Hermeneutik 3/​4: Hermeneutik von Jesus und Paulus lernen

Von Manuel Becker

Bibelstudium, Hermeneutik
Vor 3 Monaten

Jüdi­sche Her­me­neu­tik! In die­sem Arti­kel erfah­ren Sie in 10 Min. wie die Juden, Jesus und Pau­lus alt­tes­ta­ment­li­che Tex­te aus­ge­legt haben und was das für unse­re Her­me­neu­tik bedeutet. 

Die Hermeneutik von Jesus und Paulus – diskussionswürdig?

Ich bin davon über­zeugt, dass Jesus und Pau­lus von den Theo­lo­gen der heu­ti­gen Zeit har­sche Kri­tik für ihre Her­me­neu­tik ern­ten wür­den. Vie­le Chris­ten emp­fin­den heut­zu­ta­ge die Art und Wei­se, wie Jesus, Pau­lus und die Juden zur dama­li­gen Zeit die Schrift aus­ge­legt haben, als befremd­lich und ver­ant­wor­tungs­los. In die­sem Arti­kel möch­te ich die Her­me­neu­tik von Jesus, Pau­lus und den Juden der dama­li­gen Zeit anhand eini­ger Bei­spie­le skiz­zie­ren und her­aus­ar­bei­ten, was wir heu­te von ihnen in die­ser Hin­sicht ler­nen kön­nen – auch wenn uns ihre Her­me­neu­tik erst ein­mal fremd sein mag.

Jüdische Hermeneutik

Um die Her­me­neu­tik Jesu und der Autoren des Neu­en Tes­ta­ments ver­ste­hen zu kön­nen, ist es wich­tig, zu wis­sen, wie die Juden zur Zeit Jesu das Alte Tes­ta­ment (AT) inter­pre­tiert haben. Erst Anfang des 2. Jahr­hun­derts n. Chr. setz­te sich durch Rab­bi Aki­ba die wört­li­che Aus­le­gung der Bibel durch, was im Lau­fe der Geschich­te auch auf die christ­li­che Her­me­neu­tik abge­färbt hat. Vor­her sahen die Juden eine gro­ße Frei­heit, die alt­tes­ta­ment­li­chen Tex­te im Lich­te ihrer aktu­el­len Rea­li­tät krea­tiv aus­zu­le­gen und mit neu­er Bedeu­tung zu fül­len. Die­se konn­te dem ursprüng­li­chen Text unter Umstän­den sogar kom­plett fremd sein.

Neue Lebens­um­stän­de, wie zum Bei­spiel das Leben im Exil, hal­fen den Juden dabei, neue Erkennt­nis­se über Gott zu gewin­nen. Das führ­te dazu, dass sie älte­re Tex­te aus dem AT neu ver­stan­den und not­falls sogar revi­dier­ten. Lon­gen­ecker (1999:xxvi) fasst die jüdi­sche Inter­pre­ta­ti­on der Schrift zur Zeit Jesu wie folgt zusammen:

Jüdi­sche Exege­ten des ers­ten Jahr­hun­derts sahen ihre Auf­ga­be in ers­ter Linie dar­in, die Hei­li­ge Schrift an die gegen­wär­ti­gen Umstän­de des Vol­kes Got­tes anzu­pas­sen, neu zu inter­pre­tie­ren, zu erwei­tern und somit neu anzu­wen­den, sowohl im Hin­blick dar­auf, wie es leben („hala­kah”) als auch wie es den­ken („hag­ga­dah”) sollte.

Ein gutes Bei­spiel für die krea­ti­ve Aus­le­gung von Bibel­stel­len ist 4. Mose 20,11 (Schlach­ter):

Und Mose hob sei­ne Hand auf und schlug den Fel­sen zwei­mal mit sei­nem Stab. Da floß viel Was­ser her­aus; und die Gemein­de trank und auch ihr Vieh.

Der Gedan­ke, dass die­ser Fel­sen den Israe­li­ten hin­ter­her­ge­lau­fen ist und eigent­lich ein Bild für Chris­tus ist, mag nicht das ers­te sein, was einem beim Lesen die­ser Stel­le in den Kopf kommt. Doch Pau­lus hat die­se Stel­le genau auf die­se Wei­se ausgelegt:

… denn sie tran­ken aus einem geist­li­chen Fel­sen, der ihnen folg­te. Der Fels aber war Christus. 

(1 Korin­ther 10,4 Schlachter)

Pau­lus leg­te die­sen AT-Text krea­tiv und chris­tus­zen­triert aus.

Jesu Hermeneutik der Schrift

Auch Jesus pass­te alt­tes­ta­ment­li­che Tex­te an oder leg­te sie kom­plett neu aus, wo er es als not­wen­dig erachtete.

