Einleitung und Schluss in neutestamentlichen Briefen

Von Julian Friesen

September 26, 2019

Erhal­ten Sie auch manch­mal Brie­fe mit einer fal­schen Anre­de? Immer wie­der kommt es vor, dass ich Brie­fe oder E‑Mails mit der Anre­de „Sehr geehr­te Frau Frie­sen“ erhal­te. Was ist das Pro­blem? Ich bin nicht Frau Frie­sen, son­dern Herr Frie­sen. Wahr­schein­lich hat der Absen­der mei­nen Vor­na­men nur flüch­tig gele­sen und aus Juli­an wur­de gedank­lich Julia oder Julia­ne und somit schrift­lich Frau Frie­sen. Kann mir aber auch egal sein, da mich nicht die Ein­lei­tung, son­dern der Inhalt des Brie­fes inter­es­siert und der steht nun­mal im Haupt­teil. Ein­lei­tun­gen in Brie­fe sind immer Form­sa­che, oder?

Die Ein­lei­tun­gen von Pau­lus und ande­ren Schrei­bern der neu­tes­ta­ment­li­chen Brie­fe wer­den all­zu oft über­le­sen, um mög­lichst schnell zu den „wirk­lich wich­ti­gen“ Inhal­ten vor­zu­drin­gen. Auch die Schlüs­se wer­den sel­ten im Detail betrach­tet, da bereits das nächs­te Bibel­buch auf das Lesen und Stu­die­ren war­tet oder wie­der etwas Abwechs­lung in die Stil­le Zeit kom­men soll. Doch der berühm­te Bibel­vers aus 2. Timo­theus 3,16: „Alle Schrift ist von Gott ein­ge­ge­ben…“ gilt nicht nur für die Haupt­tei­le der Brie­fe, son­dern auch für deren Ein­lei­tun­gen und Schlüsse.

Aufbau von Briefen heute

Was uns heu­ti­ge Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se von Brie­fen oder E‑Mails öde erschei­nen lässt, ist ihre ein­heit­li­che Struktur:

  1. Ein­lei­tung
    1. Betreff
    2. Anre­de
  2. Haupt­teil
  3. Schluss
    1. Gruß
    2. Unter­schrift

Sehr geehr­te Damen und Her­ren“ über­flie­gen wir genau­so häu­fig wie „Mit freund­li­chen Grü­ßen“, wo sich jeweils nur die ein­ge­tra­ge­nen Namen und even­tu­ell die Titel unterscheiden.

Briefe zur Zeit des Neuen Testaments

Auch in den bibli­schen Brie­fen, die vor knapp 2000 Jah­ren geschrie­ben wur­den, gibt es eine ein­heit­li­che Struk­tur. Sie unter­schei­det sich etwas von der heutigen:

  1. Ein­lei­tung
    1. Prä­skript
      1. Absen­der
      2. Emp­fän­ger
      3. Ein­gangs­gruß
    2. Pro­ömi­um
      1. Dank­sa­gung
      2. Brief­li­che Selbstempfehlung
  2. Haupt­teil (Brief­kor­pus)
  3. Schluss
    1. Epi­log
      1. Mah­nun­gen
      2. Anga­ben über Reisepläne
      3. Segens­wunsch
      4. Bit­te um Für­bit­te der Gemeinde
    2. Post­skript (Ermah­nun­gen, Grü­ße, Segen)
      1. Auf­trag an die Empfänger
        1. Gruß ande­rer Gemeindeglieder
        2. Über­mitt­lung von Grü­ßen anderer
      2. Gruß des Absen­ders (Escha­to­koll)

Die meis­ten Ver­fas­ser der neu­tes­ta­ment­li­chen Brie­fe hiel­ten sich min­des­tens teil­wei­se an die­se Vorgaben.

Anders als heu­te, wo der Name des Absen­ders erst am Ende des Brie­fes genannt wird, nann­ten die Ver­fas­ser der dama­li­gen Zeit ganz zu Anfang den Namen des Absen­ders und des Emp­fän­gers. Im Prä­skript wur­de sich dabei stark an die vor­ge­ge­be­ne Struk­tur gehal­ten. Ein typi­sches Bei­spiel für eine Ein­lei­tung in einen Pau­lus­brief fin­den wir in Titus 1,1–4: „Pau­lus, […] Titus […]: Gna­de und Frie­de von Gott, dem Vater, und von Chris­tus Jesus […]!“

Pro­ömi­um, Epi­log und Post­skript vari­ie­ren hin­ge­gen stark pro Brief. Ein wie­der­erkenn­ba­res Merk­mal bie­ten hier höchs­tens die pau­li­ni­schen Brie­fe, die oft ähn­lich klin­gen. Als Bei­spiel könn­te man 2. Thes­sa­lo­ni­cher 5,18 nen­nen: „Die Gna­de unse­res Herrn Jesus Chris­tus sei mit euch allen!“

