Viele Webseiten bieten einen FAQ-Bereich. FAQ (Frequently Asked Questions) ist ein englisches Akronym und bedeutet häufig gestellte Fragen. Kunden oder Interessenten können dort kostenlos und mit ein wenig Glück die Antworten auf ihre allgemeinen Fragen finden. Dadurch wird eine Entlastung des Supports erhofft.
Im Bibelstudium gibt es auch solche allgemeine Fragen.
Beispiel: Induktives Bibelstudium
- Beobachtung – Was steht da?
- Interpretation – Was bedeutet es?
- Anwendung – Wie funktioniert es?
Die Stärke dieser Fragen ist gleichzeitig ihre größte Schwäche: Sie sind sehr allgemein. Die Antworten helfen bei konkreten Fragen nicht weiter. Im Kontext der FAQs ist es in diesem Fall sinnvoll, nun doch den Support zu kontaktieren und sein spezielles Anliegen zu schildern. Und im Bibelstudium sollte es nicht bei diesen allgemeinen Fragen bleiben, sondern wir sollten uns auch textspezifische Fragen stellen. Kurz: FAQs reichen nicht aus, wir brauchen auch RAQs (Rarely Asked Questions).
Inhalt
Die Kunst des Fragens
Gute Fragen zu stellen ist eine Kunst. Vor allem bei scheinbar einfachen Texten solche Fragen zu stellen, deren Antworten nicht auf der Hand liegen, sondern erst durch intensives Bibelstudium beantwortet werden können.
Als ich Schüler der Predigerschulung bei der ECGB war, haben wir von meinem Lehrer, Dr. Cleon Rogers, die Aufgabe bekommen, mindestens 50 Fragen an einen einzigen Vers zu stellen:
Apostelgeschichte 1,8: „Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist; und ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“
Wie soll so etwas möglich sein, wenn der Vers im Grundtext noch nicht einmal aus 25 verschiedenen Wörtern besteht?
- Was hat das Wissen von den Zeiten und Zeitpunkten mit dem Zeugen zu tun („aber, jedoch, sondern, …“)?
- Wer ist mit „ihr“ gemeint?
- Sind mit „ihr“ nur die damals Anwesenden gemeint?
- Kann man das „ihr“ auch auf die heutige Zeit anwenden?
- Ist mit „ihr“ jede einzelne Person gemeint?
- Ist mit „ihr“ die Gemeinde als Ganzes gemeint?
- Wie ist der Ablauf des Empfangens?
- Woran erkennt man, dass oder ob man die Kraft empfangen hat?
- Welche Kraft ist gemeint?
- Wie äußert sich diese Kraft?
- Ist diese Kraft physisch, psychisch, geistlich, …?
- Ist diese Kraft immer gleich oder individuell groß?
- Wie nutzt man diese Kraft?
- Ist man eigener Herr über diese Kraft und kann darüber verfügen, wie man möchte?
- Kann man diese Kraft – wenn man sie bekommen hat – missbrauchen?
- Kann man diese Kraft – wenn man sie bekommen hat – wieder verlieren?
- Wie viel Zeit liegt zwischen dem Kommen des Heiligen Geistes und dem Kommen der Kraft (Schlachter 2000: „ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist“)?
- Welche Menschen hatten noch nicht den Heiligen Geist?
- Welche Menschen hatten damals schon den Heiligen Geist?
- Ist die Kraft abhängig vom Heiligen Geist?
- Ist der Heilige Geist abhängig von der empfangenen Kraft?
- Bringt der Heilige Geist die Kraft?
- Ist der Heilige Geist die Kraft?
- Unter welchen Bedingungen kommt der Heilige Geist („WENN der Heilige Geist…“)?
- Kann man sich gegen das Kommen der Kraft wehren, aber den Heiligen Geistes empfangen?
- Kann man sich gegen das Kommen des Heiligen Geistes wehren, aber die Kraft empfangen?
- Von wo kommt der Heilige Geist („auf euch kommt“)?
- Inwiefern kommt der Heilige Geist „auf“ uns?
- Können auch andere Geister auf Menschen kommen?
- Warum soll der Heilige Geist überhaupt kommen?
- Wie äußert sich das Zeugen?
- Werden wir bedingungslos Zeugen sein?
- Kann man sich gegen das Zeugen wehren?
