Der unbarmherzige Knecht : 8 häufig übersehene Aspekte

Von Manuel Becker

Bibelstudium, Exegese, Gleichnis

Ver­zeih, oder sonst kannst du etwas erle­ben!“ Ist die­se Aus­le­gung des Gleich­nis­ses vom unbarm­her­zi­gen Knecht zuläs­sig? Lesen Sie in 20 Min., wel­che 8 Aspek­te bei der Aus­le­gung des Gleich­nis­ses beach­tet wer­den sollten.

Die traditionelle Auslegung des Gleichnisses

Übli­cher­wei­se wird das Gleich­nis vom unbarm­her­zi­gen Knecht als eine direk­te Lek­ti­on über die Not­wen­dig­keit der Bereit­schaft zur Ver­ge­bung gepre­digt und dem­entspre­chend wie folgt ausgelegt:

Gott ver­gibt eine Schuld, die grö­ßer ist als das, was jemand jemals zurück­zah­len könn­te. Die Emp­fän­ger eines sol­chen Gna­den­ge­schenks müs­sen eben­falls ihren Schuld­nern ver­zei­hen oder sie wer­den ewi­ger Fol­ter übergeben.

Ist dies eine zuläs­si­ge Aus­le­gung des Tex­tes? In die­sem Arti­kel wer­de ich 8 Aspek­te des Gleich­nis­ses anspre­chen, die bei der Aus­le­gung nicht über­se­hen wer­den sollten.

Der Aufbau des Textes

Der Bibel­text (Mt 18,21–35) besteht aus drei Teilen:

  1. Das Gespräch zwi­schen Jesus und Petrus (Mt 18,21–22), wel­ches als Ein­lei­tung dient (oran­ge markiert).
  2. Das Gleich­nis (Mt 18,23–34) (gelb markiert).
  3. Ein erklä­ren­des Fazit (Mt 18,35) (grün markiert).

Der unbarmherzige Schuldner

Aspekt 1: Der Kontext des Gleichnisses

Eine Grund­re­gel der Her­me­neu­tik ist: Bibel­stel­len müs­sen in ihrem Kon­text ver­stan­den wer­den. Was ist der Kon­text die­ses Gleichnisses?

Jesus lehr­te sei­ne Jün­ger (Mt 18,1). Das The­ma von Mat­thä­us 18 sind Anwei­sun­gen Jesu, wie die Jün­ger Gemein­schaft mit­ein­an­der leben sollen. 

Jesus begann mit der Not­wen­dig­keit von Demut (Mt 18,1–5): Wer sich selbst ernied­rigt, ist der Größ­te im Him­mel­reich. Dann ermahn­te er sei­ne Jün­ger, ande­re nicht zur Sün­de zu ver­füh­ren (Mt 18,6–10) und beton­te, dass er gekom­men ist, um das Ver­lo­re­ne zu ret­ten (Mt 18,11). Er sprach dar­über, wie wich­tig ihm jeder Mensch ist und dass er des­halb nicht will, dass eines sei­ner Scha­fe ver­lo­ren geht (Mt 18,12–14).

Als Nächs­tes gab er sei­nen Jün­gern Richt­li­ni­en, um Sün­de lie­be­voll anzu­spre­chen und dadurch den Sün­der zur Buße zu brin­gen (Mt 18,15–20). Denn ech­te Lie­be kehrt Sün­de nicht unter den Tep­pich, son­dern spricht Sün­de an, aber nicht um zu ver­dam­men, viel­mehr um den Sün­der vor den zer­stö­re­ri­schen Kon­se­quen­zen der Sün­de zu bewahren.

Der direkte Kontext des Gleichnisses (Mt 18,21–22)

Das Kapi­tel 18 endet mit einem Teil, der die Wich­tig­keit von Ver­ge­bung in den Fokus rückt. Das Gleich­nis vom unbarm­her­zi­gen Knecht fin­det sich nur bei Mat­thä­us und wird von einer Fra­ge des Petrus ein­ge­lei­tet (Mt 18,21 Luther):

Herr, wie oft muss ich denn mei­nem Bru­der, der an mir sün­digt, ver­ge­ben? Ist’s genug siebenmal?

