Selbstauferbauung in Liebe – Gemeindegründung und Gemeindeaufbau

Von Jens Binfet

April 11, 2020

Der christ­li­che Glau­be ist schon immer untrenn­bar mit der Kir­che ver­bun­den. Die Kir­chen­vä­ter, wie Cypri­an von Kar­tha­go fan­den dafür sogar recht dras­ti­sche Wor­te: „Extra eccle­si­am salus non est“ (Außer­halb der Kir­che gibt es kein Heil). Ähn­lich auch Johan­nes Cal­vin: „Wer also Gott zum Vater hat, der muss auch die Kir­che zur Mut­ter haben“. Immer gehö­ren Glau­be und Kir­che untrenn­bar zusammen. 

Heut­zu­ta­ge mag die­se enge Ver­bin­dung bes­ten­falls fremd, rigo­ros dog­ma­tisch oder gar nach berech­nen­der Macht­po­li­tik aus­se­hen. Aber ist das so?

Wenn wir das Ver­hält­nis zwi­schen Glau­be und Kir­che unter­su­chen wol­len, dann müs­sen wir zunächst klä­ren, was denn die Kir­che ist. Ist sie eine Insti­tu­ti­on? (Wenn ja, wel­che?) Wor­auf basiert sie und was kon­sti­tu­iert sie? Was defi­niert und bestimmt sie? 

Die­se Fra­ge gewinnt beson­ders an Rele­vanz, weil Reli­gi­on in unse­rer Gesell­schaft so plu­ral ist, wie seit der Anti­ke nicht mehr. Der reli­giö­se Markt ist unüber­schau­bar. Alle Optio­nen ste­hen offen, aber damit haben wir als Gesell­schaft auch kei­ne gemein­sa­me Vor­stel­lung mehr davon, was denn Kir­che ist. Vor­aus­zu­set­zen, dass es eine Defi­ni­ti­on von Kir­che gäbe, die jeder aner­ken­nen wür­de, wäre also fahrlässig.

War­um dann über­haupt die Anstren­gung wagen? Lohnt es sich Kir­che zu defi­nie­ren? Ich glau­be: Ja, es lohnt sich. Denn erst, wenn ich weiß, WAS etwas ist und sein soll, kann ich begin­nen zu gestal­ten. Andern­falls ist jede Anstren­gung, Gemein­de­bau zu betrei­ben, plan­lo­ser Aktio­nis­mus. Wenn ich eine Uhr bau­en will, muss ich wis­sen, was eine Uhr ist. Danach kann ich mich den Details zuwen­den: Was tut sie und wel­che For­men kann ich ihr geben?

Genau in die­sem Drei­schritt möch­te ich im Fol­gen­den die Fra­gen des Gemein­de­baus betrachten:

  1. Was Kir­che ist (Wesen)
  2. Was Kir­che tut (Auf­ga­ben)
  3. Wie Kir­che sein kann (Form)

Die Auf­ga­ben und die Form der Kir­che wer­de ich schwer­punkt­mä­ßig vom Stand­punkt der Gemein­de­grün­dung beleuch­ten. Gera­de in einer Gemein­de­grün­dungs­si­tua­ti­on ist die umfas­sen­de Beschäf­ti­gung mit den grund­le­gen­den Fra­gen wich­tig. Hier wer­den – bewusst oder unbe­wusst – Wei­chen für die nächs­ten Jahr­zehn­te der noch jun­gen Gemein­de gestellt. 

Von ihm aus gestal­tet der gan­ze Leib sein Wachs­tum, sodass er sich selbst auf­baut in der Lie­be. (Eph 4,16a)

Was Kirche ist

Vor allem ande­ren ist die Kir­che ein Geschöpf. Was heißt das? Sie erschafft sich nicht selbst. Sie wird erschaf­fen – und zwar vom Wor­tes Got­tes: Jesus Chris­tus (crea­tu­ra ver­bi). Ein star­ker bibli­scher Anhalts­punkt dafür ist Mt. 16,18: “Ich will mei­ne Gemein­de bau­en”. Aber die Kir­che ist auch ein Geschöpf der Hei­li­gen Schrift, die von Chris­tus zeugt: “Als sie aber das [=Wort Got­tes] hör­ten, ging’s ihnen durchs Herz… Der Herr aber füg­te täg­lich zur Gemein­de hin­zu, die geret­tet wur­den.” (Apg 2,37+47)

