Der christliche Glaube ist schon immer untrennbar mit der Kirche verbunden. Die Kirchenväter, wie Cyprian von Karthago fanden dafür sogar recht drastische Worte: „Extra ecclesiam salus non est“ (Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil). Ähnlich auch Johannes Calvin: „Wer also Gott zum Vater hat, der muss auch die Kirche zur Mutter haben“. Immer gehören Glaube und Kirche untrennbar zusammen.
Heutzutage mag diese enge Verbindung bestenfalls fremd, rigoros dogmatisch oder gar nach berechnender Machtpolitik aussehen. Aber ist das so?
Wenn wir das Verhältnis zwischen Glaube und Kirche untersuchen wollen, dann müssen wir zunächst klären, was denn die Kirche ist. Ist sie eine Institution? (Wenn ja, welche?) Worauf basiert sie und was konstituiert sie? Was definiert und bestimmt sie?
Diese Frage gewinnt besonders an Relevanz, weil Religion in unserer Gesellschaft so plural ist, wie seit der Antike nicht mehr. Der religiöse Markt ist unüberschaubar. Alle Optionen stehen offen, aber damit haben wir als Gesellschaft auch keine gemeinsame Vorstellung mehr davon, was denn Kirche ist. Vorauszusetzen, dass es eine Definition von Kirche gäbe, die jeder anerkennen würde, wäre also fahrlässig.
Warum dann überhaupt die Anstrengung wagen? Lohnt es sich Kirche zu definieren? Ich glaube: Ja, es lohnt sich. Denn erst, wenn ich weiß, WAS etwas ist und sein soll, kann ich beginnen zu gestalten. Andernfalls ist jede Anstrengung, Gemeindebau zu betreiben, planloser Aktionismus. Wenn ich eine Uhr bauen will, muss ich wissen, was eine Uhr ist. Danach kann ich mich den Details zuwenden: Was tut sie und welche Formen kann ich ihr geben?
Genau in diesem Dreischritt möchte ich im Folgenden die Fragen des Gemeindebaus betrachten:
- Was Kirche ist (Wesen)
- Was Kirche tut (Aufgaben)
- Wie Kirche sein kann (Form)
Die Aufgaben und die Form der Kirche werde ich schwerpunktmäßig vom Standpunkt der Gemeindegründung beleuchten. Gerade in einer Gemeindegründungssituation ist die umfassende Beschäftigung mit den grundlegenden Fragen wichtig. Hier werden – bewusst oder unbewusst – Weichen für die nächsten Jahrzehnte der noch jungen Gemeinde gestellt.
Von ihm aus gestaltet der ganze Leib sein Wachstum, sodass er sich selbst aufbaut in der Liebe. (Eph 4,16a)
Inhalt
Was Kirche ist
Vor allem anderen ist die Kirche ein Geschöpf. Was heißt das? Sie erschafft sich nicht selbst. Sie wird erschaffen – und zwar vom Wortes Gottes: Jesus Christus (creatura verbi). Ein starker biblischer Anhaltspunkt dafür ist Mt. 16,18: “Ich will meine Gemeinde bauen”. Aber die Kirche ist auch ein Geschöpf der Heiligen Schrift, die von Christus zeugt: “Als sie aber das [=Wort Gottes] hörten, ging’s ihnen durchs Herz… Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.” (Apg 2,37+47)
Manchmal wird so getan, als ob man das fleischgewordene Wort Gottes und das Schriftwort Gottes trennen könnte. Aber gerade das Neue Testament zeigt: Beides kann man nicht auseinanderdividieren. Warum fangen wir mit dem Wort Gottes an? Die Frage nach der Schrift und was die Schrift ist, ist grundlegend für das resultierende Verständnis von Kirche. Ohne diesen Ansatzpunkt bleibt die Kirche nichts weiter als ein soziologisches Gebilde – ein simpler Verein. Von Gott her – vermittelt durch sein Wort – wird sie zu einer übernatürlichen Gemeinschaft.