Die­se Fra­ge und Jesu Ant­wort sind der Kon­text des Gleich­nis­ses und damit der her­me­neu­ti­sche Schlüs­sel zur rech­ten Aus­le­gung. Des­halb müs­sen wir zuerst Jesu Ant­wort ver­ste­hen, bevor wir zu dem Gleich­nis kom­men kön­nen. Jesus ant­wor­te­te (Mt 18,22 NGÜ):

»Nein«, gab Jesus ihm zur Ant­wort, »nicht sie­ben­mal, son­dern siebenundsiebzigmal!«

Die Ant­wort Jesu spielt auf eine alt­tes­ta­ment­li­che Sze­ne an: das Lamech-Lied (Gnil­ka:145; Fied­ler:307). In Gene­sis 4,15 droht Gott eine sie­ben­fa­che Stra­fe dem an, der Kain erschlägt. Lamech aber ver­langt sie­ben­und­sieb­zig­fa­che Rache, soll­te er erschla­gen wer­den (Gene­sis 4,24 ELB):

Wenn Kain sie­ben­fach gerächt wird, so Lamech siebenundsiebzigfach.

Hier ist die Rede von einer Eska­la­ti­on der Rache. Lamech will, dass unzäh­li­ge Men­schen getö­tet wer­den, um sei­nen Tod zu rächen. Bezeich­nen­der­wei­se ist er der 6. nach Kain und der 7. nach Adam, wur­de aber mit Kain vom Stamm­baum Adams ver­wor­fen. Par­al­lel dazu ist der 7. nach Adam in der Linie von Seth ein Mann namens Henoch. Die­ser wan­del­te mit Gott und ward nicht mehr gese­hen (Gen. 5,24). Hier zeigt sich die ers­te Typo­lo­gie von Anti­christ (Lamech) und Chris­tus (Henoch) im Alten Tes­ta­ment. Bereits im vier­ten Kapi­tel der Bibel wird die Ten­denz des mensch­li­chen Her­zens offen­bar: Es will Rache. Jesus greift die­se alt­tes­ta­ment­li­che Sze­ne auf und, wie er es so oft tut, kehrt sie um. Er ver­kehrt sie in eine Eska­la­ti­on der Gnade.

Jesus will, dass sei­ne Jün­ger „70 mal 7“ (Strack & Bil­ler­beck:797) ver­ge­ben. Damit meint er sicher nicht, dass wir mit­zäh­len und nach dem 490ten mal sagen: „Das war’s. Jetzt muss ich dir nicht mehr ver­ge­ben.“ Wer zählt, hat nicht wirk­lich ver­ge­ben. Jesus unter­sagt Petrus das Zäh­len (Schlat­ter:240).

Der Ziel­punkt Jesu ist ein­deu­tig. Er will unbe­grenz­te Ver­ge­bung (Mai­er:154).

Das „Des­we­gen“ (ELB) in Vers 23 ver­bin­det das Gleich­nis mit den zwei ein­lei­ten­den Ver­sen. Jesus for­dert unbe­grenz­te Ver­ge­bung von sei­nen Jün­gern, das ist der Kon­text des Gleich­nis­ses. Mit die­ser Grund­la­ge im Kopf kön­nen wir nun das Gleich­nis anschauen.

Aspekt 2: Es geht um das Königreich Gottes

Des­we­gen ist es mit dem Reich der Him­mel wie mit einem König… (Mt 18,23 ELB)

Die­ser ein­lei­ten­de Satz macht klar, wor­um es in dem Gleich­nis geht: Es geht um das König­reich Got­tes. Jesus will mit dem Gleich­nis eine Lek­ti­on leh­ren dar­über, wie sein Reich funk­tio­niert. Mit ande­ren Wor­ten: Es geht dar­um, wie die Din­ge inner­halb des Herr­schafts­be­reichs Got­tes und damit ana­log auch inner­halb der Gemein­schaft Jesu funk­tio­nie­ren und ablau­fen soll­ten. Jesu Auf­for­de­rung zur Ver­ge­bung rich­tet sich also pri­mär an sei­ne Jün­ger, die ande­ren Geschwis­tern ver­ge­ben sol­len (sie­he Aspekt 6), des­halb ist in V.35 (Schlach­ter) auch die Rede vom Bru­der:

wenn ihr nicht jeder sei­nem Bru­der von Her­zen sei­ne Ver­feh­lun­gen vergebt.