Kleine Ursache, große Wirkung

Unikate statt Duplikate

Heu­ti­ge Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se in Brie­fen und E‑Mails unter­schei­den sich in den meis­ten Fäl­len nur in den genann­ten Namen und even­tu­el­len Titeln und sind des­halb unin­ter­es­sant. Aber in der Bibel gibt es kei­ne sol­che Dupli­ka­te. Es gibt immer gro­ße oder klei­ne Unter­schie­de über die Namen hin­aus, die die jewei­li­gen Ver­se zu Uni­ka­ten machen. Nütz­li­che Fra­gen an Ein­lei­tun­gen sind z.B.: 

  • Wie stellt sich der Ver­fas­ser vor? 
  • Wie beschreibt er sich und sei­nen Auftrag? 
  • Bezeich­net er sich bloß als Knecht oder aber auch als Apos­tel? Warum? 
  • Wie beschreibt er den/​die Adressaten? 
  • Wor­in unter­schei­det sich der Gruß im Ver­gleich zu den ande­ren Brie­fen des glei­chen Ver­fas­sers, viel­leicht sogar an den/​die glei­chen Adressaten?

Beispiel: Einleitung in den Titusbrief

Der auf­merk­sa­me Leser wird bemerkt haben, dass ich nicht die gesam­te Ein­lei­tung aus Titus 1,1–4 zitiert, son­dern ein paar Aus­las­sun­gen ([…]) gemacht habe. Und genau da liegt der Hund begra­ben. Das voll­stän­di­ge Zitat lau­tet: „Pau­lus, Knecht Got­tes, aber Apos­tel Jesu Chris­ti nach dem Glau­ben der Aus­er­wähl­ten Got­tes und nach der Erkennt­nis der Wahr­heit, die der Got­tes­furcht gemäß ist, in der Hoff­nung des ewi­gen Lebens – das Gott, der nicht lügt, vor ewi­gen Zei­ten ver­hei­ßen hat; zu sei­ner Zeit aber hat er sein Wort offen­bart durch die Pre­digt, die mir nach Befehl unse­res Ret­ter-Got­tes anver­traut wor­den ist -, Titus, mei­nem ech­ten Kind nach dem gemein­sa­men Glau­ben: Gna­de und Frie­de von Gott, dem Vater, und von Chris­tus Jesus, unse­rem Retter!“ 

Pau­lus nennt dar­in also nicht nur sei­nen Namen, son­dern auch 1) sei­ne Stel­lung vor Gott als Knecht und 2) sei­ne Stel­lung vor der Gemein­de als Apos­tel. Mit „Knecht Got­tes“ reiht sich Pau­lus selbst bei den Patri­ar­chen des Alten Tes­ta­ments ein, denn auch Mose, Abra­ham, Isaak, Jakob, Josua und David wur­den „Knech­te Got­tes“ genannt. Außer­dem macht er damit sei­ne Abhän­gig­keit und sei­ne Beweg­grün­de klar – es ist nicht sein eige­ner, son­dern Got­tes Wil­le, dass er die­sen Brief schreibt. „Apos­tel“ betont Pau­lus’ die von Gott gege­be­ne Auto­ri­tät und nimmt sei­nen Geg­nern, die den Auf­for­de­run­gen des Brie­fes wider­spre­chen könn­ten, zusätz­lich den Wind aus den Segeln. Und das war erst eine kur­ze Aus­le­gung der ers­ten Hälf­te des ers­ten von vier Ver­sen der Ein­lei­tung in den Titus­brief. Ähn­lich reich­hal­ti­ge Resul­ta­te kön­nen wir von den Schlüs­sen erwarten.

Nutzen für das Studium des ganzen Briefes

Doch Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se loh­nen sich nicht nur um ihrer selbst wil­len. Eine genaue Betrach­tung die­ser Tex­te lohnt sich auch für das Stu­di­um des Hauptteils.

Wäh­rend mei­nes Bibel­stu­di­ums über einen bestimm­ten Abschnitt stel­le ich mir immer fol­gen­de 10 W‑Fragen zum his­to­ri­schen Kon­text des ent­spre­chen­den Bibel­buchs, in dem der Abschnitt steht:

Fra­ge Erläu­te­rung 
Wer? Fra­ge nach dem Verfasser 
Wo? Fra­ge nach dem Ort, wo das Bibel­buch ver­fasst wurde 
Wem? Fra­ge nach dem Adressaten 
Wohin? Fra­ge nach dem Ort, wohin das Buch gesandt wurde 
Wel­che Beziehung? Fra­ge nach der Bezie­hung zwi­schen Ver­fas­ser und Adressaten 
Wann? Fra­ge nach dem Zeit­punkt bzw. dem Jahr der Verfassung
Wie? Fra­ge nach der Art und Wei­se des Trans­ports von Ver­fas­ser zu Adressaten 
Was? Fra­ge nach dem Inhalt 
War­um? Fra­ge nach dem Grund für den Inhalt 
Wozu? Fra­ge nach dem Ziel des Inhalts bzw. der Inten­ti­on des Verfassers 

