Inhalt
- Die zwölfte Höhle von Qumran
- Man ist nie zu alt für den Sandkasten…
- Der Fund in Höhle 12
- Antike Quellen bezeugen die Schriftrollenbehälter
- Gibt es eine 13. Höhle?
- Pergament, Papyri und Leinen!
- Die Schriftrollen verbinden Welten
- Das Judentum zur Zeit Jesu
- Eine neu entfachte Kontroverse
- Neue Schätze, neue Sorgen
Die zwölfte Höhle von Qumran
Von Prof. Craig A. Evans
Die bislang letzte der elf Qumran-Höhlen wurde 1956 entdeckt – elf Höhlen, in denen sich neben den berühmten Schriftrollen vom Toten Meer Keramikgefäße und einige weitere Fundstücke fanden.
Sechzig Jahre lang haben Archäologen und Plünderer nach einer zwölften Höhle gesucht. Würde eine weitere je ans Licht kommen? Die Meisten waren skeptisch. Gerade das macht die Bekanntmachung der Hebräischen Universität Jerusalem so erstaunlich: Man hat eine zwölfte Höhle gefunden!
Man ist nie zu alt für den Sandkasten…
Zu dem Team, das den Fund machte, gehörte auch der Archäologe Randall Price, der heute an der Liberty University lehrt. Eine im Jahr 1993 für kurze Zeit erkundete Höhle – Höhle 53 – weckte seine Aufmerksamkeit.
Im vergangenen Jahr erhielt Price die Genehmigung, in der Höhle Grabungen durchzuführen. Im Januar diesen Jahres machte er sich mit Oren Gutfeld, Ahiad Ovadia von der Hebräischen Universität und einigen Freiwilligen ans Werk.
Unter den Freiwilligen war auch der fünfundsechzigjährige Präsident des Museums der Bibel in Washington, Cary Summers. Die umfangreiche Sammlung von Exponaten des Bibelmuseums in der amerikanischen Hauptstadt werden der Öffentlichkeit ab November zugänglich sein.
„Man ist nie zu alt, um im Sand zu spielen”, sagte mir Summers kürzlich in einer Email. Da ich selbst Veteran zahlreicher Grabungen als Freiwilliger bin, weiß ich genau, was er meint! Und wie sich herausstellte, hatte sich Herr Summers genau die richtige Stelle als Sandkasten ausgesucht.
Der Fund in Höhle 12
Price und sein Team machten einen äußerst bedeutsamen Fund. Obwohl die Höhle, die der Archäologe und sein Team ausgruben, bereits geplündert worden war (die Plünderer hatten sogar einige Spitzhacken zurückgelassen), liefert ihre Entdeckung wichtige Erkenntnisse.
Price und seine Helfer fanden nämlich sechs Tongefäße, die große Ähnlichkeiten mit Funden aus mehreren anderen Qumran-Höhlen aufwiesen. Die Gefäße waren zu dem Zweck hergestellt, Schriftrollen darin aufzubewahren.
Dass etliche der bisher bekannten Rollen in so gutem Zustand sind, stützt die verbreitete Annahme, dass diese Gefäße tatsächlich dazu bestimmt waren. Die meisten dieser Behältnisse sind heute in Jerusalem und Betlehem ausgestellt. Zwar gibt es einige Skeptiker, aber die meisten Fachleute glauben, dass diese Tongefäße einmal viele der Schriftrollen vom Toten Meer enthielten.
Antike Quellen bezeugen die Schriftrollenbehälter
Tatsächlich gibt es sogar antike Quellen, die erwähnen, dass Keramikgefäße zu diesem Zweck benutzt wurden. So erhielt der Prophet Jeremia die Anweisung: „Nimm diese Briefe, den versiegelten Kaufbrief samt dieser offenen Abschrift, und lege sie in ein irdenes Gefäß, dass sie lange erhalten bleiben.” (Jer 32,14)
In einer apokryphen Schrift aus dem 1. Jahrhundert soll Mose eine ihm anvertraute Schrift sicher aufbewahren – ebenfalls in irdenen Gefäßen (Himmelfahrt des Mose 1,16–17).
Lange vor den Funden der Qumran-Schriftrollen am Toten Meer wurden in der Gegend antike Schriftrollen gefunden. So berichtet der Kirchenvater Eusebius im 4. Jahrhundert, dass Origenes im 3. Jahrhundert irgendwie in den Besitz einer biblischen Schriftrolle gekommen war, die man in einem Gefäß in Jericho entdeckt hatte (Kirchengeschichte 6.16.3).