Aspekt 3: Die Summe der Schuld im Gleichnis

Die Schuld­sum­me zehn­tau­send Talen­te sprengt alle nor­ma­len Vor­stel­lun­gen. Heinz Schrö­der berech­net sie auf 100 Mil­lio­nen Dena­re, wobei 1 Denar dem Tages­lohn eines Arbei­ters ent­spricht. Zum Ver­gleich: Der jähr­li­che Steu­er­ertrag für die Söh­ne des Hero­des (Archelaus, Anti­pas, Phil­ip­pus) belief sich auf neun­hun­dert Talen­te; der Tem­pel­schatz betrug nach 2 Makk 5,21 ein­tau­send­acht­hun­dert Talen­te (Mai­er:155).

Der Knecht hät­te, bei einem übli­chen Tages­lohn von einem Denar, mehr als 270.000 Jah­re arbei­ten müs­sen, um sei­ne Schuld abbe­zah­len zu kön­nen. Kein Knecht damals hat­te die Chan­ce, jemals eine sol­che rie­si­ge Sum­me anver­traut zu bekom­men und ent­spre­chend ver­lie­ren zu kön­nen. Es war ver­mut­lich mehr Geld, als damals im gesam­ten Land exis­tier­te (Withe­ring­ton:353–354).

Die­se unrea­lis­ti­sche gigan­ti­sche Sum­me deu­tet bereits dar­auf hin, dass es sich hier bei die­sem Gleich­nis um ein über­spitz­tes Bei­spiel han­delt, bei dem nicht jedes Detail wört­lich zu neh­men ist, son­dern bei dem es um die gro­ben Züge der Geschich­te geht.

Aspekt 4: Der Job des Knechts

Der Knecht (grie­chisch: dou­los) war ver­mut­lich ein Skla­ve, der als so eine Art hoher Beam­ter gedient hat, ähn­lich wie Josef als Ver­wal­ter im Haus des Poti­far gedient hat. Er stand wahr­schein­lich im Dienst des Königs und ver­wal­te­te Geld für den König oder war eine Art Steu­er­be­am­ter, der für die Ein­trei­bung der Steu­ern zustän­dig war (Snod­grass:68). Nur so ist eine solch gro­ße Schul­den­sum­me ansatz­wei­se denkbar.

Die­ser Punkt ist bedeu­tend, wenn über­legt wird, um wel­che Art an Schuld es sich im Gleich­nis han­delt. Hier ist eine Par­al­le­le zu Gene­sis 1–2 denk­bar. Gott hat die Men­schen als sei­ne Ver­wal­ter die­ser Erde ein­ge­setzt. Er will durch uns regie­ren. Er ist ein Gott, der ger­ne in Part­ner­schaft arbei­tet. Als Chris­ten soll­ten wir uns fra­gen, ob wir die­se Welt, Got­tes Schöp­fung, in sei­nem Sin­ne verwalten.

Aspekt 5: Der Fehler des Knechts

Als der ver­ge­be­ne Knecht eis­kalt sei­nen Schuld­ner, wegen sei­ner gerin­gen Schuld, ins Gefäng­nis schmei­ßen lässt, merkt jeder Leser, dass dies zutiefst wider­na­tür­lich ist. „Das kann der doch nicht machen“ oder ähn­li­che Gedan­ken kom­men beim Lesen die­ses Ver­ses (V.30) auf. Die­ses Schock-Ele­ment im Gleich­nis deu­tet dar­auf hin, dass es hier um die Poin­te des Gleich­nis­ses geht.

Die uner­mess­li­che Barm­her­zig­keit des Königs hät­te den Knecht barm­her­zig machen müs­sen, aber sein hart­her­zi­ges Ver­hal­ten zeigt, dass er die Barm­her­zig­keit des Königs nicht ver­stan­den hat.

Jesus kam, um ein Gna­den­jahr zu ver­kün­den (Lukas 4,19). Er stell­te Barm­her­zig­keit, Ver­ge­bung und Fein­des­lie­be in das Zen­trum sei­ner Leh­re. Jesus pre­dig­te einen Gott vol­ler skan­da­lö­ser Güte, der unver­dient Ver­ge­bung gewährt. Die­sen Ruf zur radi­ka­len Ver­ge­bung und selbst­lo­sen Lie­be pre­dig­te er nicht nur, son­dern demons­trier­te bei­des durch sein eige­nes Leben.

Die­se Barm­her­zig­keit Got­tes, die Jesus durch sein Leben model­lier­te, for­der­te er auch von sei­nen Jün­gern (Lukas 6,36 ELB):

Seid barm­her­zig, wie auch euer Vater barm­her­zig ist!

