Christliches Leben: Tugend oder Heiligung? – Teil 1 /​3

Von Jens Binfet

Heiligung
Mai 16, 2019

Das Evan­ge­li­um hat lebens­ver­än­dern­de Kraft. Das ist brei­ter christ­li­cher Kon­sens. Aber wie kommt die­se Ver­än­de­rung im Leben und Wesen eines Men­schen zustan­de? Schon seit Beginn der christ­li­chen Kir­che treibt die­se Fra­ge Chris­ten aller Gene­ra­tio­nen immer wie­der um. Denn hier kommt die Theo­lo­gie sprich­wört­lich auf die Stra­ße. Hier wird sie kon­kret, leb­bar und sichtbar.

Auch für ande­re Reli­gio­nen und die Phi­lo­so­phie war die­se Fra­ge durch die Jahr­tau­sen­de rele­vant und wur­de viel­fach bear­bei­tet. Wie wird ein Mensch tugend­haft? Wo liegt die Quel­le für cha­rak­ter­li­che Ver­än­de­rung? Liegt sie im Men­schen und muss nur her­vor­ge­holt wer­den? Oder braucht es einen Ein­fluss von außen?

Luther oder Aristoteles? – Ein alter Streit

In der Refor­ma­ti­on des 16. Jahr­hun­derts begeg­nen sich dann zwei die­ser Vor­stel­lun­gen in schar­fem Kon­trast – mit Aus­wir­kun­gen bis in die Theo­lo­gie der Gegenwart.

Da ist zunächst Aris­to­te­les: Er glaubt, dass ein Mensch Tugend (eigent­lich Vor­treff­lich­keit – gr. ἀρετή) durch Übung erwer­ben kann. So wie ein Mensch durch viel Üben am Instru­ment ein Musi­ker wird. Hier führt das Tun zum Wesen. Die­se Idee hat­te dann in der christ­li­chen Theo­lo­gie des Mit­tel­al­ters gro­ßen Einfluss.

Nun wur­de die­ser Kon­sens von einem jun­gen, kämp­fe­ri­schen Mönch her­aus­ge­for­dert. In sei­ner „Dis­pu­ta­tio con­tra scho­la­s­ti­cam theo­lo­giam“ von 1517 macht Luther schon sehr früh die Schär­fe die­ses Kon­flikts beson­ders deutlich:

42. Nicht indem wir gerecht han­deln, wer­den wir gerecht, son­dern [indem wir] gerecht gewor­den [sind], han­deln wir gerecht. Gegen die Philosophen.

43. Fast die gan­ze Ethik des Aris­to­te­les ist sehr schlecht und der Gna­de feind. Gegen die Scholastiker.

[…]

45. Es ist ein Irr­tum zu sagen, ohne Aris­to­te­les wird man kein Theo­lo­ge. Gegen die all­ge­mei­ne Rede.

46. Viel­mehr wird man ein Theo­lo­ge nur, wenn man es ohne Aris­to­te­les wird.

Über­set­zung aus: Der Mensch vor Gott: Deut­sche Tex­te (Bd. 1, S. 25). Leip­zig: Evan­ge­li­sche Ver­lags­an­stalt.
Erhält­lich bei Logos.

Luthers Gegenentwurf

Schon ein Jahr spä­ter legt Luther in Hei­del­berg sei­nen Gegen­ent­wurf detail­lier­ter dar (The­se 25):

XXV. NICHT DER IST GERECHT, DER VIEL WIRKT, SONDERN DER OHNE WERK VIEL AN CHRISTUS GLAUBT.

Denn die Gerech­tig­keit Got­tes wird nicht erwor­ben aus häu­fig wie­der­hol­ten Hand­lun­gen, wie Aris­to­te­les gelehrt hat, son­dern sie wird ein­ge­gos­sen durch den Glau­ben. „Der Gerech­te lebt näm­lich aus dem Glau­ben“, Röm 1 und 10. „Mit dem Her­zen wird zur Gerech­tig­keit geglaubt.“ Von daher will ich jenes (,ohne Werk‘) so ver­stan­den wis­sen: nicht, dass der Gerech­te nichts wir­ke, son­dern dass sei­ne Wer­ke nicht sei­ne Gerech­tig­keit bewir­ken, son­dern viel­mehr sei­ne Gerech­tig­keit die Wer­ke bewirkt. Denn ohne unser Werk wer­den die Gna­de und der Glau­be ein­ge­gos­sen, und wenn sie ein­ge­gos­sen sind, fol­gen schon die Werke.

Über­set­zung aus: Der Mensch vor Gott: Deut­sche Tex­te (Bd. 1, S. 57–59). Leip­zig: Evan­ge­li­sche Ver­lags­an­stalt.
Erhält­lich bei Logos.

Luther öff­net damit einen Streit zwi­schen zwei Extrem­punk­ten: akti­ver Erwerb gegen pas­si­ven Emp­fang. Übung gegen Geschenk. Eige­ne Gerech­tig­keit gegen frem­de Gerech­tig­keit. Tugend gegen Heiligung.

