Ungerecht? Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg illustriert Gottes skandalöse Güte, die Gerechtigkeit übertrifft und wütend macht. Lesen Sie in 15 Min. welche 6 Aspekte für eine fundierte Auslegung des Gleichnisses unverzichtbar sind.
Inhalt
Die Gleichnisse Jesu
Jesus war ein meisterhafter Geschichtenerzähler. Wann immer er zu den Menschen redete, verwendete er Gleichnisse (Mt 13,34). Geschichten und Gleichnisse berühren das Herz in einer Tiefe, wie abstrakte Ideen es niemals tun können. In den Gleichnissen fasste Jesus die Kernideen seiner Lehre zusammen und vermittelte sie einprägsam seinen Zuhörern. Weiterhin waren die Gleichnisse Jesu so kurz und einfach, dass die Leute sie einfach weitererzählen konnten. So konnte sich die Botschaft Jesu einfach und weitreichend verbreiten.
Die Gleichnisse Jesu sind zutiefst verwurzelt in der damaligen Zeit und Kultur. Moderne Leser verstehen die Aussage der Gleichnisse oft schwer, weil ihnen die Bezugspunkte unklar sind und ihnen die kulturellen Hintergrundinformationen fehlen, die zum Verständnis des Gleichnisses notwendig sind. Gute Bibelkommentare füllen diese Wissenslücken und ermöglichen eine solide, in der Kultur und Zeit Jesu verwurzelte, Auslegung der Gleichnisse Jesu.
Aspekt 1: Aus der Lebensrealität der Leute
Die Gleichnisse Jesu spiegeln das alltägliche Leben der Menschen des ersten Jahrhunderts wider, das Leben der Bauern, der Hirten, der Knechte und Herren, der Frauen, der Väter und Söhne. Es geht um Schulden, Ungerechtigkeit, Gier, Not und Beziehungen. Jesu Lehre war ganz nah dran am Leben seiner Zuhörer. Er hat keine weltfremden theologischen Konzepte gepredigt, sondern es ging um praktische Themen des Alltags.
Zur Zeit Jesu herrschte große Armut in Israel. Herodes der Große galt als der größte Bauherr seiner Zeit, aber seine Bauten wurden finanziert durch die Steuern, die er aus der jüdischen Bevölkerung herauspresste. Aber die jüdische Bevölkerung musste nicht nur Herodes Steuern bezahlen, sondern zusätzlich auch noch Kaiser Augustus. Dies hat Palästina in die absolute Armut getrieben. Tausende sind verhungert und viele sind geflohen oder in die Kriminalität geflüchtet, um überleben zu können.
Es wird vermutet, dass es zur Zeit Jesu ca. 5% Oberschicht, 5% Mittelschicht (z.B. Beamten) und 80% Unterschicht (z.B. Handwerker, Kleinbauern, Tagelöhner; sie mussten täglich hart arbeiten, um gerade so überleben zu können) gab. Die letzten 10% lebten in extremer Armut (z.B. Bettler & Aussätzige). Für detaillierte Informationen zur Situation Jerusalems zur Zeit Jesu empfehle ich „Jerusalem in the Time of Jesus“ von Joachim Jeremias.
Jesus war ein Freund der Armen. Er hat sich für die Armen eingesetzt und ihnen Mut und Hoffnung gegeben in dieser Zeit der schweren existenziellen Krise. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg war verwurzelt in der harschen Lebensrealität der Zuhörer Jesu.
Aspekt 2: Die Tagelöhner
Die Tagelöhner gehörten zur untersten Klasse der Unterschicht. Ihnen erging es schlechter als den Haussklaven. Für die Haussklaven mussten die Besitzer einen hohen Kaufpreis bezahlen, deshalb wurde aufgepasst, dass die Haussklaven nicht zu extrem belastet wurden, damit sie viele Jahre arbeiten konnten. Aber für die Tagelöhner hat sich niemand interessiert, deshalb mussten sie die härtesten und gefährlichsten Jobs machen. Sie haben von der Hand in den Mund gelebt.
Die Tagelöhner standen schon vor Sonnenaufgang an öffentlichen Plätzen, wie dem Marktplatz, und warteten darauf, dass sie eingestellt wurden. Der Druck auf ihnen war groß, denn ob ihre Familie etwas essen konnte oder hungern musste, war davon abhängig, ob sie Arbeit für den Tag fanden oder nicht.