Was ist also dieses Wort? Es ist dasselbe Wort, das das Universum ins Dasein rief (Gen 1). Und dieses Wort wird greifbar in Jesus Christus – dem Wort Gottes. Sein Wesen und seine Taten (=Evangelium) gründen das, was wir die christliche Kirche nennen. Also muss die Kirche im Evangelium wurzeln und daraus ihren Dienst entwickeln. Die Grundlegung in der Lehre vom Wort Gottes ist übrigens ganz klassisch, wir finden sie aber auch in den großen neuzeitlichen Dogmatiken z.B. von Karl Barth, John Frame oder Thomas Oden.
Wenn der Urheber und Erhalter Christus durch sein Wort ist, dann ist auch klar, wem die Kirche gehört: Sie ist κυριακή ἐκκλησία (Versammlung des HERRN). So nennt sie auch das Neue Testament häufig. Das deutsche Wort “Kirche” leitet sich sogar sprachgeschichtlich aus dem griechischen “kyriakos” (dem HERRN gehörend) ab.
Auch in den Bekenntnissen der Reformation finden wir dieses Verständnis von Kirche: Die Kirche ist „die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß des Evangeliums gereicht werden“ (Confessio Augustana /Augsburger Bekenntnis). Hier verbindet sich die Gemeinschaft der Gläubigen in Wort und Sakrament mit Christus. Auch der Heidelberger Katechismus bekräftigt, dass die Kirche kein rein menschliches Gebilde ist, sondern eine gottgewirkte Gemeinschaft der Gläubigen aller Zeiten, die von Jesus Christus versammelt, geschützt und erhalten wird.
Das Evangelium ist also nicht nur die Wurzel der Kirche: Es ist der Lebenssaft für alle Dienste und Wirkungen der Kirche. Genauso wie das Evangelium für den einzelnen Gläubigen „nicht nur das Abc, sondern das ‚A bis Z‘ des christlichen Lebens“ ist, so durchdringt das Evangelium alle Aspekte der Gemeinschaft der Gläubigen.
Wenn Kirche also ein Geschöpf des Wortes ist, dann müssen wir im Blick auf Gemeindegründung folgendes neu bedenken: Nicht (nur) die Idee der Gemeinschaft „zweier oder dreier“ Christen ist für eine
Gemeindegründung grundlegend. Schon gar nicht, wenn diese Gruppe sich im Streit aus einer anderen Gemeinde herauslöst. Diese Idee von Kirche macht sie von Beginn an zum Menschenwerk. Selbstverständlich besteht die Kirche letztendlich aus der Gemeinschaft der Gläubigen. Das Kollektiv allein kann sie aber nicht begründen, sondern nur Christus.
Es kann daher keine eigenmächtige Gemeindegründung geben. Vielmehr sendet die Kirche – in Form ihrer Leitung (die das Amt der Wortverkündigung innehaben) – Gemeindegründer aus. Eine solche Herangehensweise betont die Verbindung der Kirche untereinander, durch die Zeiten und mit Christus.
Wenn wir das alles also festhalten, können wir nur zurückhaltend von Gemeindebau als unserem Handlungsfeld als Menschen sprechen. Der Ursprung der Kirche liegt im Wort Gottes und der Gottessohn selbst füllt alle wichtigen Rollen des Baus aus: Bauherr, Gründer, Erhalter, Eckstein…
Trotzdem beauftragt Christus seine Gemeinde und auch Sie und mich durch die Kraft des Heiligen Geistes am Aufbau der Gemeinde (οἰκοδομὴ τῆς ἐκκλησίας – 1Kor 14,12) mitzuarbeiten.
Was Kirche tut
Das Evangelium ist auch die Quelle für das, was die Kirche tut und tun soll. Sie zeigt sich nicht in einem Gebäude, sondern in ihren Aufgaben. Wenn wir uns die Aufgaben der Kirche anschauen, dann ist eine der klassischen Differenzierungen im Kirchenbegriff hilfreich: man unterscheidet die noch hier auf der Erde im Kampf des Lebens stehende Kirche (ecclesia militans) von der schon triumphierenden Kirche im Himmel (ecclesia triumphans). Die ecclesia militans soll in dieser Welt vor allem dienen (vgl. Rö 12,11;14,18f; 1Kor 10,24.33; Phil 2,4; 1Pe 4,10f). Die Aufgaben der ecclesia triumphans dagegen haben vor allem Herrschaftscharakter (vgl. 2Tim 2,12; Offb 5,10; Lk 19,11ff). Die beiden Formen werden von der Bibel auch immer ins Verhältnis gesetzt: zuerst das Leiden und der Dienst, dann die Herrlichkeit und die Herrschaft. Für den Gemeindebau kommen demzufolge nur die Aufgaben der ecclesia militans infrage, da die ecclesia triumphans bereits vollkommen ist.
