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Schneisen in die jüdische Auslegung
Raschi gilt als der bedeutendste jüdische Bibel- und Talmudausleger des Mittelalters. Sein Pentateuchkommentar ist in seiner Bedeutung für die jüdische Auslegung kaum zu überschätzen. Er ist immer wieder nachgedruckt worden und in vielen Sammelwerken zu finden.
Auch in die christliche Exegese hat Raschi Eingang gefunden. Hier diente vor allem der Franziskaner Nikolaus von Lyra als Türöffner, dessen Postilla Luther u. a. sehr geschätzt hat. So entstand das geflügelte Wort „Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset“ („wenn Lyra nicht gespielt hätte, hätte Luther nicht getanzt“).
Nur nebenbei: Raschi soll als erster das Wort „Pizza“ eingeführt haben, als er das „Brot“ aus Ez 4,16 als „Pizza dePan auf Französisch“ beschreibt.
Jüdische Kommentare
Die Vers-für-Vers-Auslegung spielt im Judentum insgesamt nicht dieselbe Rolle wie im Christentum. Grundlegend sind hier vielmehr die Sammlungen der mündlich überlieferten Tora in Mischna und Talmud. Im Bereich der Bibelexegese gab es in der Antike verschiedene Formen der „Rewritten Bible“ (so in Genesis Apokryphon, Testamente der 12 Patriarchen, Jubiläen, Philo, Pseudo-Philo, Josephus).
Bei den freieren Midraschim werden die halachischen oder tannaitischen Midraschim zur Tora und die homiletischen oder aggadischen Midraschim unterschieden. An wörtlichen Auslegungen findet sich in Qumran die Pescher-Exegese, die vor allem auf prophetische Bücher angewandt wird (1QpHab, 4QpNah, 4QpIsaᵇ, 4QpHos, 4QpPs 37). Nach dem Zitat eines prophetischen Abschnitts folgt dann jeweils die Kommentierung, die nicht selten das eschatologische Verständnis der Qumran-Gemeinde widerspiegelt.
Im Mittelalter entstehen große Sammelwerke wie Midrasch Haggadol, Midrasch Tanchuma und Yalqut. In methodischer Hinsicht entwickelt sich in Analogie zum vierfachen Schriftsinn der christlichen Exegese der PaRDeS, ein Akronym aus Peschat (schlichter Wortsinn), Remes (Allegorie), Derasch (homiletische Bedeutung) und Sod (mystisch-esoterische Bedeutung).
Zwischen Midrasch und Peschat
Raschi bedeutende Kommentare üben bis heute Einfluss auf die jüdische Auslegung aus und werden vereinzelt auch in der christlichen Exegese rezipiert.
Raschi schrieb zu fast allen Büchern der hebräischen Bibel Peschat-Kommentare, in denen nicht mehr die Midraschim, sondern der einfache Wortsinn maßgeblich war. Sein Pentateuch-Kommentar ist zwar noch in der alten rabbinischen Überlieferung verwurzelt, insbesondere im aggadischen Midrasch Bereschit Rabba, aber auch Mischna und Talmud. Dennoch ist die Betonung des eigentlichen Wortsinns unverkennbar.
Raschis Ansatz
Zu Gen 3,8 legt Raschi seinen Ansatz dar: „Sie hörten, es gibt viele agadische Midraschim, und unsere Lehrer haben sie bereits an ihrer Stelle im Bereschit Rabba und anderen Midraschim eingereiht, ich aber komme nur, den einfachen Sinn des Verses und solche Agada zu bringen, welche die Worte des Verses erklärt, dass sich jedes Wort dem Zusammenhang einfügt.“
Raschi nimmt an vielen Stellen die Tradition zustimmend auf, paraphrasiert allerdings frei und zitiert nicht wörtlich. Kaum ein Vers wird ohne Bezug auf die überlieferte Auslegungstradition erklärt. Im Gegensatz zu Abraham ibn Esra (um 1092–1167) hat sie bei Raschi noch Beweiskraft und das bloße Zitieren scheint ausreichend zu sein, um der Auslegung Gewicht zu verleihen.