Jesu Weg ist der Weg der Fein­des­lie­be, der Ver­ge­bung und der selbst­lo­sen Lie­be. Jün­ger Jesu zu sein bedeu­tet, die­sem Weg Jesu zu fol­gen. Wer die Barm­her­zig­keit Got­tes erkennt, der wird barm­her­zig. Genau dar­auf spielt Jesus in Vers 33 () an:

Hät­test nicht auch du mit dei­nem Mit­knecht Erbar­men haben müs­sen, so wie ich mit dir Erbar­men hatte?

Barm­her­zig­keit wur­de nicht wahr­haf­tig emp­fan­gen, wenn sie nicht auch erwie­sen wird, denn die Barm­her­zig­keit Got­tes ver­än­dert. Wenn die Barm­her­zig­keit Got­tes nicht das Herz ver­än­dert, dann wur­de sie nicht ver­stan­den und ange­nom­men. Auch wenn die­ser ein­präg­sa­me Satz sicher­lich nicht all­ge­mein­gül­tig ist, ent­hält er doch eini­ges an Wahrheit:

For­gi­ve­ness not shown is for­gi­ve­ness not known (Ver­ge­bung, die nicht gezeigt wird, ist Ver­ge­bung, die nicht ver­stan­den wur­de.) (Snodgrass:75).

Aspekt 6: Der Mitknecht

Der Mit­knecht bit­tet den Schuld­ner um Geduld. Er will sei­ne (ver­gleichs­wei­se klei­ne) Schuld abbe­zah­len. Hier geht es um eine Per­son, die reu­mü­tig ist und Din­ge wie­der in Ord­nung brin­gen will, aber es aktu­ell nicht kann. 

Der Kon­text des Kapi­tels ist der Umgang von Jün­gern Jesu unter­ein­an­der (sie­he Aspekt 2). Damit geht es in dem Gleich­nis pri­mär um Jün­ger Jesu, die die gewal­ti­ge Ver­ge­bung Got­tes erfah­ren haben, aber nicht bereit sind, ihren Geschwis­tern zu ver­zei­hen, selbst wenn die­se ernst­haft um Ver­zei­hung bitten. 

Dass das Gleich­nis auch für Nicht­gläu­bi­ge als War­nung die­nen soll, auf die Gna­de Got­tes zu reagie­ren, ist sicher rich­tig, aber das ist nicht das pri­mä­re The­ma die­ses Gleichnisses.

Aspekt 7: Ist Gott wie der König im Gleichnis?

Und sein Herr wur­de zor­nig und über­lie­fer­te ihn den Fol­ter­knech­ten (Mt 18,34 ELB).

Und jeder, der nicht ver­zeiht, wird Got­tes Zorn zu spü­ren bekom­men. Gott wird jeden, der nicht bereit ist zu ver­ge­ben, ewig­lich den Fol­ter­knech­ten in der Höl­le über­ge­ben.“ So oder ähn­lich kann man Vers 34 von man­chen Kan­zeln hören. Das Gleich­nis wird auf die Moral mini­miert: Ver­zeih, oder sonst kannst du etwas erle­ben! Die­se Aus­le­gung basiert vor­wie­gend auf Mt 18,35, wo es ja spe­zi­fisch heißt, dass der himm­li­sche Vater so han­deln wird wie der König. 

Wie bereits erwähnt, der Kon­text des Gleich­nis­ses muss beach­tet wer­den. Die ein­lei­ten­de Bot­schaft ist Jesu Auf­ruf zur unbe­grenz­ten Ver­ge­bung. Hier im Gleich­nis wirkt es aber eher so, als wür­de Gott ein­mal eine gigan­ti­sche Schuld ver­ge­ben, wer dann jedoch nicht spornt und ver­zeiht, der kann sich auf etwas gefasst machen.

Ist das so gemeint? For­dert Jesus von sei­nen Jün­gern unbe­grenz­te Ver­ge­bung, aber pre­digt einen Gott, des­sen Gna­de zu einem Ende kommt, wenn wir unse­ren Geschwis­tern nicht vergeben?

Zählt das große Bild oder jedes Detail?

Die­se Gedan­ken füh­ren zu einer fun­da­men­tal wich­ti­gen Regel der Gleich­nis-Aus­le­gung. Gleich­nis­se sind auf der Rea­li­tät auf­ge­baut, die sie abbil­den wol­len. Das bedeu­tet, dass nicht jedes Detail des Gleich­nis­ses eine Wahr­heit ver­mit­teln soll, son­dern das Gesamt­bild des Gleich­nis­ses soll eine wich­ti­ge Bot­schaft kom­mu­ni­zie­ren (Snod­grass:68).