Manch­mal wird so getan, als ob man das fleisch­ge­wor­de­ne Wort Got­tes und das Schrift­wort Got­tes tren­nen könn­te. Aber gera­de das Neue Tes­ta­ment zeigt: Bei­des kann man nicht aus­ein­an­der­di­vi­die­ren. War­um fan­gen wir mit dem Wort Got­tes an? Die Fra­ge nach der Schrift und was die Schrift ist, ist grund­le­gend für das resul­tie­ren­de Ver­ständ­nis von Kir­che. Ohne die­sen Ansatz­punkt bleibt die Kir­che nichts wei­ter als ein sozio­lo­gi­sches Gebil­de – ein simp­ler Ver­ein. Von Gott her – ver­mit­telt durch sein Wort – wird sie zu einer über­na­tür­li­chen Gemeinschaft.

Was ist also die­ses Wort? Es ist das­sel­be Wort, das das Uni­ver­sum ins Dasein rief (Gen 1). Und die­ses Wort wird greif­bar in Jesus Chris­tus – dem Wort Got­tes. Sein Wesen und sei­ne Taten (=Evan­ge­li­um) grün­den das, was wir die christ­li­che Kir­che nen­nen. Also muss die Kir­che im Evan­ge­li­um wur­zeln und dar­aus ihren Dienst ent­wi­ckeln. Die Grund­le­gung in der Leh­re vom Wort Got­tes ist übri­gens ganz klas­sisch, wir fin­den sie aber auch in den gro­ßen neu­zeit­li­chen Dog­ma­ti­ken z.B. von Karl Barth, John Frame oder Tho­mas Oden.

Wenn der Urhe­ber und Erhal­ter Chris­tus durch sein Wort ist, dann ist auch klar, wem die Kir­che gehört: Sie ist κυριακή ἐκκλησία (Ver­samm­lung des HERRN). So nennt sie auch das Neue Tes­ta­ment häu­fig. Das deut­sche Wort “Kir­che” lei­tet sich sogar sprach­ge­schicht­lich aus dem grie­chi­schen “kyria­kos” (dem HERRN gehö­rend) ab. 

Auch in den Bekennt­nis­sen der Refor­ma­ti­on fin­den wir die­ses Ver­ständ­nis von Kir­che: Die Kir­che ist „die Ver­samm­lung aller Gläu­bi­gen, bei denen das Evan­ge­li­um rein gepre­digt und die hei­li­gen Sakra­men­te gemäß des Evan­ge­li­ums gereicht wer­den“ (Con­fes­sio August­a­na /​Augs­bur­ger Bekennt­nis). Hier ver­bin­det sich die Gemein­schaft der Gläu­bi­gen in Wort und Sakra­ment mit Chris­tus. Auch der Hei­del­ber­ger Kate­chis­mus bekräf­tigt, dass die Kir­che kein rein mensch­li­ches Gebil­de ist, son­dern eine gott­ge­wirk­te Gemein­schaft der Gläu­bi­gen aller Zei­ten, die von Jesus Chris­tus ver­sam­melt, geschützt und erhal­ten wird.

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Das Evan­ge­li­um ist also nicht nur die Wur­zel der Kir­che: Es ist der Lebens­saft für alle Diens­te und Wir­kun­gen der Kir­che. Genau­so wie das Evan­ge­li­um für den ein­zel­nen Gläu­bi­gen „nicht nur das Abc, son­dern das ‚A bis Z‘ des christ­li­chen Lebens“ ist, so durch­dringt das Evan­ge­li­um alle Aspek­te der Gemein­schaft der Gläubigen.

