Christliches Leben: Tugend oder Heiligung? Teil 3/​3 – Ein Fazit

Von Jens Binfet

Heiligung
Dezember 23, 2019

In die­ser kur­zen Serie bin ich der Fra­ge nach dem Wie der christ­li­chen Lebens­ver­än­de­rung nach­ge­gan­gen. Zunächst in einer his­to­ri­schen Betrach­tung der ver­schie­de­nen Denk­we­ge und anschlie­ßend in der Erwä­gung von Bibel­text und Theo­lo­gie.

Ins­ge­samt – so scheint es – gibt es also zwei gro­ße gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen. Und ich muss mich für eine ent­schei­den. Aber ist das so? Gibt es nur ein Ent­we­der-oder? Und sieht die Sache aus jeder Per­spek­ti­ve gleich aus?

Wenn es in der Theo­lo­gie einen schein­ba­ren Wider­spruch gibt, trifft man häu­fig auf das Kon­zept des sowohl als auch. Luthers simul ius­tus et pec­ca­tor ist dafür ein Bei­spiel. Der Gläu­bi­ge ist zugleich Gerech­ter und Sün­der. Gera­de in den grund­le­gends­ten Dog­men der Kir­che fin­den wir so eine Span­nung: Gott ist sowohl drei als auch einer (Tri­ni­tät) und Chris­tus ist gleich­zei­tig ganz Mensch und ganz Gott.

Auch bei der Fra­ge der Lebens­ver­än­de­rung scheint mir so eine Span­nung vor­zu­lie­gen: Es ist sowohl ganz Got­tes Werk, als auch mei­ne eige­ne Ver­ant­wor­tung. Wie geht man damit nun um? Muss ich die Span­nung aus­hal­ten und ein­fach nicht wei­ter fragen?

Alle eine Frage der Perspektive?

Der Phi­lo­soph und Theo­lo­ge John Frame ver­wen­det für die Beschrei­bung sol­cher Span­nun­gen den Ansatz des Tri-Per­spek­ti­vis­mus (tri-per­spec­ti­va­lism). Denn häu­fig, wenn unse­re Logik ver­sagt, schein­ba­re Wider­sprü­che auf­zu­lö­sen, dann ist es hilf­reich, zu schau­en, ob die kol­li­die­ren­den Aus­sa­gen über­haupt in der­sel­ben Hin­sicht gemeint sind. Frame schlägt drei Blick­win­kel als Betrach­tungs­wei­se vor:

  1. nor­ma­tiv (Grund­sätz­lich gel­ten­de Grundlagen)
  2. situa­tiv (Anwen­dung auf die kon­kre­te Situation)
  3. exis­ten­zi­ell (Per­sön­li­chen Erfah­run­gen und Gefühle)
John M. Frame: Doctrine of the Christian Life

Die ers­ten bei­den sind vor allem objek­ti­ve Betrach­tungs­wei­sen, wie sie viel­leicht vor­ran­gig in den vor­her­ge­hen­den Arti­keln zur Spra­che kamen. Und aus die­sen Per­spek­ti­ven scheint mir der refor­ma­to­ri­sche Schluss der Hei­li­gung kon­se­quent und rich­tig zu sein. 

Aber das The­ma der per­sön­li­chen Ver­än­de­rung ist nichts, was wir völ­lig los­ge­löst von uns selbst (unse­rer Exis­tenz) betrach­ten kön­nen. Es geht mich immer direkt etwas an. Hier wird es ganz sub­jek­tiv. Wie ist es bei­spiels­wei­se mit der Moti­va­ti­on zur Ver­än­de­rung in mir? Und genau hier springt die exis­ten­zi­el­le Per­spek­ti­ve in die Bre­sche: Ich bin ver­ant­wort­lich – ich muss han­deln. Hier­her gehö­ren dann auch all die bibli­schen Auf­for­de­run­gen, “tugend­haft” zu leben. 