Beispiel 1: 5. Mose 28, Johannes 9,3 und Lukas 13,4–5

In 5. Mose 28 ver­heißt Gott den­je­ni­gen, die ihm gehor­chen, Reich­tum und Gesund­heit. Ande­rer­seits wer­den den­je­ni­gen, die ihm nicht gehor­sam sind, Krank­heit, Armut und Unglück ange­droht. Die­ses wie­der­keh­ren­de Motiv zeigt ein für die dama­li­ge Zeit typi­sches und stark ver­ein­fach­tes Welt­bild, das auch heu­te noch weit ver­brei­tet ist. Auch wir gehen viel zu oft davon aus, dass Schick­sals­schlä­ge eine Stra­fe für Sün­de sind, ein gott­ge­fäl­li­ges Leben hin­ge­gen Segen bewirkt.

Aber Jesus hat sehr deut­lich gemacht, dass dies nicht der Wahr­heit ent­spricht. Immer wie­der spielt er in sei­nen Leh­ren auf 5. Mose 28 an und macht deut­lich, dass Gott nicht so ist. Jesus lehr­te, dass Gott sei­nen Regen auf die Guten und die Bösen fal­len lässt (Mt 5,45), obwohl 5. Mose 28,24 den Unge­hor­sa­men vor­aus­sagt, dass Gott ihnen Regen vor­ent­hal­ten wird. Ein ande­res Bei­spiel ist der Umgang mit Behin­de­run­gen: Zur Zeit Jesu nah­men die Men­schen an, dass Blind­heit und ande­re Behin­de­run­gen die Stra­fe Got­tes für Sün­de sei­en. Des­halb frag­ten die Jün­ger in Johan­nes 9,2 Jesus, wer die Schuld an der Blind­heit eines Man­nes trägt. Jesus stell­te jedoch klar, dass die Ursa­che für die Blind­heit nicht in irgend­ei­ner Sün­de zu suchen ist.

Ein wei­te­res Bei­spiel für die­ses Welt­bild ist in Lukas 13,4–5 zu fin­den. Jesus erwähnt dort in einem Gespräch den Ein­sturz eines Tur­mes in Silo­ah, bei dem 18 Män­ner getö­tet wor­den waren. Alle sei­ne Zeit­ge­nos­sen schlos­sen dar­aus, dass die Ursa­che für die­se Tra­gö­die die bos­haf­te Sün­de der Opfer war. Doch Jesus wies die­ses Den­ken zurück und ver­ur­teil­te es. Er erklär­te die­se Idee aus dem Alten Tes­ta­ment für unwahr. So befrei­te er zahl­rei­che Kran­ke, Arme und Behin­der­te von der schwe­ren Last der Schuld­ge­füh­le, die ihnen zusätz­lich von ihrem Umfeld auf­er­legt wurden.

Ein Gegenbeispiel aus dem Alten Testament – Hiob

Aller­dings lässt sich die­ses Bild (Altes Tes­ta­ment: Schuld als Ursa­che für Schick­sals­schlä­ge vs. Neu­es Tes­ta­ment: Schuld kei­ne Ursa­che für Schick­sals­schlä­ge) nicht durch­gän­gig zeich­nen. Tat­säch­lich wird auch bereits an man­chen Stel­len im Alten Tes­ta­ment deut­lich, dass ein Schwarz-Weiß-Den­ken zu kurz greift und nicht die kom­ple­xe Rea­li­tät der Welt wider­spie­gelt. Im Buch Hiob kri­ti­siert Gott die Freun­de Hiobs für ihre men­schen­ver­ach­ten­de Sicht, weil sie ihrem vom Schick­sal gebeu­tel­ten Freund zusätz­lich zu sei­nem Lei­den wei­te­re Las­ten auf­er­le­gen und ihm die Schuld für sein Erge­hen in die Schu­he schieben.

Beispiel 2: Lukas 4,19 und Jesaja 61,1–2

Der Geist des Herrn, des Herr­schers, ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat, den Armen fro­he Bot­schaft zu ver­kün­den; er hat mich gesandt, zu ver­bin­den, die zer­bro­che­nen Her­zens sind, den Gefan­ge­nen Befrei­ung zu ver­kün­den und Öff­nung des Ker­kers den Gebun­de­nen, 2 um zu ver­kün­di­gen das ange­neh­me Jahr des Herrn und den Tag der Rache unse­res Got­tes, … 

(Jesa­ja 61,1–2 Schlachter)

Der letz­te Teil die­ser zwei Ver­se war den Juden beson­ders wich­tig und eine Art Lieb­lings­ver­hei­ßung. Sie war­te­ten sehn­süch­tig dar­auf, dass Gott end­lich kom­men wür­de, um mit den ver­hass­ten Römern abzu­rech­nen. Doch als Jesus den Text in der Syn­ago­ge vor­las, ließ er den Teil über Got­tes Rache weg (Lukas 4,19), weil die­ser nicht wirk­lich wider­spie­gelt, wie Gott ist. Gott ist nicht rachsüchtig.

