In dieser kurzen Serie bin ich der Frage nach dem Wie der christlichen Lebensveränderung nachgegangen. Zunächst in einer historischen Betrachtung der verschiedenen Denkwege und anschließend in der Erwägung von Bibeltext und Theologie.
Insgesamt – so scheint es – gibt es also zwei große gegensätzliche Positionen. Und ich muss mich für eine entscheiden. Aber ist das so? Gibt es nur ein Entweder-oder? Und sieht die Sache aus jeder Perspektive gleich aus?
Wenn es in der Theologie einen scheinbaren Widerspruch gibt, trifft man häufig auf das Konzept des sowohl als auch. Luthers simul iustus et peccator ist dafür ein Beispiel. Der Gläubige ist zugleich Gerechter und Sünder. Gerade in den grundlegendsten Dogmen der Kirche finden wir so eine Spannung: Gott ist sowohl drei als auch einer (Trinität) und Christus ist gleichzeitig ganz Mensch und ganz Gott.
Auch bei der Frage der Lebensveränderung scheint mir so eine Spannung vorzuliegen: Es ist sowohl ganz Gottes Werk, als auch meine eigene Verantwortung. Wie geht man damit nun um? Muss ich die Spannung aushalten und einfach nicht weiter fragen?
Inhalt
Alle eine Frage der Perspektive?
Der Philosoph und Theologe John Frame verwendet für die Beschreibung solcher Spannungen den Ansatz des Tri-Perspektivismus (tri-perspectivalism). Denn häufig, wenn unsere Logik versagt, scheinbare Widersprüche aufzulösen, dann ist es hilfreich, zu schauen, ob die kollidierenden Aussagen überhaupt in derselben Hinsicht gemeint sind. Frame schlägt drei Blickwinkel als Betrachtungsweise vor:
- normativ (Grundsätzlich geltende Grundlagen)
- situativ (Anwendung auf die konkrete Situation)
- existenziell (Persönlichen Erfahrungen und Gefühle)
Die ersten beiden sind vor allem objektive Betrachtungsweisen, wie sie vielleicht vorrangig in den vorhergehenden Artikeln zur Sprache kamen. Und aus diesen Perspektiven scheint mir der reformatorische Schluss der Heiligung konsequent und richtig zu sein.
Aber das Thema der persönlichen Veränderung ist nichts, was wir völlig losgelöst von uns selbst (unserer Existenz) betrachten können. Es geht mich immer direkt etwas an. Hier wird es ganz subjektiv. Wie ist es beispielsweise mit der Motivation zur Veränderung in mir? Und genau hier springt die existenzielle Perspektive in die Bresche: Ich bin verantwortlich – ich muss handeln. Hierher gehören dann auch all die biblischen Aufforderungen, “tugendhaft” zu leben.
Die Spannung entsteht also aufgrund unterschiedlicher Perspektiven auf das Problem. (Egal ob man nun Frames Perspektivenschema folgt oder nicht.) Damit ist aber erst mal nur das Problem genauer erfasst.
Die Frage bleibt: In welchem Bezug stehen diese Perspektiven zueinander? Wie verbinden sie sich im persönlichen und kollektiven Glauben?
Die Motivation eines christlichen Lebens
Verdirbt der Gedanke der Gnade die Motivation zum ethischen Leben nicht? Das war schon der Vorwurf eines bestimmten römisch-katholischen Flügels gegen die Reformation. Selbst der Apostel Paulus ahnt diesen Vorwurf bereits im Voraus, wenn er schreibt: „Was sollen wir nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde?“ (Röm 6,1). Oder anders gefragt: Was ist die christliche Motivation zum tugendhaften Leben? Und woher kommt sie?
Reicht es, sich wie Platon die vier Kardinaltugenden über das Leben zu schreiben? Oder wie Kant – gut preußisch – sich der eigenen Pflicht bewusst zu werden? All das trägt aus christlicher Sicht nicht weit genug.
In seiner Ethik stellt Adolf Schlatter einen alternativen Ansatz vor, der der oben skizzierten Spannung Rechnung trägt: Er nennt ihn etwas gewöhnungsbedürftig den “Beruf“.