Wenn Kir­che also ein Geschöpf des Wor­tes ist, dann müs­sen wir im Blick auf Gemein­de­grün­dung fol­gen­des neu beden­ken: Nicht (nur) die Idee der Gemein­schaft „zwei­er oder drei­er“ Chris­ten ist für eine

Gemein­de­grün­dung grund­le­gend. Schon gar nicht, wenn die­se Grup­pe sich im Streit aus einer ande­ren Gemein­de her­aus­löst. Die­se Idee von Kir­che macht sie von Beginn an zum Men­schen­werk. Selbst­ver­ständ­lich besteht die Kir­che letzt­end­lich aus der Gemein­schaft der Gläu­bi­gen. Das Kol­lek­tiv allein kann sie aber nicht begrün­den, son­dern nur Christus.

Es kann daher kei­ne eigen­mäch­ti­ge Gemein­de­grün­dung geben. Viel­mehr sen­det die Kir­che – in Form ihrer Lei­tung (die das Amt der Wort­ver­kün­di­gung inne­ha­ben) – Gemein­de­grün­der aus. Eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se betont die Ver­bin­dung der Kir­che unter­ein­an­der, durch die Zei­ten und mit Christus. 

Wenn wir das alles also fest­hal­ten, kön­nen wir nur zurück­hal­tend von Gemein­de­bau als unse­rem Hand­lungs­feld als Men­schen spre­chen. Der Ursprung der Kir­che liegt im Wort Got­tes und der Got­tes­sohn selbst füllt alle wich­ti­gen Rol­len des Baus aus: Bau­herr, Grün­der, Erhal­ter, Eckstein… 

Trotz­dem beauf­tragt Chris­tus sei­ne Gemein­de und auch Sie und mich durch die Kraft des Hei­li­gen Geis­tes am Auf­bau der Gemein­de (οἰκοδομὴ τῆς ἐκκλησίας – 1Kor 14,12) mitzuarbeiten.

Was Kirche tut

Das Evan­ge­li­um ist auch die Quel­le für das, was die Kir­che tut und tun soll. Sie zeigt sich nicht in einem Gebäu­de, son­dern in ihren Auf­ga­ben. Wenn wir uns die Auf­ga­ben der Kir­che anschau­en, dann ist eine der klas­si­schen Dif­fe­ren­zie­run­gen im Kir­chen­be­griff hilf­reich: man unter­schei­det die noch hier auf der Erde im Kampf des Lebens ste­hen­de Kir­che (eccle­sia mili­tans) von der schon tri­um­phie­ren­den Kir­che im Him­mel (eccle­sia tri­um­phans). Die eccle­sia mili­tans soll in die­ser Welt vor allem die­nen (vgl. Rö 12,11;14,18f; 1Kor 10,24.33; Phil 2,4; 1Pe 4,10f). Die Auf­ga­ben der eccle­sia tri­um­phans dage­gen haben vor allem Herr­schafts­cha­rak­ter (vgl. 2Tim 2,12; Offb 5,10; Lk 19,11ff). Die bei­den For­men wer­den von der Bibel auch immer ins Ver­hält­nis gesetzt: zuerst das Lei­den und der Dienst, dann die Herr­lich­keit und die Herr­schaft. Für den Gemein­de­bau kom­men dem­zu­fol­ge nur die Auf­ga­ben der eccle­sia mili­tans infra­ge, da die eccle­sia tri­um­phans bereits voll­kom­men ist.

Es ist also der Dienst der Gemein­de, der ihre Gestalt in die­ser Welt bestim­men soll. Alle prak­ti­schen und struk­tu­rel­len Maß­nah­men des Gemein­de­baus fin­den ihre Ein­ord­nung im Dienst der Kir­che. In der Ent­fal­tung, was der Dienst der irdi­schen Gemein­de ist, fol­ge ich einer drei­glied­ri­gen Struk­tur anhand des Objek­tes ihres Dienstes:

  • Der ver­ti­ka­le Aspekt: Dienst für Gott
  • Der hori­zon­ta­le Aspekt: Dienst an der Welt
  • Der refle­xi­ve Aspekt: Dienst an sich selbst

Vertikal: Dienst für Gott

Damit wir zum Lob sei­ner Herr­lich­keit leben. (Eph 1,12)

Als Geschöpf Got­tes ist die Kir­che, wie jedes ande­re Geschöpf, „zu ihm hin“ (Rö 11,36) geschaf­fen. Als Teil des zukünf­ti­gen Rei­ches Got­tes, das in Chris­tus schon jetzt ange­bro­chen ist, soll sie in beson­de­rer Wei­se Gott ver­eh­ren und anbe­ten. Dies ist ihr höchs­tes Ziel und alle ande­ren Aspek­te sind dar­auf ausgerichtet.

