas BHQ-Aus­ga­be und deren text­kri­ti­schem Appa­rat den Vor­zug geben. Das Frag­ment aus Kai­ro führt nicht zu einer bes­se­ren oder älte­ren Text­va­ri­an­te für Lev 1,3. Die Ver­si­on ohne Suf­fix ist hin­ge­gen mög­li­cher­wei­se eine Über­le­gung wert (Bei­spiel aus dem Eng­li­schen: „accep­ta­ble befo­re the Lord“, NETS, vs. „for accep­tance in your behalf befo­re the LORD“, NRSV). Für detail­lier­te­re Stu­di­en zur Text­kri­tik kön­nen jedoch Infor­ma­tio­nen aus bei­den Aus­ga­ben der hebräi­schen Bibel mit­ein­an­der kom­bi­niert werden.

Die Einleitung

In sei­ner Ein­lei­tung prä­sen­tiert Him­ba­za die bereits erwähn­ten Infor­ma­tio­nen zu den Text­zeu­gen des maso­re­ti­schen Tex­tes (MT). Auf S. 6* fügt er prä­zi­sie­rend hinzu:

The ML of Levi­ti­cus is well pre­ser­ved in com­pa­ri­son to other books, and its text is in over­all agree­ment with other Tibe­ri­an manu­scripts of th same book.”

[Im Ver­gleich zu ande­ren Büchern ist der ML von Levi­ti­kus gut erhal­ten. Der Text stimmt ins­ge­samt mit ande­ren tibe­ri­en­si­schen Hand­schrif­ten des glei­chen Buchs über­ein.]

Das Text­ma­te­ri­al aus Qum­ran spricht ähn­lich wie die Frag­men­te aus Masa­da und En Gedi für den maso­re­ti­schen Text. Eini­ge Frag­men­te wei­sen jedoch Ähn­lich­kei­ten zum Sama­ri­ta­ni­schen Pen­ta­teuch (Smr) und der Sep­tuag­in­ta-Vor­la­ge (G) auf. Anschlie­ßend erläu­tert Him­ba­za, wel­che Aus­ga­ben des Smr und wel­che grie­chi­schen Bele­ge er ver­wen­de­te und in wel­cher Ver­bin­dung sie im All­ge­mei­nen zum MT ste­hen. Ähn­li­che Bemer­kun­gen zu den latei­ni­schen und syri­schen Text­zeu­gen sowie zu den Tar­gu­men folgen. 

In drei Anhän­gen wird die Ein­tei­lung des Buches Levi­ti­kus in Abschnit­te (pətuḥâ, sətumâ) mit den maso­re­ti­schen Kodi­zes, den Schrift­rol­len vom Toten Meer und den sama­ri­ta­ni­schen Hand­schrif­ten ver­gli­chen. Die Ein­tei­lung in Abschnit­te ist ein The­ma für sich und spielt für den Auf­bau einer Peri­ko­pe sowie für deren Abgren­zung vom Kon­text eine wich­ti­ge Rol­le. In die­ser Hin­sicht stel­len die­se Über­sich­ten eine wert­vol­le Quel­le dar. Die Ein­tei­lun­gen im maso­re­ti­schen Text wei­sen erheb­li­che Unter­schie­de auf. Hin­sicht­lich des Levi­ti­kus-Buches sind die­se Ein­tei­lun­gen nicht gut har­mo­ni­siert.2 Wie die Qum­ran-Hand­schrif­ten zu Levi­ti­kus zei­gen, exis­tier­te die von den Maso­re­ten über­lie­fer­te Ein­tei­lung schon sehr früh. Die sama­ri­ta­ni­schen Hand­schrif­ten wei­sen etwas mehr Abschnit­te auf. 