Die Span­nung ent­steht also auf­grund unter­schied­li­cher Per­spek­ti­ven auf das Pro­blem. (Egal ob man nun Frames Per­spek­ti­ven­sche­ma folgt oder nicht.) Damit ist aber erst mal nur das Pro­blem genau­er erfasst.

Die Fra­ge bleibt: In wel­chem Bezug ste­hen die­se Per­spek­ti­ven zuein­an­der? Wie ver­bin­den sie sich im per­sön­li­chen und kol­lek­ti­ven Glauben?

Die Motivation eines christlichen Lebens

Ver­dirbt der Gedan­ke der Gna­de die Moti­va­ti­on zum ethi­schen Leben nicht? Das war schon der Vor­wurf eines bestimm­ten römisch-katho­li­schen Flü­gels gegen die Refor­ma­ti­on. Selbst der Apos­tel Pau­lus ahnt die­sen Vor­wurf bereits im Vor­aus, wenn er schreibt: „Was sol­len wir nun sagen? Sol­len wir denn in der Sün­de behar­ren, damit die Gna­de umso mäch­ti­ger wer­de?“ (Röm 6,1). Oder anders gefragt: Was ist die christ­li­che Moti­va­ti­on zum tugend­haf­ten Leben? Und woher kommt sie?

Reicht es, sich wie Pla­ton die vier Kar­di­nal­tu­gen­den über das Leben zu schrei­ben? Oder wie Kant – gut preu­ßisch – sich der eige­nen Pflicht bewusst zu wer­den? All das trägt aus christ­li­cher Sicht nicht weit genug.

In sei­ner Ethik stellt Adolf Schlat­ter einen alter­na­ti­ven Ansatz vor, der der oben skiz­zier­ten Span­nung Rech­nung trägt: Er nennt ihn etwas gewöh­nungs­be­dürf­tig den “Beruf“.

Schlat­ter meint dabei nicht das, was wir heu­te Beruf nen­nen. Der “christ­li­che Beruf“ ist viel­mehr das Leben, wozu Gott den Chris­ten beruft (=Beru­fung). Und das ähnelt einem Amt. Gott beruft Men­schen aus ihrem natür­li­chen Leben zu einem Leben in der Kraft der Gna­de. Und so wie jemand, der ein hohes Amt im Staat erhält, sich auf eine wür­di­ge Amts­aus­übung ver­pflich­tet, ver­pflich­tet die­ser Ruf Got­tes für ein christ­li­ches Leben. Schlat­ter stellt sei­nen Leser dabei gera­de nicht vor ein schar­fes Ent­we­der-Oder: Tugend oder Hei­li­gung. Er nimmt den Wert tugend­haf­ten Ver­hal­tens auf, jedoch geht ihm eine rei­ne Tugend­ethik nicht weit genug:

Wir wen­den also, solan­ge wir uns um unse­re Tugen­den bemü­hen, unser Begeh­ren nicht von uns selbst weg, heben es nicht über uns selbst hin­auf, son­dern rich­ten es auf das, was wir aus uns selbst machen […] Dann sieht [der Mensch] nie­mand über sich, dem er gehor­chen darf, und kennt nie­mand neben sich, für den er sein Leben ver­wen­den will. […] Da uns die Gewäh­rung eines Beru­fes im Diens­te Got­tes Arbeit für die ande­ren zuteilt, führt sie uns dazu, daß wir unser Ver­mö­gen zur Tüch­tig­keit aus­bil­den. Der Beruf ver­leiht uns also den stärks­ten Antrieb zur eige­nen Bildung“

Adolf Schlat­ter, Die christ­li­che Ethik. Stutt­gart: Cal­wer Ver­lag, 5. Auf­la­ge 1986, 13f