Es ist also der Dienst der Gemeinde, der ihre Gestalt in dieser Welt bestimmen soll. Alle praktischen und strukturellen Maßnahmen des Gemeindebaus finden ihre Einordnung im Dienst der Kirche. In der Entfaltung, was der Dienst der irdischen Gemeinde ist, folge ich einer dreigliedrigen Struktur anhand des Objektes ihres Dienstes:
- Der vertikale Aspekt: Dienst für Gott
- Der horizontale Aspekt: Dienst an der Welt
- Der reflexive Aspekt: Dienst an sich selbst
Vertikal: Dienst für Gott
Damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben. (Eph 1,12)
Als Geschöpf Gottes ist die Kirche, wie jedes andere Geschöpf, „zu ihm hin“ (Rö 11,36) geschaffen. Als Teil des zukünftigen Reiches Gottes, das in Christus schon jetzt angebrochen ist, soll sie in besonderer Weise Gott verehren und anbeten. Dies ist ihr höchstes Ziel und alle anderen Aspekte sind darauf ausgerichtet.
Damit ist der vertikale Dienst der Kirche im Einklang mit dem höchsten Ziel in der Existenz des Menschen: Der Verherrlichung Gottes und der Freude an ihm (Westminster Bekenntnis). Die Kirche bietet somit auch den optimalen Ort für die schöpfungsgemäße Entfaltung jedes Einzelnen.
Der gemeinsame Gottesdienst ist das Zentrum in der gemeinschaftlichen Anbetung Gottes. Die Gemeinde sammelt sich im Namen des dreieinigen Gottes, um ihn zu loben und zu ehren. Das tut sie ausdrücklich in Elementen wie Predigt, Gesang oder Gebet aber auch implizit im evangeliumsgemäßen Dienst aneinander. Die Anbetung Gottes ist sowohl das zentrale Identitätsmoment der Gemeinde als auch der entscheidende Verbindungspunkt als Kollektiv. Ohne vertikalen Dienstaspekt verliert die Kirche ihr Wesen und wird zu einem beliebigen sozialen Konstrukt. Die Ehre Gottes muss für alle Dienstaspekte der Gemeinde leitend wirken, genauso wie sie das auch für den einzelnen Gläubigen werden soll.
Horizontal: Dienst an der Welt
Ihr seid das Licht der Welt. (Mt 5,14)
Zentral für das Wesen der Kirche ist ihre Sendung. Der auferstandene Christus sendet uns „bis an die Enden der Erde“. Vor diesem Hintergrund muss sich der Dienst der Gemeinde in jedem Fall in die Welt um sie herum erstrecken und kann sich nicht klösterlich abkapseln. Die horizontale Perspektive erschöpft sich dabei nicht nur im Missionsgedanken im engeren Sinne (Verkündigung des Evangeliums), sondern muss auch in der Praxis dem Wesen ihres HERRN entsprechen. Das können wir den „Dienst der Barmherzigkeit“ nennen. Dieser sozial-diakonische Aspekt wirkt zwar unterstützend und bekräftigend für die Evangeliumsverkündigung, aber er ist nicht nur Mittel zum Zweck der Evangelisation. Dienst am Menschen soll stattfinden, weil der Mensch Geschöpf Gottes ist. Hier ist wieder Gottes Handeln die Richtschnur: Er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte – einfach, weil sie seine Geschöpfe sind.