Wir werden nie erfahren, ob Origenes’ Bibelhandschrift aus der antiken Sammlung stammte, die, in Teilen erhalten, zwischen 1947 und 1956 in den berühmten elf Höhlen bei Qumran aufgefunden wurde. Dennoch kann der Bericht eines Schriftrollenfunds in einem Tongefäß als Beleg eines entsprechenden antiken Brauchs dienen.
Gibt es eine 13. Höhle?
Entgegen alle Vorhersagen scheinen Price und sein Team tatsächlich eine zwölfte Höhle entdeckt zu haben – davon träumen Qumran-Fachleute seit sechzig Jahren. Und nicht nur das: Price vermutet in der Nähe der Ruinen von Qumran sogar eine dreizehnte Höhle.
Im Gegensatz zu der jetzt gefundenen Höhle 12 wäre der Eingang zu der vermuteten Höhle 13 verborgen – es wäre also gut möglich, dass auch Plünderer sie noch nicht angetastet haben. In diesem Fall bestünde sogar die Möglichkeit weiterer Textfunde!
Natürlich kommen schon seit Jahrzehnten immer wieder einmal neue Schriftrollen ans Licht. Vielfach sind sie im Besitz von Beduinen, stammen also aus der Zeit der ersten Funde in den 1940er und 1950er Jahren. Aus welchen Höhlen solche Rollen stammen, lässt sich dabei meist nicht mehr feststellen.
Pergament, Papyri und Leinen!
Gerade das macht die von Price gefundene Höhle so bedeutsam. Es steht zu erwarten, dass es sich dabei tatsächlich um eine zwölfte Qumran-Höhle handelt. Denn neben den sechs tönernen Schriftrollenbehältern fanden sich kleine Pergament- und Papyrusfragmente sowie mindestens ein Stück Leinenstoff, in den man Schriftrollen einwickeln konnte.
Labortests sollten eine Verbindung zwischen den Keramikgefäßen und den Ruinen in Qumran sowie einigen weiteren Gefäßen aus benachbarten Höhlen erweisen. DNA-Tests an den Pergamenten könnten Verbindungen zu anderen Schriftrollen zutage bringen, deren Herkunft bislang im Dunkeln lag. Der Fund der Gefäße und des Leinenwickels beweist, dass sich in dieser Höhle einmal Schriftrollen befunden haben (wie es auch auf Höhle 8 zutrifft).
Ein wahrhaft erstaunlicher Fund! Und vielleicht darf ich ergänzen, dass auch Erforscher der Urgeschichte sich für die Artefakte aus der neuen Qumran-Höhle interessieren dürften. Darunter fanden Price und seine Helfer nämlich auch Gegenstände aus der Jungsteinzeit, etwa Pfeilspitzen und Messer.
Die Schriftrollen verbinden Welten
Bedeutend sind die Höhlen, die Ruinen und die Handschriften von Qumran auch deshalb, weil sie eine Verbindung herstellen zwischen der Welt des Alten Testaments und des Judentums einerseits und der Welt Jesu, der frühen Kirche und den Schriften des Neuen Testaments andererseits.
Zudem liefern diese Funde in der Nähe des Toten Meers konkrete Belege für heilige Texte. Die Texte erleuchten die konkreten Belege, und die konkreten Belege erleuchten die Texte.
So zeigen uns archäologische Erkenntnisse, dass die uralten Erzählungen unserer Heiligen Schrift in einer antiken Welt verankert sind, die es tatsächlich so gab, nicht in einer ausgedachten, fiktiven Welt.
Die Archäologie hat uns in den vergangenen etwa hundert Jahren mit einer großen Menge alter Texte bekannt gemacht. Daher ist es ihr zu verdanken, dass wir inzwischen wissen, dass die uralten Texte tatsächlich von realen Menschen, realen Orten und realen Ereignissen berichten.
Digitale Versionen der Qumran-Texte können Sie übrigens in Logos erkunden – zum Beispiel in Logos 6 Gold (Deutsch)! Weitere Infos erhalten Sie auf unserer englischen Qumran-Infoseite.
Das Judentum zur Zeit Jesu
Weiterhin sind die Qumran-Schriften bedeutsam, weil sie Aufschluss über viele Details bestimmter Lehren Jesu und seiner frühen Anhänger geben.