In einer Aus­wer­tung stellt I. Him­ba­za fest:

Inte­res­t­ingly, M and Smr share the majo­ri­ty of the para­graphs, and con­tain almost the same divi­si­ons in Lev 1–7; 12–13; 19; and 21–25. The major dif­fe­ren­ces occur when one wit­ness con­siders a chap­ter as divi­ded into many para­graphs, while the other rest­ricts the num­ber of para­graphs to one or two. Such cases occur in Lev 8; 9; 16; 18; and 27”.3

[Inter­es­san­ter­wei­se stim­men M und Smr hin­sicht­lich der Abschnit­te mehr­heit­lich über­ein und wei­sen größ­ten­teils die glei­chen Unter­tei­lun­gen in Lev 1–7; 12–13, 19 und 21–25 auf. Die größ­ten Unter­schie­de tre­ten zuta­ge, wenn ein Text­zeu­ge ein Kapi­tel in vie­le ein­zel­ne Abschnit­te unter­teilt, wäh­rend der ande­re sich auf einen oder zwei Abschnit­te begrenzt. Das ist in Lev 8, 9, 16, 18 und 27 der Fall.]

Notizen zur Masora

Die Anmer­kun­gen zur Maso­ra par­va (Mp) zitie­ren den ent­spre­chen­den Teil des maso­re­ti­schen Tex­tes sowie die dazu­ge­hö­ri­gen Sym­bo­le. Anschlie­ßend erfolgt die Über­set­zung ins Eng­li­sche. In Fäl­len, die Him­ba­za für pro­ble­ma­tisch bzw. erklä­rungs­be­dürf­tig hält, erfolgt ein kur­zer Kom­men­tar mit Erklä­run­gen zu den Anmer­kun­gen der Maso­re­ten (gekenn­zeich­net durch die Abkür­zung „Com.:“). Gele­gent­lich bezie­hen sich Kom­men­ta­re auf Anmer­kun­gen zur Maso­ra magna (Mm). Bei der Mm wer­den alle Ein­trä­ge über­setzt. Schwie­ri­ge Fäl­le wer­den kom­men­tiert. In den Anmer­kun­gen zur Mm wer­den ledig­lich die Kon­so­nan­ten des betref­fen­den Lem­mas aus dem MT zitiert. Die Mm selbst (die zusam­men mit dem maso­re­ti­schen Text abge­druckt ist) wird über­setzt. Ver­wei­se auf Bibel­stel­len wer­den bei der Mm mit­tels kur­zer Zita­te des hebräi­schen Kon­so­nan­ten­tex­tes rea­li­siert. Die­se Zita­te wer­den in die moder­ne Ein­tei­lung nach Buch, Kapi­tel und Vers „über­setzt“. Wenn wei­te­re Infor­ma­tio­nen oder Erklä­run­gen erfor­der­lich sind, folgt ein Kom­men­tar (Kenn­zeich­nung durch „Com.:“).

Die Anmer­kun­gen zur Maso­ra sind ein hilf­rei­ches Instru­ment, das die wert­vol­len Beob­ach­tun­gen der Maso­re­ten zum hebräi­schen Text zugäng­lich und gut ver­ständ­lich macht. Damit wird ein unbe­frie­di­gen­der Aspekt der Biblia Hebraica Stutt­gar­ten­sia (BHS) über­wun­den. Dort wur­de die Mm näm­lich voll­stän­dig in eine sepa­ra­te Aus­ga­be aus­ge­la­gert (her­aus­ge­ge­ben 1971 von Gérard E. Weil).4

An einem Bei­spiel lässt sich leicht demons­trie­ren, dass die Hin­zu­fü­gung der Maso­ra zur Über­set­zung und zum Kom­men­tar für den Durch­schnitts­nut­zer der hebräi­schen Bibel hilf­reich und wert­voll ist. In Lev 11,42 befin­det sich im hebräi­schen Manu­skript ein grö­ße­res waw im Wort גָּח֜וֺן gāḥôn (Kör­per der Schlan­ge)“. Die BHS gibt die Mp an (חצי אותיות התורֹ ) und erklärt in einer Fuß­no­te: “Lit­te­ra ו major est quam ali­ae lit­terae” (was für den Leser bereits aus dem abge­druck­ten Text ersicht­lich wird). Die von Him­ba­za her­aus­ge­ge­be­ne BHQ-Aus­ga­be lüf­tet auf S. 29 das Geheim­nis um das gro­ße waw, indem die Mp über­setzt („Mit­te der Tora nach Zäh­lung der Buch­sta­ben) und kom­men­tiert wird:

This indi­ca­ti­on is accom­pa­nied by a spe­cial deco­ra­ti­on abo­ve and below it, which draws atten­ti­on to it and points to its unu­su­al con­tent. The pre­cise let­ter con­cer­ned is the ו, which is lar­ger than the others. The pas­sa­ge in b. Qidd. 30a. is in agree­ment with ML sin­ce it indi­ca­tes the same let­ter as the midd­le of the Torah. See the Mp at 10:16.”

[Die­se Mar­kie­rung wird mit einer beson­de­ren Ver­zie­rung oben und unten ver­se­hen. Die­se lenkt die Auf­merk­sam­keit auf das Wort und weist auf ihren unge­wöhn­li­chen Inhalt hin. Kon­kret geht es um den Buch­sta­ben ו, der grö­ßer als die ande­ren ist. Der Abschnitt in b. Qidd. 30a stimmt mit MLüber­ein und weist auf den­sel­ben Buch­sta­ben als Mit­te der Tora hin. Sie­he Mp zu 10,16.]

Die Abkür­zung b. Qidd 30a ver­weist auf einen Abschnitt im Baby­lo­ni­schen Tal­mud (Bav­li, Trak­tat Qid­du­schin). Dort wird erklärt, war­um Gelehr­te schon sehr früh als Sofe­rim bezeich­net wur­den: Die Wur­zel SPR wur­de wört­lich als „zäh­len“ inter­pre­tiert, d.h. die Gelehr­ten der Früh­zeit zähl­ten alle Buch­sta­ben der Tora, um sicher­zu­stel­len, dass im Text kei­ne Feh­ler vor­han­den waren. Der Vor­gang des Zäh­lens wird in der Hand­schrift durch das gro­ße waw und die beson­de­ren Ver­zie­run­gen gekenn­zeich­net. Laut b. Quidd. 30a und der Mp zu Lev 10,16 mar­kiert der Aus­druck דָּרֹ֥שׁ דָּרִַ֥שׁ dārōš dāraš die Mit­te der Tora, wenn die Anzahl der Wör­ter als Maß­stab genom­men wird. Die Hand­schrift ML stimmt also in bei­den Fäl­len (Mit­te der Tora nach Wör­tern bzw. nach Buch­sta­ben) mit dem Abschnitt in Bav­li über­ein.5

Kommentar zum Textkritischen Apparat

In sei­nem Kom­men­tar zum text­kri­ti­schen Appa­rat erör­tert Him­ba­za Fra­gen, die vor allem die Les­ar­ten des maso­re­ti­schen Tex­tes betref­fen. Der Kom­men­tar lie­fert hilf­rei­che Infor­ma­tio­nen zu den Text­zeu­gen und ver­sucht, den Ursprung und die Ent­wick­lung der beob­ach­te­ten Unter­schie­de zu erklä­ren. Dies umfasst sowohl ein­zel­ne Details als auch schwie­ri­ge­re Fra­ge­stel­lun­gen. Ein Bei­spiel für ein eher klei­ne­res Pro­blem fin­det sich in Lev 14,43: ML ver­wen­det hier die Les­art בַּבַּ֔ית. Wäh­rend die BHS die kor­rek­te Voka­li­sie­rung wie­der­gibt, d.h. בַּבַּ֔יִת , die sich auch außer in ML in allen tibe­ri­schen Hand­schrif­ten fin­det, wird in der BHQ die außer­ge­wöhn­li­che Schreib­wei­se von ML ohne ḥîreq ange­ge­ben. Im text­kri­ti­schen Appa­rat („err“) und dem dazu­ge­hö­ri­gen Kom­men­tar wird die­se Schreib­wei­se auf einen Schreib­feh­ler zurückgeführt.

