Wir haben uns im letzten Blog einige Chiasmen im NT angeschaut und dabei entdeckt, wie sie uns beim Textverständnis weiterhelfen können. Chiasmen im Alten Testament finden sich in besonderem Maße in den poetischen Büchern (Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger, Hohelied, Klagelieder) und Abschnitten, aber auch in allen anderen Texten. Wir untersuchen dazu Beispiele von der Versebene angefangen über Passagen, Kapitel, Buchteile bis hin zu ganzen Büchern.
Inhalt
Chiasmen im Alten Testament: Die Versebene
Auf Versebene sind Chiasmen die einfachste Form und relativ leicht zu entdecken. Das AT ist voll davon und ich empfehle unter den Literaturhinweisen weiterführende Bücher und Links, die das Thema ausführlicher behandeln. Wie in den vorhergehenden Beiträgen werden die Aussagen in der Form A B B‘ A‘, mit einer zentralen Aussage A B C B‘ A‘ und entsprechend erweiterbar dargestellt. Chiasmen lassen sich erkennen, indem man auf die Wiederholung von Schlüsselwörtern oder Ausdrücken achtet. Das Muster ist durch die Wiederholung von Schlüsselwörtern und Phrasen oder durch Gegensätze zu erkennen. Die Umkehrung von Schlüsselworten wie z.B. „Himmel und Erde“ vs. „Erde und Himmel“ oder die Verwendung von Synonymen wie Israel/Jakob oder Zion/Jerusalem sind starke Indizien.
Chiasmen haben immer eine symmetrische Form. Wenn sie ein Zentrum haben, ist dieses von großer Bedeutung. Viele Chiasmen sind auf Versebene nicht in der Übersetzung erkennbar bzw. zeigen einen Chiasmus, der im Grundtext so nicht vorhanden ist. Die ausgesuchten Verse geben auch im Deutschen den hebräischen Text in dieser Struktur wieder.
Chiasmen im Alten Testament: Beispiele aus den Psalmen
Psalm 2:10
Der Text lautet nach der Elberfelder Bibel 2006:
„Und nun, ihr Könige, handelt verständig; lasst euch zurechtweisen, ihr Richter der Erde!“
A) Und nun, ihr Könige,
B) handelt verständig;
B‘) lasst euch zurechtweisen,
A‘) ihr Richter der Erde!
Die Begriffe Könige und Richter werden hier synonym verwendet. Für Personen, die Macht ausüben, ist es von zentraler Bedeutung, verständig zu handeln und sich auch zurechtweisen zu lassen. Vergleiche David, der in Psalm 101:8 sagt: „Jeden Morgen will ich vertilgen alle Gesetzlosen des Landes“, und der sich nach seiner Sünde mit Bathseba von Nathan zurechtweisen ließ (2Sam 12).
Psalm 31:11a
„Denn in Kummer schwindet mein Leben und meine Jahre in Seufzen;“
A) Denn in Kummer
B) schwindet mein Leben
B‘) und meine Jahre
A‘) in Seufzen;
In diesem Chiasmus wird das ganze Ausmaß von Davids Kummer konzentriert. Was er bereits in Vers 10 beschrieben hat in „Sei mir gnädig, HERR, denn ich bin bedrückt; vor Gram verfällt mein Auge, meine Seele und mein Leib.“ und in Vers 11b fortsetzt: „meine Kraft wankt durch meine Schuld, und es verfallen meine Gebeine”, wird hier auf erschütternde Weise zusammengefasst: Kummer und Seufzen machen sein Leben bzw. seine Jahre aus.
Psalm 46:8.12
Der Text des Refrains lautet nach der Elberfelder Bibel 2006:
„Der HERR der Heerscharen ist mit uns, eine Festung ist uns der Gott Jakobs.“
A) Der HERR der Heerscharen
B) ist mit uns
B‘) eine Festung ist uns
A‘) der Gott Jakobs.
Der Herr der Heerscharen ist auch gleichzeitig der Gott Jakobs, der aus Gnade Unwürdige erwählt und ihnen in aller Drangsal beisteht. Er ist mit ihnen („immanu“, vgl. Immanuel = mit uns ist Gott) und gibt sicheren Schutz. So wie Gott in dem Chiasmus die äußere Klammer bildet, umgibt er alle, die auf ihn vertrauen.