- Für wen müssen wir zeugen?
- Wann müssen wir Zeugen sein?
- Wessen Zeugen werden wir sein?
- Ist mit „meine Zeugen“ gemeint, dass wir sein Eigentum sind?
- Ist mit „meine Zeugen“ gemeint, dass wir von ihm zeugen?
- Was hat derjenige davon, wenn man von ihm zeugt (Menge-Bibel: „ihr werden Zeugen FÜR MICH sein…“)
- Wo müssen wir Zeugen sein?
- Sind wir zwingend überall Zeugen („sowohl…“)?
- Ist die Reihenfolge, wo man ein Zeuge ist, relevant?
- Wo liegt Jerusalem?
- Ist Jerusalem symbolisch gemeint?
- Wenn ja, was bedeutet Jerusalem symbolisch?
- Wo liegt Judäa?
- Ist „ganz Judäa“ symbolisch gemeint?
- Ist mit ganz Judäa gemeint, dass vor jedem Menschen in Judäa gezeugt werden soll?
- Wenn ja, warum nur in „ganz Judäa“, aber nicht in „ganz Jerusalem“, „ganz Samaria“…?
- Wenn ja, was hat Judäa für eine symbolische Bedeutung?
- Wo liegt Samaria?
- Ist Samaria symbolisch gemeint?
- Wenn ja, was hat Samaria symbolisch gesehen für eine Bedeutung?
- Ist mit „bis ans Ende der Erde“ der Zeitraum gemeint, in welchem wir zeugen werden?
- Wenn ja, soll nur in Jerusalem, Judäa und Samaria gezeugt werden?
- Bedeutet „das Ende der Erde“ ein bestimmter Ort?
- Ist diese gesamte Aussage ein Auftrag bzw. Befehl („!“)?
Zugegeben, viele dieser Fragen haben wenig Tiefgang. Doch zu meiner Verteidigung sollte ich erwähnen, dass es wahrscheinlich mein erstes Mal war, dass ich mich im Alter von 19 Jahren so ausführlich mit einem Bibeltext befasst habe. Und es war sehr motivierend, sogar mehr als 50 Fragen zum Text stellen zu können. Ganz nach dem Motto:
Wer nicht fragt, wird’s nicht erfahren. Man sollte nie mit Fragen sparen! – Erhard Horst Bellermann (*1937), deutscher Bauingenieur, Dichter und Aphoristiker
Gibt es dumme Fragen?
In letzter Zeit begegnen mir in den sozialen Medien immer wieder Memes mit gleichem Ablauf aber austauschbaren Fragen:
Professor: „Es gibt keine dummen Fragen!“
Student: „Denken Sie, dass Zwillinge sich ab und zu verwechseln und dann nicht mehr wissen, wer wer ist?“
Professor: „Ok, wow…“
Das wirft die Frage auf, ob es auch bei dieser Methode im Bibelstudium dumme Fragen gibt. Wer ehrlich danach bestrebt ist, den Text zu verstehen, wird meiner Meinung nach höchstens triviale, vielleicht provokative, aber niemals dumme Fragen stellen. Vor allem Fragen der Implikation können provokativ sein.
Beispiel: Wenn die Größe von Gottes Gnade durch die Größe der vergebenen Sünde deutlich wird, sollten wir dann nicht umso mehr sündigen, damit die Gnade noch größer wird?
Aber Apostel Paulus selbst arbeitet, hier beispielsweise in Römer 6,1, mit solchen Fragen. Und solange man nicht bedingungslos an der Implikation festhält, sondern sie anhand des Wortes Gottes prüft, sind auch solche Fragen legitim.
Stelle also viele Fragen!
Fragen richtig ordnen
Mit folgenden Schritten kann Ordnung in das Chaos von Fragen gebracht werden:
- Erst einmal sollten die Fragen in die richtige Reihenfolge, dem Text entsprechend, gebracht werden (wie oben).
- Dann ist es hilfreich, daraus eine Gliederung zu erstellen.
- Zum Schluss sollten Zusammenfassungen von Fragen zu einem Wort, z.B. „Kraft“, „Heiliger Geist“, oder einer Wortgruppe, z.B. „Jerusalem, Judäa, Samaria“, gebildet werden.
Die Bearbeitung und Erweiterung der Fragen ist natürlich zu jedem Zeitpunkt erlaubt und erwünscht.