Die Mission der Kirche hängt an ihrer Präsenz in geografischen Gebieten, Kulturkreisen und Milieus. Dort wo die Kirche (auch und gerade physisch) präsent ist, kann sie die horizontale Dimension ihres Dienstes am besten ausführen. Sie ist das Werkzeug des Segens Gottes für diese Welt. Ziel jeder evangelistischen – und im Zusammenhang damit auch jeder sozial-diakonischen – Bemühung muss es also sein, Kirche in dem Umfeld zu sein, dem man dienen möchte. Diese Ausrichtung muss ein bestimmender Faktor des Gemeindeaufbaus sein.
Wie kann Kirche also sowohl in neue Milieus und geographische Gebiete vorstoßen als auch ihre horizontale Aufgabe in bereits kirchlich geprägten Gebieten am besten ausführen? C. Peter Wagner fasst es prägnant zusammen: „Die für sich genommen effektivste Evangelisationsmethode, die es gibt, ist die Gründung neuer Gemeinden.“ Dieser Grundsatz gelte durchaus kulturübergreifend, sowohl auf „altem“ wie auf „neuem“ Grund. Hier halte ich jedoch einen Gegenpol zur rein pragmatisch-ökonomischen Sicht auf Gemeindegründung („Effizienz der Evangelisation“) für angebracht: Kirche sollte durch eine sendende Gemeinde (also nicht aus Initiative einer losgelösten oder gar unzufriedenen Gruppe) und in größtmöglicher Kooperation und Einigkeit mit bereits lokal existierenden Gemeinden gegründet werden. Andernfalls steht die Glaubwürdigkeit ihres Wesens, vor allem bezüglich ihrer Einigkeit (Katholizität), auf dem Spiel.
Dieser balancierte Ansatz der Gemeindegründung ist weder neu noch ohne biblisches Vorbild. Sowohl Wagner als auch Darrin Patrick sehen in gemeindegründenden Gemeinden eine Fortsetzung des Musters aus der Apostelgeschichte.
Reflexiv: Dienst an sich selbst
Lasst uns aufeinander achthaben und einander anspornen zur Liebe und zu guten Werken. (Heb 10,24)
Nicht zuletzt wendet sich der Dienst der Kirche auch sich selbst zu. Auch wenn sich die Kirche bewusst ist, dass ihr Ursprung in Gott liegt und sie völlig abhängig von Christus ist, muss sie sich dennoch mit aller Kraft ihrer eigenen Auferbauung widmen. Hier ist das Muster des Neuen Testaments eindeutig: Die Entfaltung und Auferbauung des Einzelnen geschieht im wechselseitigen Miteinander. Isolation ist keine Option für den christlichen Glauben. Der überaus häufige Gebrauch des Wortes ἀλλήλων (einander) in den neutestamentlichen Briefen im Bezug auf das christliche Leben macht diesen Punkt besonders deutlich. Die Identität als Christ wird von der Bibel nie losgelöst von der Gemeinde als private Sache betrachtet. Der reflexive Dienst der Gemeinde ist sozusagen der Überlebensmechanismus jedes einzelnen Christen und auch das optimale Umfeld für sein Wachstum. Deshalb kann Calvin auch von der mütterlichen Fürsorge der Kirche sprechen, die Schutz, Nahrung und Reifeprozess bereitstellt.
Wie Kirche sein kann
Kirche und Kultur: Kontextualisierung
Die Kirche existiert nicht im luftleeren Raum. Sie hat – genau wie ihre einzelnen Mitglieder – einen Kontext. Dieser setzt sich (unter anderem) aus kulturellen, geografischen und sprachlichen Aspekten zusammen. Wenn Kirche nun ihrem Wesen gemäß in einem konkreten Kontext dienen will, müssen ihre Aufgaben in angemessener Weise „auf die Straße gebracht“ werden. Die Kontextualisierung stellt also die Frage nach dem „Wie?“. Die Ausrichtung an der Zielkultur bedeutet jedoch keine kritiklose Anpassung. Wenn die Kirche ihren Auftrag zur Kontextualisierung ernst nimmt, wird sie – wie die neutestamentliche Kirche – Widerspruch und Zuwendung erleben.