Ganz in der refor­ma­to­ri­schen Linie kri­ti­siert Schlat­ter den Fokus der Tugend­ethik auf den Men­schen. Wenn die Tugend allein bleibt, hat sie kein Ziel und kei­ne Moti­va­ti­on über das eige­ne Ich hin­aus. Es ist gera­de so, als wol­le der Mensch sich am eige­nen Schop­fe aus dem Sumpf zie­hen. Die­se Bemü­hung mag zwar als „Neben­wir­kung“ das Zusam­men­le­ben ver­bes­sern, aber das ist nicht ihr eigent­li­ches Ziel. Fokus­siert auf sei­ne eige­ne Selbst­op­ti­mie­rung kann der Mensch weder über sich hin­aus­wach­sen noch das Wohl des Ande­ren im Blick haben. Sicher, wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Und wenn alle nach ihrer eige­nen Tugend stre­ben, kann viel­leicht auch eine Gesell­schaft funk­tio­nie­ren. Aber es bleibt doch ein Neben­ein­an­der von red­lich Bemüh­ten. Kurz gesagt: Es fehlt Ver­ant­wor­tung und Bezie­hung zu Gott und Mitmensch.

In der Neu­aus­rich­tung auf Gott kön­nen wir im christ­li­chen Beruf über uns hin­aus­wach­sen. Der Beruf bie­tet durch die Gna­de Got­tes also einen Kon­text, in dem die Tugend ihren Wert aus der Bezie­hung zu Gott und Mit­men­schen bezieht. Es ist nun mehr als rei­ne Selbst­op­ti­mie­rung. Und damit liegt ihr Ursprung und die Moti­va­ti­on außer­halb von uns („extra nos“), vor allem natür­lich in Gott selbst.

Nach Schlat­ter braucht es die­sen Anker für eine christ­li­che Ethik. Andern­falls ist das Stre­ben nach der eige­nen Tugend nichts wei­ter als ein Grund zum Stolz auf die eige­ne Errun­gen­schaft. Hier schließt sich Schlat­ter wie­der ganz dem Urteil von Augus­ti­nus an. Der Stolz auf die eige­ne Selbst­op­ti­mie­rung eig­net sich weder als dau­er­haf­te Moti­va­ti­on noch ist sie eine frucht­ba­re Grund­la­ge für die Begeg­nung mit dem ande­ren Menschen.

Christliches Leben: Sowohl Heiligung als auch Tugend

Bli­cken wir noch ein­mal zurück über alle drei Arti­kel: Ste­hen nun Luther (Hei­li­gung) und Aris­to­te­les (Tugend) ein­an­der unver­söhn­lich gegen­über? Zunächst schien es so. Frames Per­spek­ti­ven regen an, genau­er hin­zu­schau­en: Luther schreibt vor allem aus der nor­ma­tiv-objek­ti­ven, Aris­to­te­les dage­gen eher aus der exis­ten­zi­el­len Per­spek­ti­ve. Die Vogel­per­spek­ti­ve steht der Frosch­per­spek­ti­ve gegen­über. Luther als Theo­lo­ge, der die Grö­ße Got­tes im Blick hat­te, und Aris­to­te­les, der als empi­ri­scher Phi­lo­soph vor allem Men­schen beob­ach­te­te, beschrei­ben das­sel­be aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln. Bei­de Per­spek­ti­ven tra­gen etwas Wert­vol­les bei.

Schlat­ter rät, dar­an fest­zu­hal­ten, dass Hei­li­gung und Ethik in Gott und nicht im Men­schen ihre Quel­le haben. Er ver­mei­det dann aber, den Wert der Tugend an sich zu ver­wer­fen: Hier ent­springt aus der zuge­rech­ne­ten Tugend (=Gerech­tig­keit) Got­tes, die Moti­va­ti­on, Tugend zu „erwer­ben“. Die Gna­de ist der Boden, in dem unse­re Bemü­hung um ein gutes Leben blü­hen kann.

Des­halb kann auch Pau­lus schreiben:

Also, mei­ne Lie­ben […] schaf­fet, dass ihr selig wer­det, mit Furcht und Zit­tern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt bei­des, das Wol­len und das Voll­brin­gen, nach sei­nem Wohl­ge­fal­len. (Phil 2,12–13)


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Jens Binfet

Über den Autor

Der Autor Jens Binfet ist Doktorand an der Universität Wien. Er hat ein Anliegen, Theologie für die Kirche und den einzelnen Menschen zugänglich zu machen.

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