Damit ist der ver­ti­ka­le Dienst der Kir­che im Ein­klang mit dem höchs­ten Ziel in der Exis­tenz des Men­schen: Der Ver­herr­li­chung Got­tes und der Freu­de an ihm (West­mins­ter Bekennt­nis). Die Kir­che bie­tet somit auch den opti­ma­len Ort für die schöp­fungs­ge­mä­ße Ent­fal­tung jedes Einzelnen.

Der gemein­sa­me Got­tes­dienst ist das Zen­trum in der gemein­schaft­li­chen Anbe­tung Got­tes. Die Gemein­de sam­melt sich im Namen des drei­ei­ni­gen Got­tes, um ihn zu loben und zu ehren. Das tut sie aus­drück­lich in Ele­men­ten wie Pre­digt, Gesang oder Gebet aber auch impli­zit im evan­ge­li­ums­ge­mä­ßen Dienst anein­an­der. Die Anbe­tung Got­tes ist sowohl das zen­tra­le Iden­ti­täts­mo­ment der Gemein­de als auch der ent­schei­den­de Ver­bin­dungs­punkt als Kol­lek­tiv. Ohne ver­ti­ka­len Diens­taspekt ver­liert die Kir­che ihr Wesen und wird zu einem belie­bi­gen sozia­len Kon­strukt. Die Ehre Got­tes muss für alle Diens­taspek­te der Gemein­de lei­tend wir­ken, genau­so wie sie das auch für den ein­zel­nen Gläu­bi­gen wer­den soll.

Horizontal: Dienst an der Welt

Ihr seid das Licht der Welt. (Mt 5,14)

Zen­tral für das Wesen der Kir­che ist ihre Sen­dung. Der auf­er­stan­de­ne Chris­tus sen­det uns „bis an die Enden der Erde“. Vor die­sem Hin­ter­grund muss sich der Dienst der Gemein­de in jedem Fall in die Welt um sie her­um erstre­cken und kann sich nicht klös­ter­lich abkap­seln. Die hori­zon­ta­le Per­spek­ti­ve erschöpft sich dabei nicht nur im Mis­si­ons­ge­dan­ken im enge­ren Sin­ne (Ver­kün­di­gung des Evan­ge­li­ums), son­dern muss auch in der Pra­xis dem Wesen ihres HERRN ent­spre­chen. Das kön­nen wir den „Dienst der Barm­her­zig­keit“ nen­nen. Die­ser sozi­al-dia­ko­ni­sche Aspekt wirkt zwar unter­stüt­zend und bekräf­ti­gend für die Evan­ge­li­ums­ver­kün­di­gung, aber er ist nicht nur Mit­tel zum Zweck der Evan­ge­li­sa­ti­on. Dienst am Men­schen soll statt­fin­den, weil der Mensch Geschöpf Got­tes ist. Hier ist wie­der Got­tes Han­deln die Richt­schnur: Er lässt reg­nen über Gerech­te und Unge­rech­te – ein­fach, weil sie sei­ne Geschöp­fe sind.

Die Mis­si­on der Kir­che hängt an ihrer Prä­senz in geo­gra­fi­schen Gebie­ten, Kul­tur­krei­sen und Milieus. Dort wo die Kir­che (auch und gera­de phy­sisch) prä­sent ist, kann sie die hori­zon­ta­le Dimen­si­on ihres Diens­tes am bes­ten aus­füh­ren. Sie ist das Werk­zeug des Segens Got­tes für die­se Welt. Ziel jeder evan­ge­lis­ti­schen – und im Zusam­men­hang damit auch jeder sozi­al-dia­ko­ni­schen – Bemü­hung muss es also sein, Kir­che in dem Umfeld zu sein, dem man die­nen möch­te. Die­se Aus­rich­tung muss ein bestim­men­der Fak­tor des Gemein­de­auf­baus sein.