Die­ses Gleich­nis wird in gro­ben und über­trie­be­nen Zügen erzählt. Es han­delt sich um ein absicht­lich über­trie­be­nes Sze­na­rio, wel­ches die Aus­sa­ge Jesu gegen­über Petrus über unbe­grenz­te Ver­ge­bung ver­deut­li­chen soll. Pro­ble­ma­tisch wird es, wenn wir die­se ein­fa­che Geschich­te mit ihren breit gemal­ten Kon­tu­ren neh­men und begin­nen, jedes win­zi­ge Detail zu durch­fors­ten wie ein Anwalt, der das Klein­ge­druck­te liest.

Es ist gefähr­lich, Gleich­nis­se so zu lesen, als ob sie Glei­chun­gen wären, als ob jeder Teil des Gleich­nis­ses ein Spie­gel der Wirk­lich­keit ist. Gleich­nis­se sind kei­ne Glei­chun­gen, und des­halb geht es bei der Aus­le­gung von Gleich­nis­sen auch nicht dar­um, Ent­spre­chun­gen auf­zu­lis­ten oder dar­um, jedes Echo einer Theo­lo­gie aufzuspüren.

Fee & Stuart erklä­ren, dass die meis­ten Gleich­nis­se Wit­zen ähneln (:182). Ein Witz hat eine Poin­te, und wer die Poin­te ver­steht, ver­steht auch den Witz. So ist es auch mit den Gleich­nis­sen. Vie­le Gleich­nis­se hat­ten eine Poin­te, und wer die Poin­te ver­stand, ver­stand auch die Bedeu­tung des Gleich­nis­ses. Wer ver­sucht, jedes Detail eines Gleich­nis­ses geist­lich zu deu­ten, kann dabei die Poin­te des Gleich­nis­ses verpassen.

Die Poin­te in die­sem Gleich­nis, wel­che klar wird durch das scho­ckie­ren­de Ele­ment, ist die Unbarm­her­zig­keit des Schuld­ners im Lich­te der Barm­her­zig­keit, die er erfah­ren hat. Dar­um geht es. Solch ein Ver­hal­ten passt nicht in das König­reich Jesu.

Wie können wir unterscheiden, welche Teile eines Gleichnisses übertragbar sind und welche nicht?

Bei Gleich­nis­sen gibt es immer Tei­le, die über­tra­gen wer­den kön­nen und Tei­le, die nie dafür gedacht waren. Die Beur­tei­lung, wel­che Tei­le eines Gleich­nis­ses über­trag­bar sind und wel­che nicht, kann nur gelin­gen mit einem Blick auf den Kon­text der gesam­ten Bibel.

Es ist gut, die Bibel mit­hil­fe der Bibel aus­zu­le­gen. Wel­che Gleich­nis-Tei­le stim­men damit über­ein, was woan­ders in der Bibel offen­bart wur­de. Und wel­che Tei­le sind unver­ein­bar mit dem direk­ten Kon­text der jewei­li­gen Stel­le oder ande­ren Ver­sen in der Bibel.

Ist Gott nun genauso wie der König in dem Gleichnis oder nicht?

Ja und nein.

Ja, Gott ver­zeiht genau­so groß­zü­gig wie der König. Ja, Gott lässt Unge­rech­tig­keit nicht das letz­te Wort haben, son­dern er wird für Gerech­tig­keit sor­gen. Ja, wenn wir nicht ver­ge­ben, dann wird das Kon­se­quen­zen haben (sie­he Aspekt 8).

Nein, Gott bestraft Kin­der (Mt 18,25) nicht für die Schuld ihrer Väter (Hes 18,20). Nein, Gott weiß bereits alles, was es zu wis­sen gibt und benö­tigt nie­man­den, der ihm neue Infor­ma­tio­nen zuspielt (Mt 18,29). Nein, ich den­ke nicht, dass Gott eine Fol­ter­kam­mer hat, in der er Chris­ten fol­tern lässt, die nicht ver­ge­ben haben (Mt 18,34). 

Aspekt 8: Die Strafe

Der eine oder ande­re hat viel­leicht jetzt bei mei­nem letz­ten Satz geschluckt. Wider­spricht Vers 35 nicht genau die­ser Aussage?