Psalm 56:14
Der Text lautet nach der Schlachter 2000:
„Denn du hast meine Seele vom Tod gerettet, meine Füße vom Gleiten, damit ich wandle vor dem Angesicht Gottes im Licht des Lebens.“
A) Denn du hast meine Seele vom Tod gerettet,
B) meine Füße vom Gleiten,
B‘) damit ich wandle vor dem Angesicht Gottes
A‘) im Licht des Lebens.
„Tod“ ist eine Parallele zu „Leben“ und „meine Füße“ sind eine Parallele zu „wandle“. Gott hat David vom Tod und Ausgleiten gerettet, um vor dem Angesicht Gottes zu wandeln im Licht des Lebens (vgl. Joh 8:12). Was für ein Wechsel vom Einst zum Jetzt im Leben eines Gläubigen.
Chiasmen im Alten Testament: Einige Beispiele aus dem Buch der Sprüche Kapitel 10
Die Texte sind nach der Elberfelder Bibel 2006 zitiert. Die Beispiele erfolgen ohne weitere Kommentare, da sie leicht verständlich sind.
Spr 10:2
„Nichts nützen gottlose Schätze, aber Gerechtigkeit rettet vom Tod.“
A) Nichts nützen
B) gottlose Schätze
B‘) aber Gerechtigkeit
A‘) rettet vom Tod.
Spr 10:4
„Arm wird, wer mit lässiger Hand schafft, aber die Hand der Fleißigen macht reich.“
A) Arm wird,
B) wer mit lässiger Hand schafft,
B‘) aber die Hand der Fleißigen
A‘) macht reich.
Spr 10:11
Der Text lautet nach der Elberfelder Bibel 2006:
„Eine Quelle des Lebens ist der Mund des Gerechten, aber der Mund der Gottlosen birgt Gewalttat.“
A) Eine Quelle des Lebens
B) ist der Mund des Gerechten,
B‘) aber der Mund der Gottlosen
A‘) birgt Gewalttat.
Andere Verse sind z.B. Parallelismen in der Form A B A‘ B‘ wie in Vers 16:
„Der Erwerb des Gerechten (gereicht) zum Leben,
der Ertrag des Gottlosen zur Sünde.“
Chiasmen im Alten Testament: Der chiastische Aufbau von Psalmen
Wir haben uns bereits aus Psalm 2 den Vers 10 angesehen. Der ganze Psalm hat eine chiastische Struktur. In den ersten drei Versen erfahren wir, wie die Nationen toben. Die folgenden drei Verse beschreiben Gott, den Vater, auf dem Thron im Himmel. Gott, der Sohn (der Messias) redet in den nächsten drei Versen und die letzten drei Verse richtet Gott, der Heilige Geist eine Warnung an die Könige und Richter (vgl. Joh 16:8–12).
Psalm 2:
A) Die Erde: Die Könige treten auf gegen Gott und seinen Gesalbten (Verse 1–3)
B) Der Himmel: Gott spricht (Verse 4–6)
B‘) Der Himmel: Der Sohn Gottes spricht (Verse 7–9)
A‘) Die Erde: Die Könige werden zur Umkehr aufgerufen (Verse 10–12)
Weitere, recht offensichtliche Beispiele sind:
Psalm 3:
Der Psalm besteht aus vier Strophen mit jeweils zwei Versen. In der ersten und letzten Strophe ruft David zu seinem Gott.
Vers 1–2: Viele Bedränger, die sich gegen ihn erheben und die sagen, es gibt keine Rettung für ihn.
Verse 7–8: Jahwe soll sich erheben, denn von ihm ist Rettung!
Die beiden mittleren Strophen zeigen sein Vertrauen. Mit Gott ist man immer in der Mehrheit.
A) Ruf zu Gott, denn viele erheben sich und sagen „keine Rettung“ (Verse 1–2)
B) Sein Vertrauen in seinen Gott „Du aber“ (Verse 3–4)
B‘) Sein Vertrauen lässt ihn ruhig schlafen „Ich“ (Verse 5–6)
A‘) Ruf zu Gott „Stehe auf“ zur „Rettung“ (Verse 7–8)
Psalm 8:
Der Lobpreis bzw. Refrain in den Versen 2 und 10 bildet eine Klammer (Inclusio). In den Versen 3–4 wird die Herrschaft Gottes beschrieben, in den Versen 7–9 die Herrschaft des Menschen. Der Vers 5 zeigt die Niedrigkeit des Menschen und Vers 6 seine Erhabenheit.