Wie kann Kir­che also sowohl in neue Milieus und geo­gra­phi­sche Gebie­te vor­sto­ßen als auch ihre hori­zon­ta­le Auf­ga­be in bereits kirch­lich gepräg­ten Gebie­ten am bes­ten aus­füh­ren? C. Peter Wag­ner fasst es prä­gnant zusam­men: „Die für sich genom­men effek­tivs­te Evan­ge­li­sa­ti­ons­me­tho­de, die es gibt, ist die Grün­dung neu­er Gemein­den.“ Die­ser Grund­satz gel­te durch­aus kul­tur­über­grei­fend, sowohl auf „altem“ wie auf „neu­em“ Grund. Hier hal­te ich jedoch einen Gegen­pol zur rein prag­ma­tisch-öko­no­mi­schen Sicht auf Gemein­de­grün­dung („Effi­zi­enz der Evan­ge­li­sa­ti­on“) für ange­bracht: Kir­che soll­te durch eine sen­den­de Gemein­de (also nicht aus Initia­ti­ve einer los­ge­lös­ten oder gar unzu­frie­de­nen Grup­pe) und in größt­mög­li­cher Koope­ra­ti­on und Einig­keit mit bereits lokal exis­tie­ren­den Gemein­den gegrün­det wer­den. Andern­falls steht die Glaub­wür­dig­keit ihres Wesens, vor allem bezüg­lich ihrer Einig­keit (Katho­li­zi­tät), auf dem Spiel.

Die­ser balan­cier­te Ansatz der Gemein­de­grün­dung ist weder neu noch ohne bibli­sches Vor­bild. Sowohl Wag­ner als auch Dar­rin Patrick sehen in gemein­de­grün­den­den Gemein­den eine Fort­set­zung des Mus­ters aus der Apostelgeschichte.

Reflexiv: Dienst an sich selbst

Lasst uns auf­ein­an­der acht­ha­ben und ein­an­der anspor­nen zur Lie­be und zu guten Wer­ken. (Heb 10,24)

Nicht zuletzt wen­det sich der Dienst der Kir­che auch sich selbst zu. Auch wenn sich die Kir­che bewusst ist, dass ihr Ursprung in Gott liegt und sie völ­lig abhän­gig von Chris­tus ist, muss sie sich den­noch mit aller Kraft ihrer eige­nen Auf­er­bau­ung wid­men. Hier ist das Mus­ter des Neu­en Tes­ta­ments ein­deu­tig: Die Ent­fal­tung und Auf­er­bau­ung des Ein­zel­nen geschieht im wech­sel­sei­ti­gen Mit­ein­an­der. Iso­la­ti­on ist kei­ne Opti­on für den christ­li­chen Glau­ben. Der über­aus häu­fi­ge Gebrauch des Wor­tes ἀλλήλων (ein­an­der) in den neu­tes­ta­ment­li­chen Brie­fen im Bezug auf das christ­li­che Leben macht die­sen Punkt beson­ders deut­lich. Die Iden­ti­tät als Christ wird von der Bibel nie los­ge­löst von der Gemein­de als pri­va­te Sache betrach­tet. Der refle­xi­ve Dienst der Gemein­de ist sozu­sa­gen der Über­le­bens­me­cha­nis­mus jedes ein­zel­nen Chris­ten und auch das opti­ma­le Umfeld für sein Wachs­tum. Des­halb kann Cal­vin auch von der müt­ter­li­chen Für­sor­ge der Kir­che spre­chen, die Schutz, Nah­rung und Rei­fe­pro­zess bereitstellt.