In der Regel stehen Peschat und Midrasch bei Raschi nebeneinander, ohne dass Spannungen aufgebaut werden. Gelegentlich grenzt Raschi sich vom Midrasch ab, wenn dort zur Erschaffung des Menschen als Mann und Frau in Gen 1,27 spekuliert wird, ursprünglich sei der Mensch mit zwei Gesichtern geschaffen worden, die dann getrennt wurden. Raschi stellt dem gegenüber: „Der einfache Sinn des Verses [= Peschat] ist, hier teilt er dir mit, dass beide am sechsten Tage erschaffen wurden, und erklärt dir noch nicht, wie sie erschaffen wurden, das erklärt er dir an einer anderen Stelle.“
Raschis Exegese weist durch diese beiden Herangehensweisen methodologisch eine große Spannbreite auf, ist mit ansonsten im Judentum beliebten etymologischen Erklärungen recht sehr zurückhaltend. Anders als in der Antike werden nun auch morphologische und syntaktische Fragen teils auch mit den entsprechenden grammatischen Fachbegriffen besprochen.
Während bei Raschi und Nachmanides neben dem Peschat die Traditionen von Talmud und Midrasch von großem Einfluss sind, ist für Raschbam (um 1085–1174) und Ibn Esra fast ausschließlich der einfache Literalsinn entscheidend und werden von ihnen weite Teile der rabbinischen Tradition implizit und teils sogar explizit abgelehnt. Aber auch ihre Peschat-Kommentare bieten keine vollständige Vers-für-Vers-Auslegung oder gar eine übergreifende Synthese, stattdessen finden sich Einzelbeobachtungen zu ausgewählten Versen, in denen die traditionellen exegetische Probleme behandelt werden.
Deutsche Ausgabe
Die Übersetzung ins Deutsche wurde 1922 veröffentlicht und stammt vom Hamburger Rabbiner Selig Pinchas Bamberger (1872–1936), der zahlreiche jüdische Standardwerke ins Deutsche übertrug. Dennoch finden sich fast auf jeder Seite einzelne hebräische Wörter. Diese werden häufig, aber nicht immer übersetzt. Dennoch kann auch der Leser ohne Hebräisch-Kenntnisse den Kommentar mit Gewinn lesen.
Bereits 1887 (2. Aufl. 1905) hatte Julius Dessauer Raschis Pentateuch-Kommentar ins Deutsche übersetzt. In seiner zweisprachigen Ausgabe erscheint in der oberen Seitenhälfte der biblische (masoretische) Text auf Hebräisch und in deutscher Übersetzung und in der unteren Seitenhälfte Raschis Kommentierung, ebenfalls zweisprachig. Bambergers Ausgabe hat sich allerdings durchgesetzt.
Beispiele von Raschis Exegese
Einige Beispiele mögen Raschis Art der Exegese illustrieren.
- In Gen 1,1 weist die Constructusverbindung („Genitiv“) von בְּרֵאשִׁ֖ית „Am Anfang (der Erschaffung von Himmel und Erde)“ statt eines Adverbs darauf hin, dass es nicht um eine Reihenfolge in der Schöpfung gehe. In 1,2 wird die Erschaffung des Wassers vorausgesetzt; „aus diesem Vers kannst du entnehmen, dass das Wasser schon vor der Erde erschaffen war; außerdem wurde der Himmel aus Feuer und Wasser gebildet; und du musst zum Schluss gelangen, dass uns der Vers nichts über die Reihenfolge, was früher und was später war, lehrt.“
- In 1,2 bezieht Raschi das „Schweben“ des Geistes Gottes darauf, „der Thron Seiner Herrlichkeit stand im Raum und schwebte über dem Wasser durch das Wort des Heiligen, gelobt sei Er, und Seinen Befehl wie eine Taube, die über dem Neste schwebt; über etwas schweben“.