Aspekt 3: Der übliche Lohn in der damaligen Zeit
In wirtschaftlich guten Zeiten war ein Dinar ein guter Tageslohn. Ein halber Dinar galt als schlechter Lohn. Aber in wirtschaftlich schlechten Zeiten war auch ein halber Dinar ein guter Lohn. Demnach war 1 Dinar in jedem Fall ein guter Lohn.
Aber wie viel war ein Denar überhaupt wert? Ein Obergewand oder ein Paar Schuhe kostete ca. 30 Dinare, deshalb besaßen viele Tagelöhner nur ein einziges Obergewand. Ein Ochse kostete 300 Dinare. Fleisch jeglicher Art war teuer, deshalb ernährten sich fast alle Menschen der Unterschicht vegetarisch und Fleisch gab es nur zu seltenen und besonderen Gelegenheiten.
Am Sabbat wurde nicht gearbeitet, demnach konnte Geld nur an 6 Tagen verdient werden, deshalb musste jedes Familienmitglied, so früh wie möglich, arbeiten gehen, um das Überleben der Familie zu sichern.
Aspekt 4: Ab hier wird es komisch…
Das Schockelement in Gleichnissen
Obwohl es sich bei den Gleichnissen Jesu um Beschreibungen aus der Lebensrealität der Menschen handelte, schildern sie nicht unbedingt alltägliche Ereignisse. Viele Elemente der Gleichnisse waren schockierend, vielleicht sogar befremdlich, für die Zuhörer, wie etwa Millionenschulden (Mt 18,23–35), ein Vater, der seinem weggelaufenen Sohn entgegenrennt (Lk 15,20) oder eben der Besitzer eines Weinbergs, der seine Arbeiter mit übertriebener Großzügigkeit bezahlt (Mt 20,1–16).
Fee & Stuart erklären, dass die meisten Gleichnisse mit Witzen vergleichbar sind (2015:182). Ein Witz hat eine Pointe, und wer die Pointe versteht, versteht auch den Witz. So ist es auch mit den Gleichnissen. Viele Gleichnisse hatten eine Pointe, und wer die Pointe verstand, verstand auch die Bedeutung des Gleichnisses. Snodgrass fügt hinzu, dass die Pointe des Gleichnisses, „das Entscheidende“ des Gleichnisses, in der Regel am Ende des Gleichnisses zu finden ist (2018: Characteristics of Jesus’ Parables).
Die Schwachen und Alten
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg fängt an komisch zu werden, als der Weinbergbesitzer noch einmal auf den Marktplatz geht, um zur elften Stunde (17 Uhr) noch einmal Leute einzustellen. Der Arbeitstag endete um 18 Uhr und der Weg in den Weinberg (welcher gewöhnlich außerhalb der Stadt lag) war vermutlich auch mindestens 15 Minuten lang. Niemand stellte mehr Leute zu so später Stunde ein.
Hinzu kommt, dass die übrig gebliebenen Arbeiter vermutlich die schwachen und älteren Arbeiter waren. Die jungen und starken Tagelöhner wurden zuerst ausgewählt und am Ende des Tages blieben die übrig, die niemand sonst einstellen wollte. Es waren die Verzweifelten, weil sie sich nach Arbeit sehnten, um ihre Familien ernähren zu können, aber niemand sie haben wollte.
Der Weinbergbesitzer stellte sie ein mit dem Satz „Ich will euch geben, was gerecht ist“. Die Tagelöhner, die um 6 Uhr angestellt wurden, denen wurde ein ganzer Dinar zugesagt. Der Teil der Tagelöhner, die zur dritten Stunde (um 9 Uhr) angestellt wurden, haben maximal 3/4 Dinare erwartet, vermutlich deutlich weniger. Aber die Tagelöhner, die um 15 Uhr und um 17 Uhr eingestellt wurden, hatten die Aussicht auf so gut, wie gar keinen Lohn, sie gingen aus reiner Verzweiflung und Hoffnung immerhin ein bisschen Essen für die Familie verdienen zu können!
Aspekt 5: Skandalöse Güte
Das Einstellen von Tagelöhnern um 17 Uhr war komisch, aber dass diese, die nur 45 Minuten (in der Abendkühle!) gearbeitet haben, dann einen ganzen Dinar (einen Tagelohn!) bekamen war ein absoluter Skandal. Das war unvorstellbar. Die müssen gehüpft und getanzt haben vor Freude. Diese Großzügigkeit war unvorstellbar und ohnegleichen.