A) Lobpreis (Vers 2)
B) Die Herrschaft Gottes (Verse 3–4)
C) Der Mensch in Niedrigkeit (Vers 5)
C‘) Der Mensch in Erhabenheit (Vers 6)
B‘) Die Herrschaft des Menschen (Verse 7–9)
A‘) Lobpreis (Vers 10)
Psalm 23:
Der Name Jahwe wird im ersten Vers als Hirte und letzten Vers als Ziel (bei ihm wohnen) genannt. Jakob sagt von diesem Hirten am Ende seines Lebens in Gen 48:15 „… der Gott, der mich geweidet hat, seitdem ich bin bis auf diesen Tag, …“. In Vers 4 findet ein Wechsel von der dritten Person Singular (Er) zur zweiten Person Singular (Du) statt.
A) Jahwe (Vers 1)
B) Versorgung (Vers 2)
C) Erquickung und Führung (Vers 3)
D) Auch im Tal des Todesschattens keine Furcht (Vers 4a)
C‘) Führung und Trost (Vers 4b)
B‘) Versorgung (Vers 5)
A‘) Jahwe (Vers 6)
Chiasmen im Alten Testament: Kapitel-Ebene und ganze Buchteile
Als Beispiel werfen wir dazu einen Blick in das Buch Daniel.
Daniel 1
Das Kapitel beginnt und endet mit einem Regierungsjahr und zeigt uns Anfang und Ende des babylonischen Reiches. Zentral stehen die Verse 8–17, in denen die Treue Daniels und seiner Freunde Gott gegenüber beschrieben wird. Dies wird durch den Aufbau des Kapitels unterstrichen.
A) Babylons Herrschaft beginnt (Vers 1)
B) Babylon ist überlegen (Verse 2–7)
C) Daniel nimmt sich vor, rein zu bleiben (Verse 8–17)
B‘) Der gläubige jüdische Überrest ist überlegen (Verse 18–20)
A‘) Babylons Herrschaft endet (Vers 21)
Daniel 2
Ganz ähnlich ist das zweite Kapitel aufgebaut, in dem das Gebet Daniels und seiner Freunde zu Gott im Zentrum steht und die Antwort Gottes durch die Offenbarung des Traums den Wendepunkt in der Begebenheit darstellt. Auch hier zeigt sich auf schöne Weise, wie die chiastische Struktur die Botschaft dieses Abschnittes unterstreicht. In Vers 10 sagen die babylonischen Sterndeuter: „Es gibt keinen Menschen auf der ganzen Erde, der die Sache des Königs kundtun könnte“ und in Vers 27 spricht Daniel zu ihm: „Das Geheimnis, das der König verlangt, können Weise, Beschwörer, Wahrsagepriester und Zeichendeuter dem König nicht kundtun.“ Dann folgt der klare Hinweis: „Aber es gibt einen Gott im Himmel, der Geheimnisse offenbart“.
A) Nebukadnezars Traum und die Weisen (Verse 1–12, Vers 10)
B) Daniel geht zu Arioch und kommt zum König (Verse 13–16)
C) Daniel und seine Freunde beten (Verse 17–23, Vers 19)
B‘) Daniel geht zu Arioch und kommt zum König (Verse 24–25)
A‘) Nebukadnezars Traum und Daniel (Verse 26–49, Vers 27)
Daniel 2 – 7
Das Buch Daniel ist ein prophetisches Buch
Das Buch Daniel wird in der Regel in zwei große Abschnitte, Kapitel 1–6 (Geschichte) und Kapitel 7–12 (Prophetie), unterteilt. Dabei wird leicht übersehen, dass das ganze Buch prophetisch ist und somit auch die Kapitel 1–6. Die Erfahrungen von Daniel und seinen drei Freunden sind ein Hinweis auf das, was dem gläubigen jüdischen Überrest während der Endzeit unter dem Antichristen und dem Tier des Römischen Reiches widerfahren wird. Ähnliches finden wir in geschichtlichen Abschnitten auch im Propheten Jesaja (Kap. 36–39), Jona und in Offb 2–3. Deutliche Parallelen sind zwischen Dan 3 und Offb 13 sowie Dan 6 und 2Thess 2 zu erkennen.
Sehr offensichtlich sind die Beziehungen zwischen den ersten 6 Kapiteln und der zweiten Hälfte des Buches Daniels (die 3 Freunde im Feuerofen → „sie werden fallen durch Schwert und Flamme“ Dan 11:33, die Verständigen: Dan 2:21 und viermal in Kap. 11+12, Kap. 2 und 7 beinhalten das gleiche Thema → die vier Weltreiche). Der Herr Jesus spricht in Mt 24,15 von Daniel dem Propheten, d.h. es handelt sich um ein prophetisches Buch.
