Zwei Beiträge Bonhoeffers zur geistlichen Gemeinschaft
Inhalt
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
Dietrich Bonhoeffer ist sicherlich einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Er stammte nicht aus frommem Elternhaus, und seine Entscheidung für den Weg der Theologie war für seine Familie überraschend. Zeit seines Lebens war das Charakteristische an Bonhoeffer denn auch sein originelles Denken, das es schwer macht, ihn in eine bestimmte Glaubens- und Theologierichtung einzugliedern. Seinen Scharfsinn und seine Unerschrockenheit zeigte er schon zwei Tage nach Hitlers Machtergreifung während einer Radioansprache zum Führerbegriff, die während der Übertragung vom Sender abgebrochen wurde. So war er schon früh im Widerstand gegen das nationalsozialistische Régime und sollte auch eines seiner prominentesten Opfer werden.
Einen seiner Lebensabschnitte verbrachte er als Leiter des illegalen Predigerseminars der Bekennenden Kirche, wo er mit seinen Studenten in einer Glaubens- und Lebensgemeinschaft stand. Von 1935–1937 währte diese Zeit. Einer ihrer Früchte ist das kleine Buch “Gemeinsames Leben /Das Gebetbuch der Bibel”, das er 1938 in Göttingen schrieb. Es ist digital für Logos erhältlich, wie auch sämtliche andere Werke Bonhoeffers.
Gemeinsames Leben
Fünf kurze Teile hat das Büchlein, das mit einem kurzen Vorwort beginnt. In ihm bezeichnet Bonhoeffer die Ordnung des gemeinsamen Lebens als eine gemeinsame kirchliche Verantwortung. Das gesamte Werk besteht zu einem nicht geringen Teil aus biblischen Zitaten, die gleichsam das Gerüst des Buches bilden.
1. Gemeinschaft
“Es ist nichts Selbstverständliches für den Christen, dass er unter Christen leben darf.” Dieser Satz steht am Anfang des ersten Kapitels. Gemeinschaft ist eine Vorwegnahme der Ewigkeit, und in der Gemeinschaft der Christen ist Christus in besonderer Weise gegenwärtig. Bonhoeffer teilt das Kapitel in drei Themen ein und schreibt dazu:
“Christliche Gemeinschaft heißt Gemeinschaft durch Jesus Christus und in Jesus Christus. Es gibt keine christliche Gemeinschaft, die mehr, und keine, die weniger wäre als dieses. […] Wir gehören einander allein durch und in Jesus Christus. Was heißt das? Es heißt erstens, dass ein Christ den andern braucht um Jesu Christi willen. Es heißt zweitens, dass ein Christ zum andern nur durch Jesus Christus kommt. Es heißt drittens, dass wir in Jesus Christus von Ewigkeit her erwählt, in der Zeit angenommen und für die Ewigkeit vereinigt sind.” (DBW 5:18).
Nachdem er diese drei Punkte ausgeführt hat, kommt er wiederum zu einer wichtigen Aussage:
“Es liegt für die christliche Bruderschaft alles daran, dass es vom ersten Anfang an deutlich werde: Erstens, christliche Bruderschaft ist kein Ideal, sondern eine göttliche Wirklichkeit. Zweitens, christliche Bruderschaft ist eine pneumatische und nicht eine psychische Wirklichkeit.” (DBW 5,22).
Diese zweite Aussage ist wesentlich für seinen Gemeinschaftsgedanken: Christliche Gemeinschaft lebt nicht von der Zwischenmenschlichkeit, von den menschlichen Bemühungen um Liebe, Vergebung, Sympathie und Gemeinschaft. Der Christ hat sein Gegenüber nicht direkt vor sich, sondern er hat Gemeinschaft nur durch Jesus Christus und seinen Geist.
2. Der gemeinsame Tag
Mit der Kolosserstelle “Lasset das Wort Christi reichlich unter euch wohnen” (Kol 3,16) beginnen die Ausführungen dieses Abschnitts. Für Bonhoeffer ist es ganz klar, dass die Gemeinschaft unter dem Wort Gottes steht, und dies äußert sich an verschiedenen Stellen des Tages im Feiern einer gemeinsamen Liturgie. Dazu gehört erstens das gemeinsame Psalmgebet. “Der Psalter ist das stellvertretende Gebet Christi für seine Gemeinde.” (DBW 5:40). Wir lernen aus dem Psalter, was Beten heißt, was wir beten sollen und wie wir als Gemeinschaft beten. Zu diesem Gebet kommt zweitens die Schriftlesung, und zwar bevorzugt in der lectio continua (fortlaufende Lesung). Die Kenntnis der Schrift ist wesentlich für das christliche Leben.
“Wie sollen wir z.B. in unserm persönlichen und kirchlichen Handeln jemals Gewissheit erlangen, wenn wir nicht auf festem Schriftgrund stehen? Nicht unser Herz entscheidet über unsern Weg, sondern Gottes Wort.” (DBW 5:47).
