Nachdem wir uns einige Stilmittel im letzten Blog in einer Übersicht angeschaut haben, gehen wir nun im Blick auf Chiasmen etwas mehr ins Detail. Das Verständnis dieser Strukturen hilft uns, Aussagen besser einordnen und verstehen zu können. Auch bei der Übersetzungsarbeit ist das Erkennen dieser Struktur eine Hilfe.
Da die Schreiber des Neuen Testamentes überwiegend Juden waren, finden sich dort Hebraismen und jüdische Denkweisen, auch wenn uns das NT in der griechischen Sprache überliefert worden ist. Es ist daher nichts Ungewöhnliches, hier auch auf Chiasmen zu treffen.
Inhalt
Erkennen von Chiasmen hilft beim Verstehen von Texten
Als westlich geprägte Leser stolpern wir manchmal über Texte, die mit unserem gewohnten Lesefluss nicht zusammenpassen. Wir schauen uns dazu zwei einfache Beispiele an.
Matthäus 7:6
Der Text lautet nach der revidierten Elberfelder Bibel (1993):
„Gebt nicht das Heilige den Hunden; werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie diese nicht etwa mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen!“
Beim Lesen wundert man sich dann, dass Schweine nicht nur zertreten, sondern auch zerreißen, was nicht zu ihnen passt. Als westlich geprägte Leser verbinden wir beide Aussagen (zertreten und zerreißen) mit dem vorher genannten Tier, dem Schwein. Das passt nicht zusammen und die Aussage Jesu ist uns daher unverständlich.
Schreiben wir die vier Aussagen zunächst untereinander:
Gebt nicht das Heilige den Hunden;
werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine,
damit sie diese nicht etwa mit ihren Füßen zertreten
und sich umwenden und euch zerreißen!
Jetzt kann man schon erkennen, dass die zweite und dritte Aussage eine Einheit bildet. Schaut man sich nun die erste und letzte Aussage an, wird klar, dass sie auch zusammengehören. Es sind also die Hunde, die zerreißen – was auch typisch für diese Tiere ist. Schon lässt sich der Chiasmus gemäß nachfolgend aufgezeigter Struktur darstellen (ABB’A‘) und die Aussage des Textes wird uns klar und verständlich!
A) Gebt nicht das Heilige den Hunden;
B) werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine,
B‘) damit sie dieselben nicht etwa mit ihren Füßen zertreten
A‘) und sich umwenden und euch zerreißen!
Es ist dies die einfachste Form eines Chiasmus, wovon wir uns ein weiteres Beispiel anschauen.
Philemon 1:5
Der Text lautet nach der alten Elberfelder Übersetzung (1905):
„da ich höre von deiner Liebe und von dem Glauben, den du an den Herrn Jesus und zu allen Heiligen hast,“
Irgendwie stolpern wir hier über die Aussage „Liebe und Glauben“ im Blick auf die Heiligen (die Gläubigen). Schreiben wir auch hier die Aussagen untereinander:
da ich höre von deiner Liebe
und von dem Glauben,
den du an den Herrn Jesus
und zu allen Heiligen hast,
Hier lässt sich ebenfalls erkennen, dass Glaube an den Herrn Jesus zusammengehört, und somit auch die erste und letzte Aussage wieder zueinander passen, nämlich Liebe zu allen Heiligen. Auch hier liegt ein Chiasmus vor, der sich wie beim vorherigen Beispiel in folgender Weise darstellt:
A) da ich höre von deiner Liebe
B) und von dem Glauben
B‘) den du an den Herrn Jesus
A‘) und zu allen Heiligen hast,
Der Prolog zum Evangelium nach Johannes 1:1–18
Die Einleitung des Johannesevangeliums ist ein literarisches Prachtstück und die chiastische Struktur macht nicht nur deutlich, dass diese Verse die Einleitung bilden, sondern betont auch die Botschaft und das Ziel des Evangeliums, Menschen zum Glauben an den Namen des Sohnes Gottes, Jesus Christus, zu führen und sie durch Geburt zu Kindern Gottes zu machen (die Verse 12 und 13).