Wie Kirche sein kann

Kirche und Kultur: Kontextualisierung

Die Kir­che exis­tiert nicht im luft­lee­ren Raum. Sie hat – genau wie ihre ein­zel­nen Mit­glie­der – einen Kon­text. Die­ser setzt sich (unter ande­rem) aus kul­tu­rel­len, geo­gra­fi­schen und sprach­li­chen Aspek­ten zusam­men. Wenn Kir­che nun ihrem Wesen gemäß in einem kon­kre­ten Kon­text die­nen will, müs­sen ihre Auf­ga­ben in ange­mes­se­ner Wei­se „auf die Stra­ße gebracht“ wer­den. Die Kon­tex­tua­li­sie­rung stellt also die Fra­ge nach dem „Wie?“. Die Aus­rich­tung an der Ziel­kul­tur bedeu­tet jedoch kei­ne kri­tik­lo­se Anpas­sung. Wenn die Kir­che ihren Auf­trag zur Kon­tex­tua­li­sie­rung ernst nimmt, wird sie – wie die neu­tes­ta­ment­li­che Kir­che – Wider­spruch und Zuwen­dung erleben.

Nach Tim Kel­ler erzeugt die Kon­fron­ta­ti­on der Umwelt mit A‑Beliefs (gesell­schaft­lich aner­kann­te Ansich­ten) Zustim­mung, und B‑Beliefs (gesell­schafts­kon­trä­re Ansich­ten) Kon­flikt. Das Evan­ge­li­um ent­hält aber immer bei­de Aspek­te. Gute Kon­tex­tua­li­sie­rung ver­sucht dabei den Ein­stieg bei den A‑Beliefs zu schaf­fen und dar­über auch die Plau­si­bi­li­tät der B‑Beliefs zu ver­mit­teln. Wirk­sam kann Kir­che also nur als Kon­trast­ge­sell­schaft nach dem Mot­to aus dem Johan­nes­evan­ge­li­um „in die­ser Welt, aber nicht von die­ser Welt“ sein. Weder Iso­la­ti­on, noch kri­tik­lo­se Anpas­sung kön­nen in die Gesell­schaft hin­ein wir­ken. Das Evan­ge­li­um muss einer­seits ver­stan­den wer­den, es muss aber auch sein nor­ma­tiv-kon­fron­ta­ti­ves Wesen behal­ten, um Ver­än­de­rung mög­lich zu machen.

Kul­tu­rel­le und sprach­li­che Aspek­te kön­nen die Kom­mu­ni­ka­ti­on des Evan­ge­li­ums behin­dern oder unmög­lich machen. Genau­so kann auch die Art und Wei­se des Gemein­de­auf­baus dem eigent­li­chen Dienst der Kir­che ent­ge­gen­wir­ken, wenn er den Kon­text miss­ach­tet. Die Kir­che muss wis­sen, wo sie sich befin­det und wel­che Leu­te sie errei­chen will. Demo­gra­phi­sche und Milieu­stu­di­en kön­nen hier bei der (Neu)ausrichtung nütz­lich sein. Beson­ders für die Vor­be­rei­tung einer Gemein­de­grün­dung ist es not­wen­dig den Kon­text zu erfor­schen. Ihre Ziel­set­zung soll­te es ja sein, Kir­che in einem neu­en Kon­text zu sein. Die Grün­dungs­si­tua­ti­on bie­tet auch die größt­mög­li­che Frei­heit die Kon­tex­tua­li­sie­rung der Kir­che so zu gestal­ten, dass sie ihr Umfeld erreicht.