Auf den ers­ten Blick scheint Vers 35 genau das zu bestä­ti­gen, dass Gott jeden, der nicht bereit ist zu ver­ge­ben, ewig­lich den Fol­ter­knech­ten übergibt:

So wird auch mein himm­li­scher Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder sei­nem Bru­der von Her­zen vergebt.

Der Abschnitt (Mt 18,21–35) endet mit die­sem erklä­ren­den Kom­men­tar, wel­ches, laut eini­gen Theo­lo­gen, even­tu­ell von Mat­thä­us ergänzt wur­de. Die ent­schei­den­de Fra­ge ist, was genau mit die­sem Vers gemeint ist!

Zuerst ist es wich­tig, die­se ein­dring­li­che War­nung Jesu ernst zu neh­men. Erstaun­li­che Ver­ge­bung bringt auch gro­ße Ver­ant­wor­tung mit sich. Das Gleich­nis macht klar, dass feh­len­de Bereit­schaft zur Ver­ge­bung dra­ma­ti­sche Kon­se­quen­zen haben wird. Aber was sind die­se Konsequenzen? 

Ist damit gemeint, dass Gott alle ewig in der Höl­le fol­tern las­sen wird, die nicht bereit sind zu ver­ge­ben? Aus fol­gen­den zwei Grün­den, wür­de ich vor­schla­gen, dass die­ses Detail (die Fol­ter­knech­te) des Gleich­nis­ses nicht eins zu eins über­tra­gen wer­den sollte.

1) Der Kon­text des Gleichnisses

Der Kon­text ist Jesu Auf­for­de­rung an sei­ne Jün­ger, ihren Geschwis­tern zu ver­ge­ben. Wenn die ange­deu­te­te Stra­fe tat­säch­lich ewi­ge Fol­ter ist, dann wür­de das bedeu­ten, dass Chris­ten, die ihren Geschwis­tern nicht ver­ge­ben, ihre Erlö­sung ver­lie­ren. Ob dies mit der bibli­schen Leh­re ver­ein­bar ist, sprengt den Rah­men die­ses Arti­kels und muss wohl jeder für sich selbst prü­fen. Im Grun­de wird die neue Natur mit der Bereit­schaft zu ver­ge­ben, (da sie ja Ver­ge­bung emp­fan­gen hat,) mit dem Wesen der alten Natur (Unver­ge­ben­heit und unge­recht­fer­tig­ter Zorn) bewusst von Jesus in einen Wider­spruch gestellt. Es ist aber auch nicht das ein­zi­ge Para­do­xon, was in der Schrift exis­tiert und for­dert uns zu einem Leben in der Gemein­schaft mit Gott auf. 

2) Die Stra­fe ist begrenzt und nicht ewig

Ein wei­te­res wich­ti­ges Detail für die Aus­le­gung fin­det sich im zwei­ten Teil von Vers 34 (ELB):

Und sein Herr wur­de zor­nig und über­lie­fer­te ihn den Fol­ter­knech­ten, bis er alles bezahlt habe, was er ihm schul­dig war.

Die Stra­fe ist im Gleich­nis nicht ewig. Die Stra­fe ist zeit­lich begrenzt: bis alles abbe­zahlt ist (was zuge­ge­ben eine lan­ge Wei­le dau­ern kann). Die­ses Detail ist wich­tig. Die­ser klei­ne Neben­satz deu­tet an, dass es hier nicht um ewi­ge Fol­ter in der Höl­le geht. 

Die­ser Teil des Gleich­nis­ses ist der Grund, wes­halb man­che katho­li­sche Theo­lo­gen die­ses Gleich­nis als bibli­sche Grund­la­ge für das Fege­feu­er ver­ste­hen. Sie sehen die­se zeit­lich begrenz­te Stra­fe als eine rea­le und schmerz­haf­te Zeit der Rei­ni­gung und Bestra­fung, bis „der Preis bezahlt“ ist und das Recht wie­der­her­ge­stellt ist. 

Wenn Vers 34 nicht wörtlich zu verstehen ist, wie kann Vers 35 dann verstanden werden?

Manch­mal sind die Ele­men­te eines Gleich­nis­ses nicht nur dazu da, die Zuhö­rer zur Wahr­heit zu über­re­den, son­dern viel­mehr, um sie zur Wahr­heit zu scho­ckie­ren, und das ist hier der Fall. Das Anlie­gen der Geschich­te ist ein zwei­fa­ches: die Not­wen­dig­keit von Barm­her­zig­keit und Ver­ge­bung und die Schwe­re jedes Ver­säum­nis­ses, Barm­her­zig­keit und Ver­ge­bung zu zei­gen (Snod­grass:73).