Die­se Fra­gen beein­flus­sen ganz wesent­lich die Aus­le­gung des gesam­ten Buches. Und wäh­rend es in vie­len Büchern der Bibel eher schwie­rig ist, die Ant­wor­ten direkt im Text zu fin­den, ste­hen in Brie­fen die meis­ten Ant­wor­ten dazu – zumin­dest ansatz­wei­se – in der Ein­lei­tung (häu­fig beant­wor­te­te Fra­gen: Wer? Wem? Wohin? Wel­che Bezie­hung? Was?) und im Schluss (häu­fig beant­wor­te­te Fra­gen: Wer? Wo? Wel­che Bezie­hung? Wann? Wie?).

Beispiel: Einleitung in den Titusbrief

Allein Titus 1,1–4 beant­wor­tet ansatz­wei­se 6 von den 10 genann­ten Fra­gen. Stich­punkt­ar­tig könn­te man die Fra­gen so beant­wor­ten: Wer? Pau­lus. Wem? Titus. Wel­che Bezie­hung? Titus ist Pau­lus’ ech­tes Kind im Glau­ben (Vgl. Timo­theus). Was? Glau­be, Erkennt­nis. War­um? Hoff­nung auf ewi­ges Leben. Wozu? Gottesfurcht.

Beim Stu­di­um des gesam­ten Brie­fes fällt auf, dass die Ein­lei­tung eine Über­sicht über alle ent­hal­te­nen The­men des Brie­fes ent­hält. Und das ist kein Einzelfall.

Übersicht zu den neutestamentlichen Briefen

Eine gro­be Über­sicht der Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se der neu­tes­ta­ment­li­chen Brie­fe ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Brief Prä­skript Pro­ömi­um Epi­logPost­skript 
Römer 1,1–7 1,8–15 15,14–33 16,1–27 
1. Korin­ther 1,1–3 1,4–9 16,5–18 16,19–24 
2. Korin­ther 1,1–2 1,3–11 12,19–13,10 13,11–13 
Gala­ter 1,1–5 6,11–17.18 
Ephe­ser 1,1–2 1,3–14 6,21–22 6,23–24 
Phil­ip­per 1,1–2 1,3–11 4,21–23 
Kolos­ser 1,1–2 1,3–14 4,7–17 4,18 
1. Thes­sa­lo­ni­cher 1,1 1,2–10 5,23–28 
2. Thes­sa­lo­ni­cher 1,1–2 1,3–12 3,1–15 3,16–18 
1. Timo­theus 1,1–2 6,20–21 
2. Timo­theus 1,1–2 1,3–14 4,9–18 4,19–22 
Titus 1,1–4 3,12–14 3,15 
Phi­le­mon 1–3 4–7 22 23–24 
Hebrä­er unty­pisch 13,18–23 13,24–25 
Jako­bus 1,1 
1. Petrus 1,1–2 1,3–12 5,10–12 5,13–14 
2. Petrus 1,1–2 -??? 
1. Johan­nes unty­pisch 
2. Johan­nes 1–3 12 13 
3. Johan­nes 1–2 13–14 15 
Judas 1–2 

Beson­ders Epi­log und Post­skript sind oft schwie­rig abzu­gren­zen, wes­halb ande­re Tabel­len evtl. ande­re Ein­tei­lun­gen beschreiben.

Motivation

Das ernst­haf­te Stu­di­um des Wor­tes Got­tes ist immer ein Gewinn! Unab­hän­gig von der Lite­ra­tur­gat­tung und ‑form, egal ob AT oder NT. Denn: „Alle Schrift ist von Gott ein­ge­ge­ben…“ Mein Ziel ist es nicht, Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se von neu­tes­ta­ment­li­chen Brie­fen über den Rest zu stel­len, son­dern deren Rele­vanz auf­zu­zei­gen. Sie sol­len nicht über­le­sen, son­dern, wie auch alle ande­ren Tex­te, genau gele­sen und stu­diert wer­den. Es lohnt sich auf jeden Fall.

In einem wei­te­ren Arti­kel zei­gen ich Ihnen wie Sie in Logos aus den 10 W‑Fragen einen Assis­ten­ten erstel­len kön­nen. Damit kön­nen Sie effek­tiv alle Brie­fe des Neu­en Tes­ta­ments stu­die­ren und Ihre Ant­wor­ten immer griff­be­reit haben.


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Julian Friesen

Über den Autor

Julian Friesen ist leidenschaftlicher Hobbytheologe, glücklicher Ehemann und Mitglied in der Bibelgemeinde Minden e.V. Er bevorzugt analytisches Vorgehen im Bibelstudium und sein Interesse gilt besonders der Hermeneutik.

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