Kirche als Kollektiv

Christ­li­cher Glau­be ist in sei­nem Kern gemein­schaft­lich. Und die Kir­che ist der Aus­druck davon: Sie ist die Gemein­schaft der Gläu­bi­gen. Dies geht jedoch weit über die blo­ße Zuge­hö­rig­keit hin­aus. Die Kir­che wird auch von allen ihren Mit­glie­dern erbaut. Die Leh­re vom all­ge­mei­nen Pries­ter­tum der Gläu­bi­gen weist jedem Chris­ten einen akti­ven Part in der Gemein­de zu. Wäh­rend ein Ziel der Gemein­de – die För­de­rung der Frucht des Geis­tes – für alle Chris­ten gleich ist, so gibt es in der Bega­bung und in den Auf­ga­ben des Ein­zel­nen kei­ne Uni­for­mi­tät. Denn die Gemein­de ist nicht nur die Gemein­schaft der Hei­li­gen, son­dern vor allem auch eine Gemein­schaft des Hei­li­gen Geis­tes. Die­ser Geist ist es, der den indi­vi­du­el­len Gläu­bi­gen Cha­ris­men (Gna­den­ga­ben) zuteilt. Die christ­li­che Welt­an­schau­ung betrach­tet alles – phy­sisch oder nicht – als Gabe Got­tes und erfor­dert also eine Hal­tung des treu­hän­di­gen Ver­wal­ters zum Woh­le der Gemein­schaft. Zudem drückt die Cha­ris­men­viel­falt die gegen­sei­ti­ge Abhän­gig­keit und den Dienst anein­an­der aus. Der Gedan­ke der Gaben darf jedoch nicht nur auf den Nut­zen oder Kom­pe­tenz-Aspekt redu­ziert blei­ben. Viel­mehr ist jede Per­son, die der Kir­che hin­zu­ge­fügt wird, bereits eine Gabe für die Gemein­schaft, bevor sie je etwas gege­ben oder getan hat. Gemein­de­auf­bau muss, wenn er den refle­xi­ven Dienst im Sin­ne von ἀλλήλων ernst nimmt, daher immer auch im umfas­sen­den Sin­ne gaben­ori­en­tiert sein.

Kirche als Institution

Die Kir­che als Insti­tu­ti­on weckt unter­schied­li­che Asso­zia­tio­nen. Einer­seits legt man­che Mei­nung und Stu­die nahe, dass die Men­schen Insti­tu­tio­nen im all­ge­mei­nen und Kir­chen im spe­zi­el­len mehr­heit­lich miss­trau­en. Ande­rer­seits stellt bei­spiels­wei­se Her­bert Döring in einer sozio­lo­gi­schen Ana­ly­se der Inter­na­tio­na­len Wer­te­stu­die 1981 die Insti­tu­ti­on Kir­che als gesell­schaft­lich sta­bi­li­sie­ren­den Fak­tor dar: „Häu­fi­ger Kirch­gang hängt in der Tat […] mit höhe­rem Ver­trau­en in alle – nicht etwa nur die kir­chen­na­hen – Insti­tu­tio­nen zusammen.“

Macht­miss­brauch und auto­ri­tä­re Züge mögen ihren Bei­trag zum schlech­ten Image der Insti­tu­ti­on Kir­che – und Insti­tu­tio­nen gene­rell – bei­getra­gen haben. Die Lösung ist jedoch nicht die Abschaf­fung des insti­tu­tio­nel­len Wesens der Kir­che. Die Struk­tu­ren einer Insti­tu­ti­on ermög­li­chen Trans­pa­renz in Macht- und Ent­schei­dungs­fra­gen erst. Infor­mel­le Bewe­gun­gen haben auch Macht­struk­tu­ren, aber die­se sind von außen nicht erkenn­bar und auch oft von innen nicht geklärt, sodass es hier gro­ße Gefah­ren gibt, dass die Macht unkon­trol­liert vom Cha­ris­ma oder Netz­werk oder Ver­mö­gen abhängt. Dies gilt vor allem dann, wenn die Anzahl der Mit­glie­der den fami­liä­ren Rah­men über­steigt. Wel­che insti­tu­tio­nel­le Struk­tur ist der Kir­che also ange­mes­sen? Die­se Fra­ge kann nicht biblisch-theo­lo­gisch beant­wor­tet wer­den, denn die Bibel redet nicht dar­über. Die weni­gen Hin­wei­se auf die Pra­xis der ers­ten Chris­ten in der Apos­tel­ge­schich­te sind so unter­schied­lich, dass es sich aus mei­ner Sicht bei Struk­tur­fra­gen vor allem um beschrei­ben­de Ele­men­te han­delt. Prin­zi­pi­en wie Trans­pa­renz und Gewal­ten­tei­lung oder geist­li­che Lei­ter­prin­zi­pi­en kön­nen dage­gen sicher abge­lei­tet wer­den. Die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung ist aber eine Fra­ge der Weis­heit und auch kul­tu­rell bedingt. Carl F. Geor­ge legt nahe, dass bei der Fra­ge der Struk­tur die Gemein­de­grö­ße der ent­schei­den­de Fak­tor ist. Fra­gen nach dem Zusam­men­spiel von Haupt­amt­li­chen und Ehren­amt­li­chen sowie Ent­schei­dungs- und Ver­än­de­rungs­pro­zes­se wer­den abhän­gig von Kul­tur und Gemein­de­grö­ße ver­schie­den aus­ge­prägt sein.