Dass der Mann den Fol­te­rern aus­ge­lie­fert wird, bis alles bezahlt ist, passt zum natür­li­chen Ver­lauf der Geschich­te im dama­li­gen kul­tu­rel­len Kon­text. Die­ser Aus­gang der Geschich­te war, was die Zuhö­rer von einem dama­li­gen König erwar­tet hätten.

Die ein­dring­li­che Spra­che betont die Schwe­re der unter­las­se­nen Barm­her­zig­keit und die Rea­li­tät des Gerichts, soll­te aber nicht wört­lich ver­stan­den wer­den. Gott hat kei­ne Fol­ter­knech­te, und die­ses Gleich­nis soll­te nicht dazu gezwun­gen wer­den, Aus­kunft über das Wesen des Gerichts zu geben.

Auch wenn die Details der Stra­fe nicht über­trag­bar sind, bleibt doch der Grund­satz bestehen, dass die Ver­wei­ge­rung von Ver­ge­bung Kon­se­quen­zen haben wird (Mt 6,14; Jak 2,13).

Wie passt dies mit der unbegrenzten Vergebung Gottes zusammen?

Jesus ist das Lamm, das die Schuld der Welt weg­ge­tra­gen hat (Joh 1,29; 1 Joh 2,1–2). Er hat das Löse­geld für alle Men­schen bezahlt (1 Tim 2,6). Das Schuld­pro­blem ist von Got­tes Sei­te aus gelöst. Er ver­gibt nicht nur ein­mal, nein, sei­ne Ver­ge­bung steht uns immer zur Ver­fü­gung. Wie der Vater im Gleich­nis vom ver­lo­re­nen Sohn kommt er uns immer mit offe­nen Armen ent­ge­gen, wenn wir Buße tun und zu ihm umkehren.

Wer nicht ver­zeiht, dis­qua­li­fi­ziert sich selbst vom König­reich Got­tes. Gott lässt nie­man­den in sein König­reich, der nicht wahr­lich Buße getan und Jesus zum Herrn gemacht hat. Das wäre wie einen Wolf in einen Schaf­stall zu las­sen. Des­halb wird im Neu­en Tes­ta­ment immer wie­der betont, dass Sün­der nicht ins König­reich kom­men kön­nen (1 Kor 6,9–10; Gal 5,21).

In Römer 1,18–23 defi­niert Pau­lus den Zorn Got­tes drei­mal (Vers 24, 26, 28) als eine Aus­lie­fe­rung der Men­schen an die Kon­se­quen­zen ihrer eige­nen Wün­sche und Taten. Got­tes Ver­ge­bung ist unbe­grenzt, aber er zwingt sich nicht auf, son­dern über­gibt (so wie der König den Schuld­ner dem Fol­ter­knecht über­gab) die Men­schen, die ihn und sei­nen Weg der Lie­be und Ver­ge­bung ableh­nen, ihrem eige­nen zer­stö­re­ri­schen Schicksal.

Die irdische Konsequenz

Unge­klär­te Bezie­hun­gen und Unver­ge­ben­heit füh­ren zu Hass und Bit­ter­keit. Die Ent­schei­dung nicht zu ver­ge­ben gleicht der Ent­schei­dung, eine Fla­sche Gift zu trin­ken. Wer nicht ver­zeiht, wird lei­der all­zu oft ein Gefan­ge­ner von Bit­ter­keit und Hass. Dies bringt all­zu oft unsag­ba­res Leid über gan­ze Fami­li­en, Freun­des­krei­se und Gemein­den. Genau davor warnt Jesus. Des­halb ist der Weg sei­nes König­reichs der Weg der Ver­ge­bung und der Fein­des­lie­be. Wer von der Unver­ge­ben­heit nicht los­lässt, der ist sprich­wört­lich ein Gefan­ge­ner und beginnt dem­nach schon jetzt den Preis sei­ner Unver­ge­ben­heit zu bezahlen.

Vergebung Corrie Ten Boom

Eine eschatologische Konsequenz

Die Inten­si­tät der Spra­che im Gleich­nis deu­tet an, dass die ange­kün­dig­te Stra­fe nicht nur eine irdi­sche Sei­te hat, son­dern eben­falls escha­to­lo­gi­sche Kon­se­quen­zen hat. Wie die­se (nicht ewi­ge) Kon­se­quenz für Gläu­bi­ge, die ihren Glau­bens­ge­schwis­tern nicht ver­ge­ben, aus­sieht, kön­nen wir nur ver­mu­ten. Es passt defi­ni­tiv nicht zu ihrem neu­en Wesen. Gott wird eines Tages für Recht sor­gen und das wird schmerz­haft sein für alle, die sich wei­gern, das Unrecht zu kor­ri­gie­ren, das sie ver­ur­sacht haben.