Nach Tim Keller erzeugt die Konfrontation der Umwelt mit A‑Beliefs (gesellschaftlich anerkannte Ansichten) Zustimmung, und B‑Beliefs (gesellschaftskonträre Ansichten) Konflikt. Das Evangelium enthält aber immer beide Aspekte. Gute Kontextualisierung versucht dabei den Einstieg bei den A‑Beliefs zu schaffen und darüber auch die Plausibilität der B‑Beliefs zu vermitteln. Wirksam kann Kirche also nur als Kontrastgesellschaft nach dem Motto aus dem Johannesevangelium „in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“ sein. Weder Isolation, noch kritiklose Anpassung können in die Gesellschaft hinein wirken. Das Evangelium muss einerseits verstanden werden, es muss aber auch sein normativ-konfrontatives Wesen behalten, um Veränderung möglich zu machen.
Kulturelle und sprachliche Aspekte können die Kommunikation des Evangeliums behindern oder unmöglich machen. Genauso kann auch die Art und Weise des Gemeindeaufbaus dem eigentlichen Dienst der Kirche entgegenwirken, wenn er den Kontext missachtet. Die Kirche muss wissen, wo sie sich befindet und welche Leute sie erreichen will. Demographische und Milieustudien können hier bei der (Neu)ausrichtung nützlich sein. Besonders für die Vorbereitung einer Gemeindegründung ist es notwendig den Kontext zu erforschen. Ihre Zielsetzung sollte es ja sein, Kirche in einem neuen Kontext zu sein. Die Gründungssituation bietet auch die größtmögliche Freiheit die Kontextualisierung der Kirche so zu gestalten, dass sie ihr Umfeld erreicht.
Kirche als Kollektiv
Christlicher Glaube ist in seinem Kern gemeinschaftlich. Und die Kirche ist der Ausdruck davon: Sie ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Dies geht jedoch weit über die bloße Zugehörigkeit hinaus. Die Kirche wird auch von allen ihren Mitgliedern erbaut. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen weist jedem Christen einen aktiven Part in der Gemeinde zu. Während ein Ziel der Gemeinde – die Förderung der Frucht des Geistes – für alle Christen gleich ist, so gibt es in der Begabung und in den Aufgaben des Einzelnen keine Uniformität. Denn die Gemeinde ist nicht nur die Gemeinschaft der Heiligen, sondern vor allem auch eine Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Dieser Geist ist es, der den individuellen Gläubigen Charismen (Gnadengaben) zuteilt. Die christliche Weltanschauung betrachtet alles – physisch oder nicht – als Gabe Gottes und erfordert also eine Haltung des treuhändigen Verwalters zum Wohle der Gemeinschaft. Zudem drückt die Charismenvielfalt die gegenseitige Abhängigkeit und den Dienst aneinander aus. Der Gedanke der Gaben darf jedoch nicht nur auf den Nutzen oder Kompetenz-Aspekt reduziert bleiben. Vielmehr ist jede Person, die der Kirche hinzugefügt wird, bereits eine Gabe für die Gemeinschaft, bevor sie je etwas gegeben oder getan hat. Gemeindeaufbau muss, wenn er den reflexiven Dienst im Sinne von ἀλλήλων ernst nimmt, daher immer auch im umfassenden Sinne gabenorientiert sein.