Martin Luther - Lateinisch-Deutsche-Studienausgabe (3 Bände)

Aber ist die­ser Gegen­satz wirk­lich so scharf? Ist Luther der Gute und Aris­to­te­les der Böse?

In die­sem ers­ten Arti­kel gehe ich der Fra­ge nach: Wie wur­de die­ses The­ma in der Kir­chen­ge­schich­te aus christ­li­cher Sicht bewer­tet? Der zwei­te Arti­kel beleuch­tet eini­ge Anfra­gen an bei­de Kon­zep­te aus bibli­scher und theo­lo­gi­scher Sicht. Im letz­ten Arti­kel die­ser Serie stel­le ich bei­de Sei­ten einem Ent­wurf eines spä­te­ren evan­ge­li­schen Theo­lo­gen – Adolf Schlat­ter – gegen­über und ver­su­che aus sei­ner Posi­ti­on her­aus ein Fazit zu finden.

Zwei Linien der Kirchengeschichte

Der Streit um die Tugend bzw. Hei­li­gung ist alt und er beschränkt sich bei wei­tem nicht auf Luthers Aus­ein­an­der­set­zung mit Aris­to­te­les. Im Fol­gen­den über­flie­ge ich exem­pla­risch die christ­li­che Theo­lo­gie­ge­schich­te und ver­su­che die Kon­flikt­li­ni­en in brei­ten Stri­chen nachzuzeichnen.

Die „aristotelische“ Linie

Aris­to­te­les ist sicher gemein­sam mit Pla­ton der ein­fluss­reichs­te Den­ker west­li­cher Phi­lo­so­phie. Kein Wun­der, dass sei­ne Gedan­ken auch die christ­li­che Theo­lo­gie und Ethik beein­flusst haben. Die ein­schlä­gi­ge Stel­le zum Tugen­d­er­werb, gegen die sich Luther wen­det, ist:

Die Tugen­den dage­gen erwer­ben wir, indem wir sie zuerst aus­üben, wie es auch für die sons­ti­gen Fer­tig­kei­ten gilt. Denn was wir durch Ler­nen zu tun fähig wer­den sol­len, das ler­nen wir eben, indem wir es tun: durch Bau­en wer­den wir Bau­meis­ter und durch Kit­ha­ra­spie­len Kit­ha­ris­ten. Eben­so wer­den wir gerecht, indem wir gerecht han­deln, beson­nen durch beson­ne­nes, tap­fer durch tapferes

Han­deln. (Aristoteles/​Rainer Nickel (Hrsg.), Niko­ma­chi­sche Ethik. Berlin:Walter de Gruy­ter 2014, 57 (1103 b)) 

Die Tugend (ἀρετή) ist dabei der zen­tra­le Begriff der klas­sisch grie­chi­schen Ethik und bedeu­tet lobens­wer­te Cha­rak­ter­ei­gen­schaft. In der Alten Kir­che ver­tra­ten Cas­sia­nus und Gre­gor I. eine Posi­ti­on, die der klas­sisch grie­chi­schen in Tei­len ähnelt: Zur Kor­rek­tur der sie­ben Tod­sün­den sei­en christ­li­che Tugen­den not­wen­dig, die durch Übung erwor­ben wer­den könn­ten. Petrus Abael­ard (1079–1142) als Ver­tre­ter der Früh­scho­las­tik lehnt sich in sei­nem Tugend­be­griff eben­falls stark an Aris­to­te­les an.

Der Ent­wick­lung fol­gend gelan­gen wir zu Tho­mas von Aquin als Ver­tre­ter der Hoch­scho­las­tik: Obwohl Tho­mas häu­fig als der Inbe­griff der Syn­the­se aus Aris­to­te­les und Chris­ten­tum gilt, folgt er Aris­to­te­les bei der Tugend nur zum Teil. Zwar gibt es nach tho­mis­ti­scher Leh­re sog. erwor­be­ne Tugen­den (vir­tuis acqui­si­tis), ana­log zur aris­to­te­li­schen Sicht. Bei der heils­not­wen­di­gen Kate­go­rie der ein­ge­gos­se­nen Tugen­den (vir­tuis infu­sis) jedoch wider­spricht er Aris­to­te­les. Mehr dazu im fol­gen­den Abschnitt. In nach­re­for­ma­to­ri­scher Zeit tau­chen Aspek­te des aris­to­te­li­schen Gedan­kens bei F.D.E. Schlei­er­ma­cher wie­der auf.

Die „reformatorische“ Linie

Für die frü­hen Kir­chen­vä­ter (bspw. Cle­mens roma­nus) sowie die sog. ante- und post­nicä­ni­schen Väter (z. B. Ire­nä­us, Ter­tul­li­an) ist die Hei­li­gung ein zen­tra­ler Begriff. Die­ser hat sei­ne Wur­zeln aber vor allem im Alten Tes­ta­ment und nicht in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie. Die Hei­li­gung als Gabe Got­tes mani­fes­tiert sich für sie in den Sakramenten.