Fortsetzung des Beispiels
- Kontext
- Was hat das Wissen von den Zeiten und Zeitpunkten mit dem Zeugen zu tun („aber, jedoch, sondern, …“)?
- Wer ist der Verfasser des Buches?
- Wer wird hier zitiert?
- Ihr
- Wer ist mit „ihr“ gemeint?
- nur damals Anwesende
- jede einzelne Person
- Gemeinde als Ganzes
- Anwendung?
- Wer ist mit „ihr“ gemeint?
- empfangen
- Wie ist der Ablauf des Empfangens?
- Woran erkennt man, dass oder ob man die Kraft empfangen hat?
- Kraft
- Welche Kraft ist gemeint und wie äußert sie sich?
- physisch
- psychisch
- geistlich
- Ist diese Kraft immer gleich oder individuell groß?
- Wie nutzt man diese Kraft?
- Ist man eigener Herr über diese Kraft und kann darüber verfügen, wie man möchte?
- missbrauchen
- verlieren
- Welche Kraft ist gemeint und wie äußert sie sich?
- Heiliger Geist
- Wie viel Zeit liegt zwischen dem Kommen des Heiligen Geistes und dem Kommen der Kraft (Schlachter 2000: „ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist“)?
- Wovon war das Haben des Heiligen Geistes abhängig?
- Welche Abhängigkeiten bestehen zwischen dem Heiligen Geist und der Kraft?
- Von wo kommt der Heilige Geist („auf euch kommt“)?
- Inwiefern kommt der Heilige Geist „auf“ uns?
- Können auch andere Geister auf Menschen kommen?
- Warum soll der Heilige Geist überhaupt kommen?
- Zeugen
- Wie und wann und wo äußert sich das Zeugen?
- Werden wir bedingungslos Zeugen sein oder kann man sich dagegen wehren?
- Ist mit „meine Zeugen“ gemeint, dass wir sein Eigentum sind oder dass wir von ihm zeugen?
- Was hat derjenige davon, wenn man von ihm zeugt (Menge-Bibel: „ihr werden Zeugen FÜR MICH sein…“)
- Ist die Reihenfolge, wo man ein Zeuge ist, relevant?
- Jerusalem, Judäa, Samaria, das Ende der Erde
- Wo liegt die genannten Orte (Jerusalem, Judäa und Samaria)?
- Inwiefern haben diese Orte eine symbolische Bedeutung?
- Ist mit „bis ans Ende der Erde“ der Zeitraum gemeint, in welchem wir zeugen werden?
- Bedeutet „das Ende der Erde“ ein bestimmter Ort?
- Ist diese gesamte Aussage ein Auftrag bzw. Befehl („!“)?
Beantwortung der Fragen
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
Ein Weiser kann von einer dummen Frage mehr lernen, als ein Dummer von einer weisen Antwort.
Doch uns reichen die Fragen natürlich nicht aus, sondern sie sind – wie der Untertitel dieses Artikels schon aussagt – nur der Ausgangspunkt für das Bibelstudium. Und auch bei der Beantwortung gibt es einige Tipps. Da wahrscheinlich jeder Ausleger das Problem der knappen Zeit kennt, sollten die Fragen priorisiert werden. Dabei haben die Fragen Vorrang, deren Beantwortung wahrscheinlich am meisten zur Erarbeitung der Hauptaussage beitragen wird. Nicht jede Frage ist hilfreich und muss beantwortet werden.
Warum sollte ich Fragen stellen?
An dieser Stelle könnte man folgenden Einwand vorbringen: Warum sollte ich überhaupt Fragen stellen? Kann ich nicht einfach den Text auslegen?
Dabei wird aber vergessen, dass Auslegung an sich schon das Ziel hat, die Frage nach der Bedeutung des Textes zu beantworten. Diese spezifischen Fragen brechen die Auslegung als Ganzes bloß in kleine Teilstücke, die nach und nach beantwortet werden können. Und durch die große Menge der Fragen erhöht man die Wahrscheinlichkeit, nichts zu vergessen.
Mir ist es schon öfter passiert, dass ich in der Vorbereitung auf eine Bibelarbeit nicht genug Fragen an den Text gestellt habe und dann während der Bibelarbeit in der Gruppe Fragen aufkamen, die ich nur durch eine bessere Vorbereitung hätte beantworten können.