Fazit

Wer Got­tes unfass­ba­re Barm­her­zig­keit wahr­lich erfah­ren hat, der wird natür­li­cher­wei­se eben­falls barm­her­zig sein und groß­zü­gig ver­ge­ben. Der Weg des König­reichs Got­tes ist der Weg der Barm­her­zig­keit, wel­che in unbe­grenz­ter Ver­ge­bung prak­tisch wird. Wer das Maß der erfah­re­nen Ver­ge­bung Got­tes ver­steht, aber trotz­dem die­se Ver­ge­bung nicht den eige­nen Schuld­nern gewährt (beson­ders Glau­bens­ge­schwis­tern), scha­det sich selbst und dis­qua­li­fi­ziert sich vom Reich Gottes.

Wie bereits in Aspekt 6 erwähnt, soll­te nicht ver­ges­sen wer­den, dass sich das Gleich­nis pri­mär auf Situa­tio­nen bezieht, in denen die schul­di­ge Per­son den Miss­stand besei­ti­gen will und Ver­söh­nung erbit­tet. Jemand, der Böses tut und dazu steht, wird in die­sem Gleich­nis nicht offi­zi­ell ein­ge­schlos­sen. Wer Opfer einer Mis­se­tat gewor­den ist, wird an ande­rer Stel­le dazu geru­fen, die Sache vor Gott zu brin­gen und „die Rache“ ihm zu über­las­sen (Röm 12,19). Aber wer es schafft selbst das Unver­zeih­li­che zu ver­ge­ben, wird gro­ße inne­re Frei­heit fin­den, wie vie­le Geschich­ten bele­gen (z. B. Richard Wurm­brand, Cor­rie ten Boom).

Die Bot­schaft die­ses Gleich­nis­ses wird in unse­rer heu­ti­gen Zeit drin­gend benö­tigt, in der die Men­schen auf ihre Rech­te bestehen. Die Leh­re des Gleich­nis­ses wider­spricht dem Zeit­geist, aber sie ist viel­leicht der ein­dring­lichs­te Aus­druck dafür, wie Chris­ten leben soll­ten. Das christ­li­che Leben – statt auf die eige­nen Rech­te zu bestehen – soll­te ein stän­di­ges Gewäh­ren von Barm­her­zig­keit und Ver­ge­bung sein und dadurch Got­tes eige­nen Cha­rak­ter widerspiegeln.

Wenn Ihnen beim Lesen eine Bezie­hung in den Kopf gekom­men ist, in der noch Ver­ge­bung aus­steht, dann neh­men Sie die­sen Hin­weis des Hei­li­gen Geis­tes ernst und reagie­ren Sie auf die Wor­te Jesu. Jesus for­dert sei­ne Jün­ger auf, so barm­her­zig zu sein, wie auch der Vater barm­her­zig ist (Lukas 6,36). Wenn ich über­le­ge, wie viel Gott mir ver­ge­ben hat, dann mer­ke ich, wie viel auch ich Grund habe immer wie­der zu ver­ge­ben. So ende ich mit den Wor­ten von C.S. Lewis:

Vergebung C S Lewis

Bibliografie

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Mai­er, Ger­hard. Das Evan­ge­li­um des Mat­thä­us: Kapi­tel 15–28. Her­aus­ge­ge­ben von Ger­hard Mai­er u. a., SCM R. Brock­haus; Brun­nen Ver­lag, 2017.

Schlat­ter, Adolf. Das Evan­ge­li­um nach Mat­thä­us: Aus­ge­legt für Bibel­le­ser. Zwei­te Auf­la­ge, Bd. I, Evan­ge­li­sche Ver­lags­an­stalt, 1954.

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Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine 4 Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, dann liebt er es theologische Bücher in seiner freien Zeit zu lesen, zu fotografieren oder seine Logos-Bücherei zu erweitern. Aktuell studiert er nebenher an der Akademie für Weltmission in Korntal und hofft 2023 sein MA-Studium zu beenden. Er ist der Autor von dem beliebten Kinderbuch „Der große Sieg“.

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