Schlatter meint dabei nicht das, was wir heute Beruf nennen. Der “christliche Beruf“ ist vielmehr das Leben, wozu Gott den Christen beruft (=Berufung). Und das ähnelt einem Amt. Gott beruft Menschen aus ihrem natürlichen Leben zu einem Leben in der Kraft der Gnade. Und so wie jemand, der ein hohes Amt im Staat erhält, sich auf eine würdige Amtsausübung verpflichtet, verpflichtet dieser Ruf Gottes für ein christliches Leben. Schlatter stellt seinen Leser dabei gerade nicht vor ein scharfes Entweder-Oder: Tugend oder Heiligung. Er nimmt den Wert tugendhaften Verhaltens auf, jedoch geht ihm eine reine Tugendethik nicht weit genug:
„Wir wenden also, solange wir uns um unsere Tugenden bemühen, unser Begehren nicht von uns selbst weg, heben es nicht über uns selbst hinauf, sondern richten es auf das, was wir aus uns selbst machen […] Dann sieht [der Mensch] niemand über sich, dem er gehorchen darf, und kennt niemand neben sich, für den er sein Leben verwenden will. […] Da uns die Gewährung eines Berufes im Dienste Gottes Arbeit für die anderen zuteilt, führt sie uns dazu, daß wir unser Vermögen zur Tüchtigkeit ausbilden. Der Beruf verleiht uns also den stärksten Antrieb zur eigenen Bildung“
Adolf Schlatter, Die christliche Ethik. Stuttgart: Calwer Verlag, 5. Auflage 1986, 13f
Ganz in der reformatorischen Linie kritisiert Schlatter den Fokus der Tugendethik auf den Menschen. Wenn die Tugend allein bleibt, hat sie kein Ziel und keine Motivation über das eigene Ich hinaus. Es ist gerade so, als wolle der Mensch sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Diese Bemühung mag zwar als „Nebenwirkung“ das Zusammenleben verbessern, aber das ist nicht ihr eigentliches Ziel. Fokussiert auf seine eigene Selbstoptimierung kann der Mensch weder über sich hinauswachsen noch das Wohl des Anderen im Blick haben. Sicher, wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Und wenn alle nach ihrer eigenen Tugend streben, kann vielleicht auch eine Gesellschaft funktionieren. Aber es bleibt doch ein Nebeneinander von redlich Bemühten. Kurz gesagt: Es fehlt Verantwortung und Beziehung zu Gott und Mitmensch.
In der Neuausrichtung auf Gott können wir im christlichen Beruf über uns hinauswachsen. Der Beruf bietet durch die Gnade Gottes also einen Kontext, in dem die Tugend ihren Wert aus der Beziehung zu Gott und Mitmenschen bezieht. Es ist nun mehr als reine Selbstoptimierung. Und damit liegt ihr Ursprung und die Motivation außerhalb von uns („extra nos“), vor allem natürlich in Gott selbst.
Nach Schlatter braucht es diesen Anker für eine christliche Ethik. Andernfalls ist das Streben nach der eigenen Tugend nichts weiter als ein Grund zum Stolz auf die eigene Errungenschaft. Hier schließt sich Schlatter wieder ganz dem Urteil von Augustinus an. Der Stolz auf die eigene Selbstoptimierung eignet sich weder als dauerhafte Motivation noch ist sie eine fruchtbare Grundlage für die Begegnung mit dem anderen Menschen.
Christliches Leben: Sowohl Heiligung als auch Tugend
Blicken wir noch einmal zurück über alle drei Artikel: Stehen nun Luther (Heiligung) und Aristoteles (Tugend) einander unversöhnlich gegenüber? Zunächst schien es so. Frames Perspektiven regen an, genauer hinzuschauen: Luther schreibt vor allem aus der normativ-objektiven, Aristoteles dagegen eher aus der existenziellen Perspektive. Die Vogelperspektive steht der Froschperspektive gegenüber. Luther als Theologe, der die Größe Gottes im Blick hatte, und Aristoteles, der als empirischer Philosoph vor allem Menschen beobachtete, beschreiben dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln. Beide Perspektiven tragen etwas Wertvolles bei.
Schlatter rät, daran festzuhalten, dass Heiligung und Ethik in Gott und nicht im Menschen ihre Quelle haben. Er vermeidet dann aber, den Wert der Tugend an sich zu verwerfen: Hier entspringt aus der zugerechneten Tugend (=Gerechtigkeit) Gottes, die Motivation, Tugend zu „erwerben“. Die Gnade ist der Boden, in dem unsere Bemühung um ein gutes Leben blühen kann.
Deshalb kann auch Paulus schreiben:
Also, meine Lieben […] schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen. (Phil 2,12–13)