Die Bedeutung von Augustinus

Die Wur­zeln der refor­ma­to­ri­schen Leh­re von der Hei­li­gung fin­den sich dann ohne Zwei­fel bei Augus­ti­nus schon aus­drück­lich, der sowohl für Luther als auch für Cal­vin maß­geb­li­cher Ein­fluss ist. Ähn­lich wie die Pla­to­ni­ker sieht Augus­ti­nus die Tugen­den als Aus­druck eines höchs­ten Gutes, näm­lich der Lie­be. Die­se Lie­be als Wur­zel der Tugend ist ein­ge­gos­sen durch den Hei­li­gen Geist (Röm 5,5) und kann daher nur von außen, von Gott kom­men. Ohne die Aus­rich­tung auf Gott durch die gott­ge­ge­be­ne Lie­be kann es kei­ne wah­re Tugend geben: „Denn die wah­re Tugend strebt als Ziel an jenes Gut des Men­schen, das von kei­nem ande­ren über­trof­fen wird“ (de Civi­ta­te Dei V, XII, 4).

Sei­ne Ansicht der Tugend als etwas, dass nur Gott in uns ohne uns bewirkt, fin­det sich in zahl­lo­sen spä­te­ren Autoren wie­der (Petrus Lom­bar­dus, Tho­mas und bei den Refor­ma­to­ren). Dies belegt die star­ke Strahl­kraft der augus­ti­ni­schen Tugend­leh­re in der christ­li­chen Theologie.

Lombardus vs. Abaelard

Im Mit­tel­al­ter bin­det Petrus Lom­bar­dus – gegen sei­nen Zeit­ge­nos­sen Abael­ard – die Tugen­den eng an die Gna­den­ga­ben Got­tes im Hei­li­gen Geist. Sie ist nicht Men­schen­werk, son­dern Got­tes. Tho­mas hat – wie oben gese­hen – ein Kon­zept in dem gewis­se Tugen­den durch Übung erwor­ben wer­den kön­nen, er folgt aber Augus­tin in der Hin­sicht, dass die heils­not­wen­di­gen Tugen­den ein­ge­gos­sen wer­den (vir­tuis infu­sis). „Die Ursa­che, wel­che die ein­ge­gos­se­ne Tugend […] bewirkt, ist Gott. Dies ist aus­ge­drückt in den Wor­ten: wel­che Gott in uns ohne uns wirkt.“ (Sum­ma Theo­lo­gi­ca I‑II, Q55, 4)

Luther ver­mei­det dann den Begriff Tugend weit­ge­hend, weil er sich von Aris­to­te­les und der Phi­lo­so­phie abgren­zen will. Er redet statt­des­sen von der trans­for­mie­ren­den Kraft der Gna­den­ga­ben Got­tes. Der Pro­zess der Hei­li­gung folgt „auto­ma­tisch“ auf die Recht­fer­ti­gung. So ent­wi­ckelt sich der Cha­rak­ter des Chris­ten von der neu­en Rea­li­tät in Chris­tus her. Der Glau­be an Chris­tus tritt aus dem Inne­ren des Men­schen her­vor in sei­ne Hand­lun­gen (ius­ti­tia actualis).

Auch Johan­nes Cal­vin lehrt, dass „all sol­che Tugen­den […] Got­tes Gaben sind“. Für ihn sind sogar die Tugen­den (er nennt sie „Tugend­ab­bil­der“) der Ungläu­bi­gen Geschen­ke Got­tes. Ohne den Glau­ben sind sie jedoch ver­dor­ben und letzt­end­lich vor Gott kei­ne Tugend mehr.

Zwischenfazit

Ist nun die lebens­ver­än­dern­de Wir­kung des Evan­ge­li­ums nur eine Gabe Got­tes oder habe ich als Christ auch etwas damit zu tun? Kann ich „an mir arbeiten“?

Die Chris­ten, die uns in 2000 Jah­ren vor­an­ge­gan­gen sind, decken ein wei­tes Spek­trum ab und jede Zeit scheint etwas mehr in die eine oder in die ande­re Rich­tung zu ten­die­ren. Ist die­se Fra­ge des­halb eine „ewi­ge Streit­fra­ge“, die wir end­lich mal auf sich beru­hen las­sen sollen?

Gera­de weil sie in jeder Gene­ra­ti­on neu dis­ku­tiert wird, zeigt sich aus mei­ner Sicht ihre gro­ße Rele­vanz. Es geht schließ­lich um die prak­ti­sche Aus­wir­kung des Glau­bens im Leben.


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Jens Binfet

Über den Autor

Der Autor Jens Binfet ist Doktorand an der Universität Wien. Er hat ein Anliegen, Theologie für die Kirche und den einzelnen Menschen zugänglich zu machen.

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  1. Die Fra­ge scheint mir yu sein, wie weit ich mich von Gott beschen­ken las­se, oder wie weit ich mei­ne, dass ich Gott nicht brau­che, weil ich sel­ber stark genug bin.

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