Die erarbeiteten Fragen können auch als Gliederung für eine Predigt dienen oder in die Ausarbeitung eingearbeitet werden. Apostel Paulus fängt im Römerbrief häufig neue Abschnitte mit Fragen an (Römer 2,17–21.26–27; 3,1.27; 4,1; 6,1.15; 7,1.7; 8,31; 9,14.19.30; 10,14.16; 11,1.11; 14,22).
Die Zielgruppe der Fragen
Diese Methode ist vor allem für den Laien gedacht und bietet eine große Hilfe für die Anfänge der Auslegung. Geübte Ausleger stellen zwar immer noch Fragen, aber weniger exzessiv, dafür aber umso gewählter. Übung macht den Meister und durch das Wiederholen dieser Methode können die Fragen gezielter werden. Somit werden die Fragen – im wahrsten Sinne des Wortes – immer fragwürdiger.
Dr. Cleon Rogers, der uns diese Hausaufgabe aufgab, überraschte uns in seinem Unterricht einmal mit der Äußerung, dass er in seinem Bibelstudium auch die Kommentare liberaler Theologen nachschlagen würde. Doch dabei ginge es ihm nicht um die bibelkritischen Antworten, sondern lediglich um die aufgeworfenen Fragen, die er durch das Studium des Textes beantworten wollte.
Tipps zum Fragen
Einzelne Wörter nehmen und ihre Bedeutung in diesem Kontext hinterfragen. Besonders wichtig:
- Verben
- Konjunktionen
- Schlüsselwörter
- Wiederholungen
Im Folgenden einige Beispiele von W‑Fragen, die umformuliert und auf den jeweiligen Text angewandt werden können.
- Wer…
- …ist der Handelnde?
- …kommt vor?
- Was…
- …bedeutet das Wort?
- …macht diese Phrase bedeutend?
- …impliziert diese Aussage?
- …verbindet die einzelnen Satzteile?
- Warum…
- …wurde dieses Wort gewählt?
- …fordert der Text dazu auf?
- …steht diese Stelle in diesem Kontext?
- …wurde nicht ______gesagt?
- Wie…
- …funktioniert das?
- …wird der Gedanke entfaltet?
- …wird der Gedanke im weiteren Verlauf fortgesetzt?
Haben Sie schon einmal die Funktion induktives Bibellesen in Logos verwendet? Dort werden Sie mit Fragen an einen Text und seine Bedeutung herangeführt.
Liberale Theologen? Wenn man solchen Quellen Vertrauen schenkt, macht das Bibelstudium gar keinen Sinn mehr. – Denk es mal zu Ende.
Mir hilft der Assistent des induktiven Bibellesen sehr, das Gelernte aus der Bibelschule aufrecht zu erhalten und somit zur Gewohnheit werden zu lassen.
Hallo Branko,
danke für deinen Kommentar! Genau so habe ich anfangs auch reagiert. Aus diesem Grund habe ich auch zu erklären versucht, dass es meinem Lehrer dabei nicht um die Lehre der liberalen Theologen ging. Wichtig waren ihm lediglich die gestellten Fragen, nicht die gegebenen Antworten.
Der Assistent des induktiven Bibelstudiums gefällt mir auch gut. Diesen Artikel würde ich in den Bereich der Beobachtung eingliedern, die Antworten darauf dann in den Bereich Interpretation oder Anwendung. Im Buch „Bibelauslegung praktisch – In zehn Schritten den Text verstehen“ von Dr. Helge Stadelmann wird im ersten Schritt eine ähnliche Aufgabe gestellt, die mit „Stolpersteine markieren“ bezeichnet wird.
Liebe Grüße
Julian
Hallo Julian,
ein klasse Beitrag, den ich eins zu eins unterschreiben kann. Ich selber arbeite in meinem Bibelstudium viel mit Fragen und möchte mir die nicht missen.
Im Vergleich zu früher merke ich, dass die Fragen deutlich komplexer und tiefgehender geworden sind, was mir die wunderbare Möglichkeit gibt, nicht nur an der Oberfläche des Textes zu kratzen.
Gruß
Henry
Danke für die Antwort lieber Julian.
So ist es natürlich was anderes und dementsprechend auch nützlich. Auch danke für den Buchhinweis.
Liebe Grüsse
Branko