Erhalten Sie auch manchmal Briefe mit einer falschen Anrede? Immer wieder kommt es vor, dass ich Briefe oder E‑Mails mit der Anrede „Sehr geehrte Frau Friesen“ erhalte. Was ist das Problem? Ich bin nicht Frau Friesen, sondern Herr Friesen. Wahrscheinlich hat der Absender meinen Vornamen nur flüchtig gelesen und aus Julian wurde gedanklich Julia oder Juliane und somit schriftlich Frau Friesen. Kann mir aber auch egal sein, da mich nicht die Einleitung, sondern der Inhalt des Briefes interessiert und der steht nunmal im Hauptteil. Einleitungen in Briefe sind immer Formsache, oder?
Die Einleitungen von Paulus und anderen Schreibern der neutestamentlichen Briefe werden allzu oft überlesen, um möglichst schnell zu den „wirklich wichtigen“ Inhalten vorzudringen. Auch die Schlüsse werden selten im Detail betrachtet, da bereits das nächste Bibelbuch auf das Lesen und Studieren wartet oder wieder etwas Abwechslung in die Stille Zeit kommen soll. Doch der berühmte Bibelvers aus 2. Timotheus 3,16: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben…“ gilt nicht nur für die Hauptteile der Briefe, sondern auch für deren Einleitungen und Schlüsse.
Inhalt
Aufbau von Briefen heute
Was uns heutige Einleitungen und Schlüsse von Briefen oder E‑Mails öde erscheinen lässt, ist ihre einheitliche Struktur:
- Einleitung
- Betreff
- Anrede
- Hauptteil
- Schluss
- Gruß
- Unterschrift
„Sehr geehrte Damen und Herren“ überfliegen wir genauso häufig wie „Mit freundlichen Grüßen“, wo sich jeweils nur die eingetragenen Namen und eventuell die Titel unterscheiden.
Briefe zur Zeit des Neuen Testaments
Auch in den biblischen Briefen, die vor knapp 2000 Jahren geschrieben wurden, gibt es eine einheitliche Struktur. Sie unterscheidet sich etwas von der heutigen:
- Einleitung
- Präskript
- Absender
- Empfänger
- Eingangsgruß
- Proömium
- Danksagung
- Briefliche Selbstempfehlung
- Präskript
- Hauptteil (Briefkorpus)
- Schluss
- Epilog
- Mahnungen
- Angaben über Reisepläne
- Segenswunsch
- Bitte um Fürbitte der Gemeinde
- Postskript (Ermahnungen, Grüße, Segen)
- Auftrag an die Empfänger
- Gruß anderer Gemeindeglieder
- Übermittlung von Grüßen anderer
- Gruß des Absenders (Eschatokoll)
- Auftrag an die Empfänger
- Epilog
Die meisten Verfasser der neutestamentlichen Briefe hielten sich mindestens teilweise an diese Vorgaben.
Anders als heute, wo der Name des Absenders erst am Ende des Briefes genannt wird, nannten die Verfasser der damaligen Zeit ganz zu Anfang den Namen des Absenders und des Empfängers. Im Präskript wurde sich dabei stark an die vorgegebene Struktur gehalten. Ein typisches Beispiel für eine Einleitung in einen Paulusbrief finden wir in Titus 1,1–4: „Paulus, […] Titus […]: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus […]!“
Proömium, Epilog und Postskript variieren hingegen stark pro Brief. Ein wiedererkennbares Merkmal bieten hier höchstens die paulinischen Briefe, die oft ähnlich klingen. Als Beispiel könnte man 2. Thessalonicher 5,18 nennen: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!“
Kleine Ursache, große Wirkung
Unikate statt Duplikate
Heutige Einleitungen und Schlüsse in Briefen und E‑Mails unterscheiden sich in den meisten Fällen nur in den genannten Namen und eventuellen Titeln und sind deshalb uninteressant. Aber in der Bibel gibt es keine solche Duplikate. Es gibt immer große oder kleine Unterschiede über die Namen hinaus, die die jeweiligen Verse zu Unikaten machen. Nützliche Fragen an Einleitungen sind z.B.:
- Wie stellt sich der Verfasser vor?