Eine der grö­ße­ren Fra­gen betrifft Lev 15,3. In die­sem Vers ent­hal­ten G („Old Greek“), Smr (Sama­ri­ta­ni­scher Pen­ta­teuch) und 11QpaleoLeva (eine in paläo­he­bräi­scher Schrift ver­fass­te Levi­ti­kus-Hand­schrift aus Qum­ran­höh­le 11) einen Zusatz mit mehr oder weni­ger iden­ti­schen For­mu­lie­run­gen. Die­ser Zusatz betont die Tat­sa­che, dass eine Unrein­heit so lan­ge besteht, wie der Aus­fluss von Kör­per­flüs­sig­keit Bestand hat.6

Der Appa­rat der BHQ zitiert für Lev 15,3 den Kon­so­nan­ten­text von Smr,7 die im Qum­ran-Frag­ment ent­hal­te­nen Kon­so­nan­ten, den grie­chi­schen Text, sowie eine Rekon­struk­ti­on des maso­re­ti­schen Tex­tes (auf Grund­la­ge von Smr), wie er zu bevor­zu­gen ist. Der Kom­men­tar auf den Sei­ten 101 – 102 zitiert den Kon­so­nan­ten­text von Smr, eine eng­li­sche Über­set­zung, einen rekon­stru­ier­ten Wort­laut von 11QpaleoLeva mit einer eng­li­schen Über­set­zung sowie den grie­chi­schen Text und eine dazu­ge­hö­ri­ge Über­set­zung. Im Kom­men­tar wird anschlie­ßend erklärt, dass der kür­ze­re maso­re­ti­sche Text auf eine Aus­las­sung auf­grund eines Homo­io­te­leu­tons zurück­zu­füh­ren ist. 

Nach einer kur­zen Erläu­te­rung der denk­ba­ren Erklä­run­gen ent­schei­det sich Him­ba­za dafür, dass Smr die frü­hes­te und damit die vor­zu­zie­hen­de Vari­an­te des Zusat­zes und damit auch die ältes­te über­lie­fer­te Ver­si­on die­ses Abschnit­tes dar­stellt, da die Aus­las­sung im maso­re­ti­schen Text sekun­där ist. Auch hier ist die BHQ deut­lich kla­rer und prä­zi­ser als die BHS. Der text­kri­ti­sche Appa­rat kom­men­tiert den Zusatz für Smr und G als „addunt“ und legt damit nahe, dass es sich um eine sekun­dä­re Hin­zu­fü­gung han­delt. In der BHQ wird hin­ge­gen der Wort­laut von Smr, G und 11QpaleoLeva wie­der­ge­ge­ben, wodurch eine viel dif­fe­ren­zier­te­re Beur­tei­lung mög­lich wird. Auf der Grund­la­ge der von der BHQ und Him­ba­za gelie­fer­ten Bele­ge könn­te ein Über­set­zer oder Kom­men­ta­tor ent­schei­den, den rekon­stru­ier­ten Text (auf Grund­la­ge von Smr) für die Über­set­zung des Bibel­tex­tes her­an­zu­zie­hen oder zumin­dest eine Fuß­no­te zu set­zen, die die län­ge­re Les­art angibt. Der Kom­men­tar zum kri­ti­schen Appa­rat macht jedoch kei­ne Anga­ben, inwie­weit der Zusatz die Bedeu­tung des Bibel­ver­ses verändert. 