Einen Ansatz bie­tet hier u.a. McIn­tosh mit sei­ner Typo­lo­gie von Gemein­de­grö­ßen, die er mit unter­schied­li­chen Struk­tur­mo­del­len aus sei­ner Beob­ach­tung zusam­men­bringt. Die Fra­ge der Lei­tung der Gemein­de wird jedoch auch von einer theo­lo­gi­schen Fra­ge­stel­lung abzu­lei­ten sein, näm­lich vom Amts­ver­ständ­nis. Abge­se­hen von einem strikt kon­gre­ga­tio­na­lis­ti­schen Modell (wie z.B. in klas­si­schen Brü­der­ge­mein­den), ken­nen alle ande­ren Model­le min­des­tens ein Lei­tungs­amt, wie auch immer es benannt wird (oder ob es über­haupt als “Amt” bezeich­net wird). Egal ob dies sich nun in einer Bischofs­kir­che, einem Modell mit Syn­oden (Kir­chen­par­la­ment) oder einem pres­by­te­ria­len Modell (Orts­äl­tes­te) aus­prägt. Biblisch schei­nen mir zwei Aspek­te für die Aus­ge­stal­tung der Lei­tung grund­le­gend zu sein:

  1. Die gesamt­ver­ant­wort­li­che Lei­tung der Gemein­de ist theo­lo­gisch, nicht orga­ni­sa­to­risch geprägt.
  2. Es han­delt sich um eine Plu­ra­li­tät im Lei­tungs­amt (im Sin­ne der gegen­sei­ti­gen Ergän­zung und von „Checks and Balances“).

Fazit

Gemein­de­bau muss immer im Ein­klang mit dem Wesen der Kir­che als Geschöpf des Wor­tes und durch den Bau­meis­ter Chris­tus betrie­ben wer­den. Sie ist nie rei­ne mensch­li­che Anstren­gung, die mit einem guten Hand­buch umfäng­lich bear­bei­tet wer­den kann. Den Auf­trag des Neu­en Tes­ta­ments zum Gemein­de­bau in Lie­be nimmt die Kir­che jedoch auch selbst in die Ver­ant­wor­tung: Wir sind betei­ligt für ihren Auf­bau und ihre Aus­brei­tung (durch Gemein­de­grün­dung). Wenn wir von dem Wesen der Kir­che als Grund­la­ge für unser Han­deln aus­ge­hen, dann kann sie eine Form gewin­nen, mit der sie ihren Dienst in ihrem Kon­text best­mög­lich aus­füh­ren kann.

Im Sin­ne einer ver­ant­wort­li­chen Ver­wal­tung der Gaben Got­tes müs­sen wir hier jede Anstren­gung und jede hilf­rei­che Metho­de und Quel­le nut­zen. Eine gene­rel­le Scheu vor Hilfs­wis­sen­schaf­ten, wie Demo­sko­pie, Sozio­lo­gie oder Psy­cho­lo­gie ist fehl am Plat­ze. Ganz nach dem refor­mier­ten Mot­to „Alle Wahr­heit ist Got­tes Wahr­heit“ müs­sen wir alles prü­fen und das Gute verwenden.

Viel­leicht bleibt die Fra­ge bestehen: Ist Got­tes Sou­ve­rä­ni­tät oder die mensch­li­che Anstren­gung im Gemein­de­bau ent­schei­dend? Die Ant­wort auf die­se Oder-Fra­ge lau­tet ganz über­ra­schend: Ja. Bei­de. Christ­li­cher Gemein­de­bau kann sich der Span­nung zwi­schen die­sen bei­den Polen nicht ent­zie­hen und soll­te es auch nicht.



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Jens Binfet

Über den Autor

Der Autor Jens Binfet ist Doktorand an der Universität Wien. Er hat ein Anliegen, Theologie für die Kirche und den einzelnen Menschen zugänglich zu machen.

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