- Wie beschreibt er sich und seinen Auftrag?
- Bezeichnet er sich bloß als Knecht oder aber auch als Apostel? Warum?
- Wie beschreibt er den/die Adressaten?
- Worin unterscheidet sich der Gruß im Vergleich zu den anderen Briefen des gleichen Verfassers, vielleicht sogar an den/die gleichen Adressaten?
Beispiel: Einleitung in den Titusbrief
Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass ich nicht die gesamte Einleitung aus Titus 1,1–4 zitiert, sondern ein paar Auslassungen ([…]) gemacht habe. Und genau da liegt der Hund begraben. Das vollständige Zitat lautet: „Paulus, Knecht Gottes, aber Apostel Jesu Christi nach dem Glauben der Auserwählten Gottes und nach der Erkenntnis der Wahrheit, die der Gottesfurcht gemäß ist, in der Hoffnung des ewigen Lebens – das Gott, der nicht lügt, vor ewigen Zeiten verheißen hat; zu seiner Zeit aber hat er sein Wort offenbart durch die Predigt, die mir nach Befehl unseres Retter-Gottes anvertraut worden ist -, Titus, meinem echten Kind nach dem gemeinsamen Glauben: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, unserem Retter!“
Paulus nennt darin also nicht nur seinen Namen, sondern auch 1) seine Stellung vor Gott als Knecht und 2) seine Stellung vor der Gemeinde als Apostel. Mit „Knecht Gottes“ reiht sich Paulus selbst bei den Patriarchen des Alten Testaments ein, denn auch Mose, Abraham, Isaak, Jakob, Josua und David wurden „Knechte Gottes“ genannt. Außerdem macht er damit seine Abhängigkeit und seine Beweggründe klar – es ist nicht sein eigener, sondern Gottes Wille, dass er diesen Brief schreibt. „Apostel“ betont Paulus’ die von Gott gegebene Autorität und nimmt seinen Gegnern, die den Aufforderungen des Briefes widersprechen könnten, zusätzlich den Wind aus den Segeln. Und das war erst eine kurze Auslegung der ersten Hälfte des ersten von vier Versen der Einleitung in den Titusbrief. Ähnlich reichhaltige Resultate können wir von den Schlüssen erwarten.
Nutzen für das Studium des ganzen Briefes
Doch Einleitungen und Schlüsse lohnen sich nicht nur um ihrer selbst willen. Eine genaue Betrachtung dieser Texte lohnt sich auch für das Studium des Hauptteils.
Während meines Bibelstudiums über einen bestimmten Abschnitt stelle ich mir immer folgende 10 W‑Fragen zum historischen Kontext des entsprechenden Bibelbuchs, in dem der Abschnitt steht:
Frage | Erläuterung |
Wer? | Frage nach dem Verfasser |
Wo? | Frage nach dem Ort, wo das Bibelbuch verfasst wurde |
Wem? | Frage nach dem Adressaten |
Wohin? | Frage nach dem Ort, wohin das Buch gesandt wurde |
Welche Beziehung? | Frage nach der Beziehung zwischen Verfasser und Adressaten |
Wann? | Frage nach dem Zeitpunkt bzw. dem Jahr der Verfassung |
Wie? | Frage nach der Art und Weise des Transports von Verfasser zu Adressaten |
Was? | Frage nach dem Inhalt |
Warum? | Frage nach dem Grund für den Inhalt |
Wozu? | Frage nach dem Ziel des Inhalts bzw. der Intention des Verfassers |
Diese Fragen beeinflussen ganz wesentlich die Auslegung des gesamten Buches. Und während es in vielen Büchern der Bibel eher schwierig ist, die Antworten direkt im Text zu finden, stehen in Briefen die meisten Antworten dazu – zumindest ansatzweise – in der Einleitung (häufig beantwortete Fragen: Wer? Wem? Wohin? Welche Beziehung? Was?) und im Schluss (häufig beantwortete Fragen: Wer? Wo? Welche Beziehung? Wann? Wie?).