Mei­ner Mei­nung nach ändert sich die Bedeu­tung des Ver­ses kaum. Dies kann als wei­te­res Argu­ment für eine sekun­dä­re Aus­las­sung des Zusat­zes im maso­re­ti­schen Text betrach­tet wer­den. Der kür­ze­re Text ist nach wie vor ver­ständ­lich und nie­mand wür­de die län­ge­re Les­art wirk­lich ver­mis­sen. In der Regel wür­de man gemäß dem Prin­zip lec­tio bre­vi­or lec­tio poti­or [die kür­ze­re Les­art ist vor­zu­zie­hen; Anm. d. Über­set­zers] dem MT fol­gen. Aller­dings spre­chen in die­sem Fall die Bele­ge in Smr, G und 11QpaleoLeva sowie die Mög­lich­keit eines Homo­io­te­leu­tons bzw. eines Homo­io­arc­tion eher für die Annah­me, dass es sich bei der län­ge­ren Fas­sung um die älte­re Les­art han­delt.8

Die­ses Bei­spiel ver­deut­licht, wie schwie­rig es sein kann, text­kri­ti­sche Argu­men­te gegen­ein­an­der abzu­wä­gen. Es zeigt auch, wel­che Vor­tei­le die BHQ gegen­über der BHS hat. Wäh­rend die BHS ledig­lich Ergeb­nis­se bzw. Vor­schlä­ge prä­sen­tiert, ver­deut­licht der Kom­men­tar in der BHQ die Evi­denz der ver­schie­de­nen Hand­schrif­ten und Les­ar­ten, iden­ti­fi­ziert das Pro­blem und zeigt die Argu­men­ta­ti­ons­li­nie auf, die zu der im kri­ti­schen Appa­rat dar­ge­stell­ten Ent­schei­dung geführt hat. – Erwähnt sei an die­ser Stel­le eine Kor­rek­tur für Zei­le 4 auf S. 109* unten: Anstel­le von „Dtn 29,9“ müss­te es „Dtn 22,9“ heißen.

Kurze Bewertung

Him­ba­zas BHQ-Band „Levi­ti­cus“ ist der neue Stan­dard und unver­zicht­ba­re Aus­gangs­punkt für die text­kri­ti­sche und exege­ti­sche Arbeit am 3. Buch Mose. Die Ver­bes­se­run­gen gegen­über der BHS sind enorm. Die Erschlie­ßung der Maso­ra magna und Maso­ra par­va für Lai­en ist äußerst hilf­reich. Der dif­fe­ren­zier­te­re text­kri­ti­sche Appa­rat ermög­licht eine genaue­re Beur­tei­lung der Text­über­lie­fe­rung. Der aus­führ­li­che Kom­men­tar zum text­kri­ti­schen Appa­rat dürf­te sich als Nach­schla­ge­werk für alle, die das Buch Levi­ti­cus über­set­zen, kom­men­tie­ren und wis­sen­schaft­lich unter­su­chen und die an einer ver­ant­wor­tungs­vol­len Exege­se inter­es­siert sind, die auf dem real vor­lie­gen­den Text­be­stand der bibli­schen Tex­te fußt.9