Kirche als Institution
Die Kirche als Institution weckt unterschiedliche Assoziationen. Einerseits legt manche Meinung und Studie nahe, dass die Menschen Institutionen im allgemeinen und Kirchen im speziellen mehrheitlich misstrauen. Andererseits stellt beispielsweise Herbert Döring in einer soziologischen Analyse der Internationalen Wertestudie 1981 die Institution Kirche als gesellschaftlich stabilisierenden Faktor dar: „Häufiger Kirchgang hängt in der Tat […] mit höherem Vertrauen in alle – nicht etwa nur die kirchennahen – Institutionen zusammen.“
Machtmissbrauch und autoritäre Züge mögen ihren Beitrag zum schlechten Image der Institution Kirche – und Institutionen generell – beigetragen haben. Die Lösung ist jedoch nicht die Abschaffung des institutionellen Wesens der Kirche. Die Strukturen einer Institution ermöglichen Transparenz in Macht- und Entscheidungsfragen erst. Informelle Bewegungen haben auch Machtstrukturen, aber diese sind von außen nicht erkennbar und auch oft von innen nicht geklärt, sodass es hier große Gefahren gibt, dass die Macht unkontrolliert vom Charisma oder Netzwerk oder Vermögen abhängt. Dies gilt vor allem dann, wenn die Anzahl der Mitglieder den familiären Rahmen übersteigt. Welche institutionelle Struktur ist der Kirche also angemessen? Diese Frage kann nicht biblisch-theologisch beantwortet werden, denn die Bibel redet nicht darüber. Die wenigen Hinweise auf die Praxis der ersten Christen in der Apostelgeschichte sind so unterschiedlich, dass es sich aus meiner Sicht bei Strukturfragen vor allem um beschreibende Elemente handelt. Prinzipien wie Transparenz und Gewaltenteilung oder geistliche Leiterprinzipien können dagegen sicher abgeleitet werden. Die konkrete Ausgestaltung ist aber eine Frage der Weisheit und auch kulturell bedingt. Carl F. George legt nahe, dass bei der Frage der Struktur die Gemeindegröße der entscheidende Faktor ist. Fragen nach dem Zusammenspiel von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen sowie Entscheidungs- und Veränderungsprozesse werden abhängig von Kultur und Gemeindegröße verschieden ausgeprägt sein.
Einen Ansatz bietet hier u.a. McIntosh mit seiner Typologie von Gemeindegrößen, die er mit unterschiedlichen Strukturmodellen aus seiner Beobachtung zusammenbringt. Die Frage der Leitung der Gemeinde wird jedoch auch von einer theologischen Fragestellung abzuleiten sein, nämlich vom Amtsverständnis. Abgesehen von einem strikt kongregationalistischen Modell (wie z.B. in klassischen Brüdergemeinden), kennen alle anderen Modelle mindestens ein Leitungsamt, wie auch immer es benannt wird (oder ob es überhaupt als “Amt” bezeichnet wird). Egal ob dies sich nun in einer Bischofskirche, einem Modell mit Synoden (Kirchenparlament) oder einem presbyterialen Modell (Ortsälteste) ausprägt. Biblisch scheinen mir zwei Aspekte für die Ausgestaltung der Leitung grundlegend zu sein:
- Die gesamtverantwortliche Leitung der Gemeinde ist theologisch, nicht organisatorisch geprägt.
- Es handelt sich um eine Pluralität im Leitungsamt (im Sinne der gegenseitigen Ergänzung und von „Checks and Balances“).
Fazit
Gemeindebau muss immer im Einklang mit dem Wesen der Kirche als Geschöpf des Wortes und durch den Baumeister Christus betrieben werden. Sie ist nie reine menschliche Anstrengung, die mit einem guten Handbuch umfänglich bearbeitet werden kann. Den Auftrag des Neuen Testaments zum Gemeindebau in Liebe nimmt die Kirche jedoch auch selbst in die Verantwortung: Wir sind beteiligt für ihren Aufbau und ihre Ausbreitung (durch Gemeindegründung). Wenn wir von dem Wesen der Kirche als Grundlage für unser Handeln ausgehen, dann kann sie eine Form gewinnen, mit der sie ihren Dienst in ihrem Kontext bestmöglich ausführen kann.
Im Sinne einer verantwortlichen Verwaltung der Gaben Gottes müssen wir hier jede Anstrengung und jede hilfreiche Methode und Quelle nutzen. Eine generelle Scheu vor Hilfswissenschaften, wie Demoskopie, Soziologie oder Psychologie ist fehl am Platze. Ganz nach dem reformierten Motto „Alle Wahrheit ist Gottes Wahrheit“ müssen wir alles prüfen und das Gute verwenden.
Vielleicht bleibt die Frage bestehen: Ist Gottes Souveränität oder die menschliche Anstrengung im Gemeindebau entscheidend? Die Antwort auf diese Oder-Frage lautet ganz überraschend: Ja. Beide. Christlicher Gemeindebau kann sich der Spannung zwischen diesen beiden Polen nicht entziehen und sollte es auch nicht.