Der in Aramäisch geschriebene Teil
Anhand der auffälligen Spracheinteilung können wir drei Bereiche in diesem Buch ausmachen:
A) Die hebräisch geschrieben Kapitel 1:1 bis 2:3
B) Der mittlere in Aramäisch geschriebene Teil (Kapitel 2:4 bis 7:28)
A‘) Der hebräisch geschriebene letzte Teil (Kapitel 8:1 bis 12:13)
Wenn wir uns den mittleren aramäischen Teil anschauen, fällt auf, dass sich der Anfang (Kapitel 2) mit dem Traum Nebukadnezars (das Standbild) und seiner Deutung beschäftigt. Das Ende (Kapitel 7) dagegen beschäftigt sich ebenfalls mit einem Traum (einer Vision), den vier Tieren, die Daniel gesehen hat. Jetzt wird uns schon durch die Struktur deutlich, dass beide Visionen in einer Beziehung zueinander stehen. Sie zeigen uns beide die vier Weltreiche bis zu ihrem Ende durch das messianische Reich. Zuerst aus der Sicht des Menschen durch den König Nebukadnezar in dem beeindruckenden Standbild, dann aus der Sicht Gottes durch den Propheten Daniel als Tiere ohne Verstand. Das heißt also, die äußere Schale (wenn wir uns die chiastische Struktur wie eine Zwiebel denken) des mittleren Teils bilden die Kapitel 2 und 7.
Wenn wir uns jetzt Kapitel 3 zuwenden, stellen wir fest, dass es hierbei um die Situation der drei Freunde Daniels geht. Aufgrund ihrer Weigerung, sich dem Götzendienst zu unterwerfen, werden sie in den Feuerofen geworfen, aber durch Gottes Gnade bewahrt. Das gleiche Thema sehen wir in Kapitel 6, wo Daniel aufgrund seines Glaubens in die Löwengrube geworfen wird und durch Gott auf wunderbare Weise bewahrt bleibt. So ist auch die zweite Schale deutlich zu erkennen.
Die beiden Kapitel 4 und 5 zeigen uns, wie Gott den Stolz und Hochmut der Könige Nebukadnezar (Kap. 4) und Belsazar (Kap. 5) richtet, womit wir die Struktur des aramäischen Teils aufgeschlüsselt haben.
Zwei mögliche Einteilungen
A) Die Vision Nebukadnezars von den vier Weltreichen als ein Standbild (Dan 2)
B) Prüfung des Glaubens und Bewahrung im Feuerofen (Dan 3)
C) Gott richtet den stolzen König Nebukadnezar (Dan 4)
C‘) Gott richtet den stolzen König Belsazar (Dan 5)
B‘) Prüfung des Glaubens und Bewahrung in der Löwengrube (Dan (6)
A‘) Die Vision Daniels von den vier Weltreichen dargestellt als Tiere (Dan 7)
Oder man setzt die Umkehr Nebukadnezars in Dan 4:34–37 in den Mittelpunkt, da Gott den Tod des Sünders nicht will (Hes 18:32) und alle Wege Gottes dazu dienen, Menschen zu retten.
A) Die Vision Nebukadnezars von den vier Weltreichen als ein Standbild (Dan 2)
B) Prüfung des Glaubens und Bewahrung im Feuerofen (Dan 3)
C) Gott richtet den stolzen König Nebukadnezar (Dan 4:1–33)
D) Die Umkehr Nebukadnezars (Dan 4:34–37)
C‘) Gott richtet den stolzen König Belsazar (Dan 5)
B‘) Prüfung des Glaubens und Bewahrung in der Löwengrube (Dan (6)
A‘) Die Vision Daniels von den vier Weltreichen dargestellt als Tiere (Dan 7)
Ausblick
Im nächsten Blog schauen wir uns die chiastische Struktur ganzer Bücher wie Richter und Klagelieder an. Es gibt auch übergreifende Strukturen, die in der Anordnung der fünf Bücher Mose und der Psalmen sichtbar werden. Hier geht es weiter zu Teil 2.
Literaturhinweise
Figures of speech used in the Bible, E.W. Bullinger, Baker Book House
Classical Hebrew Poetry: A Guide to its Techniques, Wilfred G. E. Watson, T&T Clark International
Chiastic Psalms I – III, Robert L. Alden, JETS 17/1 (1974) 11–28; 19/3 (1976) 191–200; 21/3 (1978) 199–210
Webseite mit einer Sammlung von Chiasmen zu den Büchern der Bibel (Biblical Chiasm Exchange)