Das dritte Element des gemeinsamen Feierns ist das gemeinsame Lied. Am Ende der Andacht steht das Gebet des Hausvaters, auf jeden Fall aber möglichst von ein und demselben Bruder. Dazu gehört die Fürbitte, ein solches Gebet soll auch so sein, dass möglichst alle es mitbeten können, und es muss geordnet sein.
Ein weiteres Element des gemeinsamen Tages ist die Tischgemeinschaft.
Der Tag gehört dann der Arbeit, unterbrochen durch eine Mittagsandacht. Abends vereinigt “die abendliche Tischgemeinschaft und die letzte Andacht” (DBW 5,62) die Gemeinschaft wieder.
3. Der einsame Tag
Am Anfang dieses Abschnitts stehen die beiden berühmten Sätze: “Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor der Gemeinschaft.” “Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.” Zum ersten Satz sagt Bonhoeffer:
“Allein standest du vor Gott, als er dich rief, allein musstest du dem Ruf folgen, allein musstest du dein Kreuz aufnehmen, musstest du kämpfen und beten, und allein wirst du sterben und Gott Rechenschaft geben. Du kannst dir selbst nicht ausweichen, denn Gott selbst hat dich ausgesondert.”
Zum zweiten Satz heißt es:
“In der Gemeinde bist du berufen, der Ruf galt nicht dir allein, in der Gemeinde der Berufenen trägst du dein Kreuz, kämpfst und betest du. […] Missachtest du die Gemeinschaft der Brüder, so verwirfst du den Ruf Jesu Christi, so kann dein Alleinsein dir nur zum Unheil werden.” (DBW 5,65f).
Gemeinsamer und einsamer Tag bedingen einander, der eine ist ohne den anderen nicht fruchtbar. Auch hier hat Bonhoeffer drei wesentliche Elemente: Schriftbetrachtung, Gebet und Fürbitte. “Alle drei soll er in der täglichen Meditationszeit finden.” (DBW 5,69). Zusammenfassend sagt der Autor am Ende dieses Abschnitts: “Wer nach bestandenem Tage in die christliche Hausgemeinschaft zurückkehrt, der bringt den Segen des Alleinseins mit, er selbst aber empfängt aufs Neue den Segen der Gemeinschaft. […] Die Kraft des Alleinseins und die Kraft der Gemeinschaft aber ist allein die Kraft des Wortes Gottes, das dem Einzelnen in der Gemeinschaft gilt.” (DBW 5,76).
4. Der Dienst
In diesem Abschnitt folgt nun nicht das, was wir selbst meistens unter Dienst verstehen. Es geht Bonhoeffer wesentlich um den Dienst untereinander, und dazu gehört für ihn zuerst Sündenerkenntnis und Sündenbekenntnis. “Nicht Selbstrechtfertigung und darum Vergewaltigung, sondern die Rechtfertigung aus Gnade und darum Dienst soll die christliche Gemeinschaft regieren.” (DBW 5,80). Die dazu nötige Haltung ist, den Anderen höher zu achten als sich selbst und seine eigene Sünde größer als die des Nächsten.
“Der erste Dienst, den einer dem anderen in der Gemeinschaft schuldet, besteht darin, dass er ihn anhört” (DBW 5,82), und zwar mit ungeteilter Aufmerksamkeit. “Der andere Dienst […] ist die tätige Hilfsbereitschaft.” (DBW 5,84). “Wir sprechen drittens von dem Dienst, der im Tragen des Andern besteht.” (DBW 5,85). Dazu gehört, die Freiheit des Andern zu tragen sowie ihr Missbrauch, die Sünde, welche den Dienst der Vergebung erfordert. Wir brauchen Furcht vor der Verantwortung zum Wort und auch die Furcht vor dem Anderen. Wesentlich ist auch, dass wir uns das Wort vom Anderen sagen lassen, aber auch selbst Zurechtweisung üben durch den Mittler Jesus Christus selbst.
5. Beichte und Abendmahl
Der vorherige Abschnitt mündet unmittelbar in den letzten. Bonhoeffer spricht sich für das Beichtgespräch aus, denn die Sünde, die ausgesprochen wird, verliert ihre Macht.
“Die Sünde will mit dem Menschen allein sein. […] Sünde will unerkannt bleiben. Sie scheut das Licht.” Aber “die Sünde muss ans Licht”. Zu einem solchen Beichtgespräch gehört der Zuspruch der Vergebung. Dabei geht es nicht um Seelsorge. “Der Bruder hört unser Sündenbekenntnis an Christi Statt, und er vergibt uns unsere Sünde an Christi Statt.” (DBW 5,93f).