Ab jetzt muss die Geschichte durch die Augen derer gelesen werden, die den gesamten Tag, 12 Stunden, in der brutalen Hitze des Tages hart gearbeitet haben. Die haben Großzügigkeit gesehen und natürlich auf mehr Lohn gehofft. Das ist ganz natürlich. Ihre Enttäuschung war selbstverständlich. „Das ist ungerecht. Nicht fair.“
Der Weinbergbesitzer antwortete freundlich („Mein Freund“), mit einer sachlichen Information (V.13) und einer Frage (V.15). „Ich habe niemandem Unrecht getan. Ich habe mich an alle Absprachen gehalten. Alles ist juristisch korrekt. Ich wollte großzügig sein. Es war mein Wille. Es war keine Pflicht. Mein Herz hat das gesagt.“ Er begründet sein Verhalten. Er versteht die Enttäuschung, aber er hat sich an seinen Teil der Abmachung gehalten.
Für die erschöpften Tagelöhner war es Ungerechtigkeit. Für sie wäre es gerecht gewesen, wenn sie mehr Gehalt oder die letzten Tagelöhner weniger bekommen hätten. Aber die Güte und Großzügigkeit des Weinbergbesitzers übertraf die Vorstellung von Gerechtigkeit der Tagelöhner. Er wusste, dass die letzten Tagelöhner hungernde Familien zu Hause hatten, die auf den gesamten Dinar angewiesen waren, genau wie die Familien der Tagelöhner, die den gesamten Tag gearbeitet hatten.
Vereinfachte Gerechtigkeit („jeder bekommt was er verdient“), die die Wurzel von Problemen und den größeren Kontext ignoriert, kann die Not der Welt nicht lösen. Wenn Menschen unschuldig unter dem Recht der Welt leiden, dann muss Güte beginnen. Güte geht über das Recht hinaus. Güte erkennt die Not und ist bereit die Extrameile zu gehen.
Aspekt 6: Gericht
Maier weist darauf hin:
„Der ganze 8. Vers wimmelt von biblischen Symbolwörtern: „Herr“ (κύριος [kyrios]), „Weinberg“, „Arbeiter“, „Lohn“, „auszahlen“, „Abend“. Sie sind für die Hörer leicht zugänglich. Alle müssen begreifen, dass es um ein Gerichtsgeschehen am Ende der Zeiten geht“ (Maier 2017:204).
Während dieses Gleichnis viele allgemeingültige Wahrheiten enthält, sollte es demnach besonders im Lichte des zukünftigen Gerichts Gottes verstanden werden.
Fazit: Was ist die Bedeutung des Gleichnisses?
Die Pointe des Gleichnisses ist:
Gott wählt die, die niemand sonst haben will. Aber nicht nur das, Gottes Güte, seine Großzügigkeit, übertrifft, was Menschen als gerecht definieren und führt deshalb oft zu Unverständnis und Zorn über diese skandalöse Güte. Niemand kann glauben, wie gut und großzügig Gott wirklich ist (gerade auch im Kontext seines zukünftigen Gerichts)!
Die Schlussfrage des Weinbergbesitzers ist entscheidend: „Oder blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin?“ (Mt 20,15 ELB)
Die Tagelöhner, die den gesamten Tag gearbeitet haben, waren zornig über die skandalöse Güte des Weinbergbesitzers mit den letzten Tagelöhnern. Die Frage könnte umformuliert werden: „Warum protestierst du eigentlich? Warum freust du dich nicht für deine Brüder und Schwestern? Ihr gehört doch alle zu den Ärmsten, ihr seid doch eigentlich eine Familie.“
Die eigentliche Frage des Gleichnisses ist: Warum freuen wir uns nicht über Gottes skandalöse Gnade und Güte? Die besorgniserregende Wahrheit ist, dass unsere Empörung über Gottes skandalöse Güte offenbart, wie wenig wir von seinen Werten und seinem barmherzigen Wesen verinnerlicht haben.
Gottes Güte übertrifft unser Denken. Er ist großzügiger, als wir es jemals ermessen können. Dies ist ein Grund zur Freude. Wenn seine Güte uns wütend macht, dann verweist das darauf, dass wir das Maß seiner Barmherzigkeit und Großzügigkeit noch nicht verstanden haben.
Bibliografie:
Fee, GD. & Stuart, D. 2015. Effektives Bibelstudium: Die Bibel verstehen und auslegen. Kindle ed. Gießen: Brunnen Verlag.
Maier, Gerhard. 2017. Das Evangelium des Matthäus: Kapitel 15–28. Herausgegeben von Gerhard Maier u. a., SCM R. Brockhaus; Brunnen Verlag.
Snodgrass, K. 2018. Stories with intent: a comprehensive guide to the parables of Jesus. Kindle ed. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Publishing Co.