- In 1,5 wird nicht die Ordinalzahl „erster (Tag)“ verwendet, sondern die Kardinalzahl אֶחָד „eins“. Raschi übersetzt wie Bereschit Rabba „Tag des Einzigen“ und zieht hier eine Verbindung zum Schema-Text Dtn 6,4 („Jhwh ist einer“): „Weil an ihm der Heilige, gelobt sei Er, in Seiner Welt noch allein war; denn die Engel wurden erst am zweiten Tage erschaffen. So wird im Ber. rab. erklärt.“ Hier kann man gut sehen, wie eine Stelle durch eine andere gedeutet wird. Hingegen wird die Erschaffung der Engel und der unsichtbaren Welt im biblischen Schöpfungsbericht nicht beschrieben. An dieser Stelle wird auf den Midrasch zurückgegriffen.
- Das Wort יַמִּים „Meer“ in 1,10 steht im Hebräischen im Plural, was Raschi veranlasst, die originelle Deutung des Midrasch anzuführen. Es gibt zwar nur den einen großen Ozean. „Nur, es gleicht nicht der Geschmack eines Fisches, der in Akko aus dem Meere kommt, dem Geschmack eines solchen in Spanien (Ber. rab.).“
- Selbstverständlich nimmt Raschi alle Zahlenangaben ernst, seien es die hohen Lebenalter der Patriarchen, die 430 Jahre vor dem Exodus (Ex 12,40) und die 600.000 Mann beim Auszug und den Volkszählungen in Numeri. Spannungen in den Angaben werden harmonisiert.
- Die Schlussverse des Pentateuch, die den Tod des Mose beschreiben (Dtn 34,5–8), führt Raschi entsprechend rabbinischer Tradition (Talmud Baba batra 14b) auf Josua zurück.
Aufbau des Kommentars
Leider fehlt in dieser Ausgabe die Einführung Bambergers in Raschi und seine Art der Kommentierung. Die fünf Bücher der Tora weisen in der deutschen Übersetzung folgenden Umfang auf:
- Genesis, S. 1–156
- Exodus, S. 156–312
- Levitikus, S. 312–411
- Numeri, S. 411–512
- Deuteronomium, S. 513–608
Den ersten beiden Bibelbüchern werden also je rund 150 Seiten und Lev, Num und Dtn je rund 100 Seiten gewidmet. Dadurch bleibt die Kommentierung kompakt. Bei Gen und Ex werden die meisten Verse kommentiert und allenfalls Einzelverse ausgelassen, in Abschnitten wie den Geschlechtsregistern und der Völkertafel werden auch mehrere Verse übersprungen, u.a. Gen 10,3–7.10.15–17.22–24.27–32 und ganz 11,11–27. In Lev bis Dtn werden die Auslassungen einzelner Verse oder kleinerer Abschnitte häufiger.
Die jeweilige Verszahl und das zugrundliegende Wort oder die Proposition wird in der Ausgabe fett gedruckt und hebt sich dadurch ab. Die Bezüge auf die Midraschim und andere Traditionen werden in Klammern ergänzt. Dadurch ist schnell erkennbar, welche Auswahl Raschi getroffen hat.
Vorzüge von Raschi in Logos Bibelsoftware
Gegenüber der (frei verfügbaren) PDF-Version bietet Logos die gewohnten und bewährten Verlinkungen der Bibelstellen sowie die Möglichkeit, mehrere Fenster mit Bibeltexten, Übersetzungen, Kommentaren und Nachschlagewerken zu synchronisieren. Zudem sind Suchfunktionen in Windeseile möglich, was angesichts des selektiven Charakters des Kommentars nützlich ist.
Fazit
Wenn man bisher noch nicht mit jüdischen Kommentaren gearbeitet hat, sollte man nicht enttäuscht sein. Man sollte nicht erwarten, dass jüdische Exegeten, weil sie Hebräisch als Muttersprache beherrschen, den Text besser erklären können oder grundlegend neue Einsichten vermitteln. Historische Hintergrundinformationen und eine Textsynthese wird man vergeblich suchen.
Dennoch ist Raschi der jüdische Kommentar schlechthin. Er bietet in seiner Kompaktheit eine gelungene Mischung aus jüdischer Midrasch-Tradition und gründlicher philologischer Exegese und ist immer anregend zu lesen.