So spricht eine aramäische Rolle aus Höhle 4 von der erwarteten Ankunft einer Person, die als „Sohn Gottes”, „Sohn des Höchsten” bezeichnet wird und die eine ewige Herrschaft führen wird. Die Gemeinsamkeiten mit der Ankündigung in Lukas 1 sind offensichtlich.
Eine weitere Rolle aus Höhle 4 erwartet das Kommen von Gottes Messias, der den Blinden Augenlicht geben, die Verletzten heilen, die Toten auferwecken und den Armen frohe Botschaft verkünden würde. Die Parallelen zu Jesu Entgegnung an Johannes den Täufer sind klar ersichtlich.
Selbst wenn Paulus von „Werken des Gesetzes” spricht, finden sich dazu wichtige Parallelen in einem Brief aus Höhle 4, der das Gesetz thematisierte. Die Melichisedek-Rolle aus Höhle 11 kündigt die Ankunft eines Menschen an, der Gott selbst zu sein scheint und über die Macht verfügt, Sünde zu vergeben, zu heilen und Satan zu besiegen.
Solche Beispiele – es gibt noch weitaus mehr – machen klar, wie groß die Bedeutung dieser Schriftrollen ist.
Eine neu entfachte Kontroverse
Natürlich wird dieser verblüffende Fund auch zu neuen Diskussionen darüber führen, wem die Schriftrollen vom Toten Meer zustehen – Israel (zur Zeit der ersten Funde gehörte Qumran zu Jordanien) oder den Palästinensern? Es war diese erhitzt geführte politische Debatte, die zu dem neuen Fund führte.
Die organisierte, genehmigte Suche nach Höhlen mit neuen Texten fand ihren Anfang im Konflikt um das Westjordanland und die Befürchtung, Israel könnte den Zugang zu den berühmten Höhlen in der judäischen Wüste verlieren, die bis dato über 1.000 Dokumente hervorgebracht haben, darunter insbesondere die erwähnten Qumran-Schriftrollen, die einige für den bedeutendsten archäologischen Fund des 20. Jahrhunderts halten.
Aufgrund dieser Befürchtung wurde 1993 die „Operation Scroll” ins Leben gerufen. Vertreter der Israelischen Altertümerbehörde (unter Leitung Amir Droris), der israelischen Streitkräfte sowie verschiedene Archäologen und Freiwillige begannen nun an der Westküste des Toten Meeres und weiter nördlich bei Jericho mit der Erkundung und Erfassung von Hunderten von Höhlen.
Dabei wurden zwar einzelne neue Entdeckungen gemacht, aber nichts, das auch nur annähernd mit einer weiteren Qumran-Höhle vergleichbar wäre.[1]
Neue Schätze, neue Sorgen
Ich bin Dr. Price zu großem Dank verpflichtet, dass er mich in die Details seiner wichtigen Entdeckung eingeweiht hat. Mit ihm teile ich die Hoffnung, dass Höhle 12 nicht die letzte entdeckte Qumran-Höhle bleiben wird.
Wer kann sagen, welche neuen Schätze wir noch zutage fördern werden? Und wer kann sagen, welche neuen politischen Verwicklungen etwaige weitere Funde herbeiführen könnten? Wir leben in interessanten Zeiten.
Über den Autor
Craig A. Evans ist Professor of Christian Origins an der Houston Baptist University in Südtexas. Evans ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum historischen Jesus, den Qumran-Schriftrollen und der Archäologie. Er promovierte unter William Hugh Brownlee, einem der ersten Fachleute, die die Schriftrollen zu Gesicht bekamen. Evans gehört der Scholars Initiative an, die sich der Erforschung der biblischen Artefakte im Museum der Bibel in Washington (USA) widmet. Evans lehrt zudem mehrere akademische Videokurse unseres „Mobile Ed”-Kursprogramms. Zudem ist er in der Doku-Serie Archaeology and Jesus zu sehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Parchments found at newly discovered Dead Sea Scrolls Cave 12 auf unserem englischsprachigen akademischen Blog theLAB. Für die Übersetzung haben wir den Text an manchen Stellen leicht gekürzt.
Digitale Versionen der Qumran-Texte können Sie übrigens in Logos erkunden – zum Beispiel in Logos 6 Gold (Deutsch)! Weitere Infos erhalten Sie auf unserer englischen Qumran-Infoseite.
[1] Einen Bericht zur „Operation Scroll” verfasst Neil Asher Silberman, “Operation Scroll,” Archaeology 47/2 (1994) 27–28; ders., “Operation Scroll,” in K. D. Vitelli (Hg.), Archaeological Ethics (London: Altamira Press, 1996) 132–35.