  1. Inno­cent Him­ba­za, Levi­ti­cus (BHQ 3), Stutt­gart: Deut­sche Bibel­ge­sell­schaft, 2020.
  2. Vgl. Him­ba­za, Levi­ti­cus, 13.
  3. Him­ba­za, Levi­ti­cus, 20.
  4. Weil, Gérard E. (Hrsg.), Mass­o­rah Gedo­lah iux­ta codi­cem Lenin­gra­den­sem B 19a. Vol. I. Cata­lo­gi, Stutt­gart: Würt­tem­ber­gi­sche Bibel­an­stalt, 1971.
  5. Hin­sicht­lich der Anzahl der Buch­sta­ben und Wör­ter gibt es jedoch von Manu­skript zu Manu­skript klei­ne Unter­schie­de, so dass sich auch die „Mit­te der Tora nach Wor­ten“ und die „Mit­te der Tora nach Buch­sta­ben“ von Manu­skript zu Manu­skript unter­schei­det. Him­ba­za weist auf die­sen Sach­ver­halt in sei­nem Kom­men­tar zur Mp zu Lev 10,16 hin (sie­he S. 28*).
  6. Sie­he Jacob Mil­grom, Levi­ti­cus 1–16 (AncB 3), New York et al.: Dou­ble­day, 1991, 108–109.
  7. In Bezug auf den Sama­ri­ta­ni­schen Pen­ta­teuch folgt Him­ba­za der sama­ri­ta­ni­schen Hand­schrift G6 (Ms Nab­lus, Syn­ago­ge 6, 1204). In die­sem Manu­skript fin­det sich die Les­art כל ימי זוב בשרו „alle Tage des Aus­flus­ses aus sei­nem Kör­per“. Die kri­ti­sche Aus­ga­be des Sama­ri­ta­ni­schen Pen­ta­teuchs (Levi­ti­cus) von Ste­fan Schorch (Hrsg.), Levi­ti­cus. The Sama­ri­tan Pen­ta­teuch 3, Berlin/​Boston: de Gruy­ter, 2018, ver­wen­det D1 (Ms Dub­lin, Ches­ter Beat­ty Libra­ry, 751, 1225) als Grund­la­ge. In die­ser Aus­ga­be fin­det sich die Les­art כל ימי זב בשרו , sie­he S. 126. Die Les­art זוב (Sub­stan­tiv, G6) anstel­le von זב (infi­ni­ti­vus con­s­truc­tus, inf.cs., D1) ist aus­schließ­lich in G6 bezeugt (das ו fehlt in M1, Ms Man­ches­ter, John Rylands Libra­ry, Sam 1, 1211). Mög­li­cher­wei­se han­delt es sich um eine lec­tio faci­li­or, da das Sub­stan­tiv זוב drei Mal in Lev 15,3 (MT) und drei Mal im gesam­ten Kapi­tel vor­kommt, wäh­rend der inf.cs.ledig­lich hier erscheint. Daher han­delt es sich beim inf.cs. (זֻב mög­li­cher­wei­se um die älte­re Les­art („alle Tage des Aus­flus­ses aus sei­nem Kör­per“). Eine ähn­li­che con­s­truc­tus-Ket­te mit „Tagen“ + Verb, die mit­hil­fe eines inf.cs. Unrein­heit beschreibt, kommt in Lev 12,2 vor ( כִּימֵ֛י נִדַּ֥ת דְּוֺתׇ֖הּ , kîmê nid­dat dəwō­tāh, “ = „wenn sie ihre Tage hat“). Ich bedan­ke mich bei Mar­tin Tscheu, der mich auf die­se The­ma­tik auf­merk­sam gemacht hat. Die­se inf.cs.-Form des Verbs ZūB („flie­ßen“) kommt (bzw. käme) im gan­zen Kapi­tel jedoch nur ein­mal vor, wäh­rend das Sub­stan­tiv zôb und das Par­ti­zip sehr häu­fig vor­kom­men. Die­se fei­nen Unter­schie­de sind für die Bedeu­tung des Tex­tes jedoch unerheblich.
  8. Sie­he auch: Ema­nu­el Tov, Tex­tu­al Har­mo­niza­ti­on in Levi­ti­cus, in: Inno­cent Him­ba­za (Hrsg.), The Text of Levi­ti­cus (OBO 292), Leu­ven: Pee­ters, 2020, 13–37, hier: S. 18.
  9. Ich bedan­ke mich bei Julia­ne Eck­stein, Mar­tin Rösel und Mar­tin Tscheu für ihre hilf­rei­chen Kom­men­ta­re zu die­sem Paper. Die­se haben zu umfang­rei­chen Ver­bes­se­run­gen geführt. Alle in die­sem Manu­skript ver­blie­be­nen Feh­ler sind allein mein Verschulden.


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Prof. Thomas Hieke

Über den Autor

Dr. Thomas Hieke ist Professor für Altes Testament an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Buch Levitikus, der Pentateuch, die Bücher der Chronik sowie Esra-Nehemia, Fragen der Biblischen Theologie sowie der Hermeneutik und Methodologie.

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