Beispiel: Einleitung in den Titusbrief
Allein Titus 1,1–4 beantwortet ansatzweise 6 von den 10 genannten Fragen. Stichpunktartig könnte man die Fragen so beantworten: Wer? Paulus. Wem? Titus. Welche Beziehung? Titus ist Paulus’ echtes Kind im Glauben (Vgl. Timotheus). Was? Glaube, Erkenntnis. Warum? Hoffnung auf ewiges Leben. Wozu? Gottesfurcht.
Beim Studium des gesamten Briefes fällt auf, dass die Einleitung eine Übersicht über alle enthaltenen Themen des Briefes enthält. Und das ist kein Einzelfall.
Übersicht zu den neutestamentlichen Briefen
Eine grobe Übersicht der Einleitungen und Schlüsse der neutestamentlichen Briefe ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Brief | Präskript | Proömium | Epilog | Postskript |
Römer | 1,1–7 | 1,8–15 | 15,14–33 | 16,1–27 |
1. Korinther | 1,1–3 | 1,4–9 | 16,5–18 | 16,19–24 |
2. Korinther | 1,1–2 | 1,3–11 | 12,19–13,10 | 13,11–13 |
Galater | 1,1–5 | - | - | 6,11–17.18 |
Epheser | 1,1–2 | 1,3–14 | 6,21–22 | 6,23–24 |
Philipper | 1,1–2 | 1,3–11 | - | 4,21–23 |
Kolosser | 1,1–2 | 1,3–14 | 4,7–17 | 4,18 |
1. Thessalonicher | 1,1 | 1,2–10 | - | 5,23–28 |
2. Thessalonicher | 1,1–2 | 1,3–12 | 3,1–15 | 3,16–18 |
1. Timotheus | 1,1–2 | - | - | 6,20–21 |
2. Timotheus | 1,1–2 | 1,3–14 | 4,9–18 | 4,19–22 |
Titus | 1,1–4 | - | 3,12–14 | 3,15 |
Philemon | 1–3 | 4–7 | 22 | 23–24 |
Hebräer | untypisch | - | 13,18–23 | 13,24–25 |
Jakobus | 1,1 | - | - | - |
1. Petrus | 1,1–2 | 1,3–12 | 5,10–12 | 5,13–14 |
2. Petrus | 1,1–2 | - | -??? | - |
1. Johannes | untypisch | - | - | - |
2. Johannes | 1–3 | - | 12 | 13 |
3. Johannes | 1–2 | - | 13–14 | 15 |
Judas | 1–2 | - | - | - |
Besonders Epilog und Postskript sind oft schwierig abzugrenzen, weshalb andere Tabellen evtl. andere Einteilungen beschreiben.
Motivation
Das ernsthafte Studium des Wortes Gottes ist immer ein Gewinn! Unabhängig von der Literaturgattung und ‑form, egal ob AT oder NT. Denn: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben…“ Mein Ziel ist es nicht, Einleitungen und Schlüsse von neutestamentlichen Briefen über den Rest zu stellen, sondern deren Relevanz aufzuzeigen. Sie sollen nicht überlesen, sondern, wie auch alle anderen Texte, genau gelesen und studiert werden. Es lohnt sich auf jeden Fall.
In einem weiteren Artikel zeigen ich Ihnen wie Sie in Logos aus den 10 W‑Fragen einen Assistenten erstellen können. Damit können Sie effektiv alle Briefe des Neuen Testaments studieren und Ihre Antworten immer griffbereit haben.