So geschieht in der Sünde der Durchbruch zur Gemeinschaft, der Durchbruch zum Kreuz, der Durchbruch zum neuen Leben und der Durchbruch zur Gewissheit. Das Abendmahl, dem nur ein kurzer Abschnitt gewidmet ist, ist dann – und damit schließt das Buch – die Erfüllung des gemeinsamen Lebens der Christen.
Das Gebetbuch der Bibel
Im Jahr 1940 gibt Bonhoeffer eine Einleitung in die Psalmen heraus, sicherlich auch eng verknüpft mit seinen Ausführungen zum gemeinsamen Leben. Er beginnt mit der Feststellung, dass es uns widerspruchsvoll erscheint, wenn wir beten lernen müssen. Ist echtes Gebet – und das gilt vor allem für den reformiert-freiklichlichen Teil meines christlichen Lebens – nicht gerade dadurch charakterisiert, dass es frei ist? Aber Bonhoeffer schreibt uns ins Stammbuch:
“Beten heißt ja nicht einfach, das Herz ausschütten, sondern es heißt, mit seinem erfüllten oder auch leeren Herzen den Weg zu Gott finden und mit ihm reden. Das kann kein Mensch von sich aus, dazu braucht er Jesus Christus.” (DBW 5,107).
Beten lernen ist wie sprechen lernen beim Kind.
Bonhoeffer steht in der altkirchlichen Tradition, dass die Psalmen eigentlich “solche Gebete” sind, “die wir mit Jesus Christus beten.” (DBW 5,108). “Wenn wir daher die Gebete der Bibel und besonders die Psalmen lesen und beten wollen, so müssen wir nicht zuerst danach fragen, was sie mit uns, sondern was sie mit Jesus Christus zu tun haben.” Diese überraschende und herausfordernde Sicht der Psalmen durchzieht nun das ganze Buch.
Die Beter der Psalmen
Im Folgenden kommt eine kurze Ausführung zu den Autoren der Psalmen. Auf eines kommt es dabei aber an:
“Wer betet den Psalter? David (Salomo, Asaph usw.) betet, Christus betet, wir beten. Wir – das ist zunächst die ganze Gemeinde, […], es ist schließlich aber auch jeder einzelne, sofern er an Christus und seiner Gemeinde teil hat und ihr Gebet mitbetet.” (DBW 5,112).
Name, Musik, Versgestalt
Einige wenige Bemerkungen zur eigentlichen theologischen Einleitung in die Psalmen folgen, wobei Bonhoeffer gerade auch auf den heilsamen Charakter christlichen Gesanges hinweist.
Der Gottesdienst und die Psalmen
Auch hier bleibt Bonhoeffer kurz, weist aber besonders auf die schon im Buch “Gemeinsames Leben” angeführte Wichtigkeit des Psalmgebets in der Kirche und auch im Privatleben hin.
Einteilung
Bonhoeffer meint mit der Einteilung nicht die strukturelle Einteilung, wie sie ja schon bei den Juden vorliegt (in fünf Bücher, entsprechend dem Pentateuch), sondern eine thematische Unterteilung der Psalmen: “Die Schöpfung, das Gesetz, die Heilsgeschichte, der Messias, die Kirche, das Leben, das Leiden, die Schuld, die Feinde, das Ende.” (DBW 5,117). Er fährt fort (ebd): “Es wäre nicht schwer, alle diese Stücke dem Vaterunser einzuordnen und so zu zeigen, wie der Psalter ganz in das Gebet Jesu aufgenommen ist.” Die oben angesprochenen Themen illustriert er mit einigen charakteristischen Psalmen und sieht sie – ganz seinem Anliegen nach – zuerst nach dem Eindruck, den sie auf den Beter machen und dem Zusammenhang mit dem Beter aller Beter, Jesus Christus.
Fazit
Die beiden Bücher mit zusammen etwa 130 Seiten sind für mich absolute Grundlage für ein Leben in der (kirchlichen) Gemeinschaft. Sie zu lesen und zu meditieren hat meinen Horizont über die Gemeinschaft der Heiligen wesentlich erweitert. Besonders beeindruckt hat mich die Unterscheidung zwischen zwischenmenschlicher Gemeinschaft und Gemeinschaft in Christus, wo wir den Bruder oder die Schwester (gendergerechte Sprache war zur damaligen Zeit noch nicht auf dem Schirm der Menschen) nur durch Jesus Christus haben, aber auch Jesus Christus in segenshafter Weise durch unsere Brüder und Schwestern. Insofern sind die Bücher nicht nur kirchengeschichtlich interessante Quellen sondern ein wertvolles Wort in unser heutiges geistliches Leben hinein. Über den Autor: Martin Schröder, Jahrgang 1961, ist evangelischer Diplomtheologe, Religionslehrer an öffentlichen Schulen und beschäftigt sich intensiv mit den biblischen Ursprachen. Außerdem ist er in der Gemeindeleitung des Württ. Christusbundes in der Nähe seines Wohnortes und als Laienprediger unterwegs.