Wenn wir uns die erste Aussage in den Versen 1 und 2 sowie die letzte Aussage in Vers 18 anschauen, stellen wir fest, dass beide Aussagen das gleiche Thema behandeln. Das ewige Wort bei Gott und der Sohn beim Vater. Auch die nächste Aussage in Vers 3, das alles durch das Wort geworden ist, geht parallel zu der Aussage von Vers 17, wo beschrieben wird, was durch den Sohn geworden ist. Die weitere Analyse führt dann zu folgendem, etwas umfangreicheren Chiasmus:
A) Das Wort bei Gott (Verse 1–2)
B) Was durch das Wort geworden ist (Vers 3)
C) Was wir durch das Wort empfangen haben (Vers 4–5)
D) Das Zeugnis von Johannes dem Täufer (Verse 6–8)
E) Der Sohn kommt in die Welt (Verse 9–11)
F) Durch den Sohn werden wir Kinder Gottes (Verse 12–13)
E’) Das Wort kommt in die Welt (Vers 14)
D’) Das Zeugnis von Johannes dem Täufer (Vers 15)
C’) Was wir durch den Sohn empfangen haben (Vers 16)
B’) Was durch den Sohn geworden ist (Vers 17)
A’) Der Sohn beim Vater (Vers 18)
Der Wechsel in Teil E vom Wort auf den Sohn („Er“ und nicht „Es“) und in Teil E‘ die Nennung des Wortes, wo sonst von dem Sohn die Rede ist, machen deutlich, dass Sohn und Wort ein und dasselbe sind, d.h. das ewige Wort Gottes ist gleichzeitig der Sohn Gottes. Das ganze Bestreben Gottes bzw. des Sohnes mit dem Ziel der Aussagen von Vers 12–13 wird durch den Aufbau unterstrichen und geht mit der Botschaft der in diesem Evangelium beschriebenen Zeichen einher, von denen Johannes in Kapitel 20:31 sagt:
„Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen.“
Erkennen von Chiasmen hilft beim Übersetzen von Texten
Römer 11:33–35
Der Anfang des griechischen Text lautet: Ὦ βάθος πλούτου καὶ σοφίας καὶ γνώσεως θεου
Das gr. Wort kai bedeutet im Sinne von verbindend „und“, wird auch explikativ im Sinne von „nämlich“ und bei einer Aneinanderreihung in der Bedeutung von „sowohl … als auch“, oder „einerseits, andererseits“ verwendet (Details siehe im Wörterbuch zum Neuen Testament, Walter Bauer, Seiten 795–798).
Die Frage, die sich hier in Röm 11:33 stellt, ist, wie muss übersetzt werden? Im Sinne einer Aufzählung dreier durch „und” verbundener Substantive „Reichtum und Weisheit und Erkenntnis“ (Deutsche Übersetzungen mit dieser Auffassung sind z.B. Einheitsübersetzung, Gute Nachricht, Hoffnung für alle und die Neue Genfer Übersetzung), oder in der Bedeutung von im Reichtum enthalten sind Weisheit und Erkenntnis, also „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes“ (Deutsche Übersetzungen mit dieser Variante sind z.B. Elberfelder Bibel, Revidierte Elberfelder, Schlachter 2000 oder die Zürcher Bibel).
Wenn wir uns den weiteren Text in den Versen 34 und 35 anschauen, entdecken wir die Themen aus Vers 33 in umgekehrter Reihenfolge wieder. Es geht um erkennen (den Sinn des Herrn, vgl. dazu Jes 55:8.9 „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR. Denn so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“), es geht um Weisheit (denn die benötigt ein Berater, vgl. dazu Spr 21:30 „Es gibt keine Weisheit und keine Einsicht und keinen Rat gegenüber dem HERRN.“) und um Besitz/Reichtum (Gott besitzt alles, vgl. z.B. Ps 50:12b „denn mein ist die Welt und ihre Fülle.“, aller Reichtum ist bei Gott).
D.h. wir haben es mit einer chiastischen Struktur zu tun, die folgendermaßen aussieht. Damit ist auch klar, wie zu übersetzen ist!
A) O Tiefe des Reichtums
B) und der Weisheit
C) und der Erkenntnis Gottes!
D) Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!
C’) Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt,
B’) oder wer ist sein Mitberater gewesen?
A’) Oder wer hat ihm vorher gegeben, und es wird ihm vergolten werden?
Das Nachdenken von Paulus über den unendlichen Reichtum Gottes, Seine Weisheit, die höher ist, als wir uns ausdenken können und Seinen unfassbaren Reichtum führen zu dieser wunderschönen Doxologie, womit der zweite große Abschnitt des Römerbriefes seinen Abschluss findet (Römer 11:33–36).
Dies sind nur einige Beispiele, die hoffentlich zum weiteren Studium anregen. Viel Freude beim Erforschen von Strukturen im Neuen Testament!
Ausblick
Im nächsten Blog gehen wir auf Chiasmen im Alten Testament ein, und zwar von der Versebene über Kapitel bis auf ganze Bücher, die so strukturiert sind. Als Abschluss wird es dann in einem weiteren Blog eine Anleitung zum Anlegen der beschriebenen Strukturen in Logos. Es lohnt sich dranzubleiben.
Literaturhinweise
CHIASMUS IN THE NEW TESTAMENT, Nils W. Lund, Hendrickson Publishers
Genial. Vielen Danke für diese aufschlussreichen Analyse. Freue mich auf die weiteren Analysen.
Hallo Bruder Lauth, ich schreibe grade ein Buch über das Fasten. Darin ist u.a. ein Exkurs über Widerholungen in der Bibel enthalten. Als Beispiel für einen Chiasmus würde ich sie gerne zitieren mit dem Beispiel über Joh 1. Darf ich das wenn ich die Quelle korrekt angebe?
Lieber Bruder,
ja klar dürfen Sie das. Gottes Segen für Ihre Arbeit.
Herzlichen Gruß
Michael Lauth