Als Jesus das tat, war das für sei­ne Zuhö­rer zu viel. Sie wur­den zor­nig (Lukas 4,22):

Alle zeug­ten gegen ihn und waren ent­setzt (grie­chisch: ethay­ma­zon) über die Wor­te der Barm­her­zig­keit, die aus sei­nem Mund kamen.“ 

(Mar­shall, 1978:185)

Dass Jesus einen Text der Rache in einen Text über Got­tes skan­da­lö­se Gna­de ver­wan­del­te, war mehr als sei­ne Zuhö­rer ertra­gen konn­ten. Es war sogar ein Grund für sie, Jesus zu töten (Lukas 4:29).

Beispiel 3: Matthäus 5,38–39 und 5. Mose 19,21

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: »Auge um Auge und Zahn um Zahn!« Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht wider­ste­hen; son­dern wenn dich jemand auf dei­ne rech­te Backe schlägt, so bie­te ihm auch die ande­re dar; 

(Mat­thä­us 5,38–39 Schlachter)

Auge um Auge – Zahn um Zahn“ war nicht nur ein Rat­schlag, son­dern ein Gesetz, das Gott selbst gege­ben hat­te (5. Mose 19,21). Aber Jesus mach­te deut­lich, dass „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ nie­mals Got­tes wah­rem Wil­len ent­sprach, son­dern nur eine vor­über­ge­hen­de Lösung dar­stell­te, die ein Zuge­ständ­nis an die hart­her­zi­gen Men­schen war. Gott ver­bot damit die unbe­grenz­te Rache, die damals üblich war („Du hast mei­ne Frau ver­letzt, ich brin­ge dei­ne gesam­te Fami­lie um.“). Statt­des­sen wur­de die Rach­sucht auf ein Level begrenzt, dass dem tat­säch­li­chen Scha­den entsprach.

Mehr noch: Jesus mach­te deut­lich, dass Rache nicht dem Weg Got­tes ent­spricht. Jesus hat uns Got­tes Weg der Ver­ge­bung und der Fein­des­lie­be offen­bart. Es ist unmög­lich, dem Weg Jesu der Ver­ge­bung und Gewalt­lo­sig­keit zu fol­gen und gleich­zei­tig das Rache­ge­bot des AT zu befol­gen. Jesus erklär­te also die­ses spe­zi­el­le Gesetz aus dem Alten Tes­ta­ment für ungültig. 

Jetzt klin­geln bei dem einen oder ande­ren sicher­lich die Alarm­glo­cken, denn Jesus hat ja selbst gesagt, dass er das Gesetz nicht außer Kraft setzt. Rich­tig. Die­ser Vers steht nur ein paar Ver­se vor Mt 5,38–39 und des­halb schau­en wir uns das jetzt genau­er an.

Jesus ist gekommen, um das Gesetz zu erfüllen

Eine Stel­le, die oft zitiert wird, um zu bele­gen, dass Jesus jeden Vers des Alten Tes­ta­men­tes als wahr erklärt, ist Mat­thä­us 5,17 (NGÜ):

Denkt nicht, ich sei gekom­men, um das Gesetz oder die Pro­phe­ten außer Kraft zu set­zen. Ich bin nicht gekom­men, um außer Kraft zu set­zen, son­dern um zu erfül­len.

Das grie­chi­sche Wort für „erfül­len“ ist plēroō, und es bedeu­tet so viel wie etwas zu ver­voll­stän­di­gen, etwas Unvoll­kom­me­nes zur Voll­endung zu brin­gen oder etwas Unfer­ti­ges zu voll­enden (Bauer/​Aland 1988).

Es geht also nicht dar­um, dass Jesus alle 613 Gebo­te aus dem Alten Tes­ta­ment genau befolgt hat oder sie alle befür­wor­tet. Das wird jedem, der die Evan­ge­li­en liest, schnell klar, denn Jesus wird immer wie­der von den Schrift­ge­lehr­ten als Geset­zes­bre­cher ange­klagt. Es geht dar­um, dass Jesus den Kern aller Gebo­te erfüllt hat. Er hat die Idee, die hin­ter den Gebo­ten steht, durch sein Leben vor­ge­lebt und erfüllt und so das Gesetz zur Voll­endung gebracht.

Was ist damit gemeint? Jesus selbst sagt in Mt 22,37–40, dass die Got­tes- und Nächs­ten­lie­be das gan­ze Gesetz umfasst. Wer Gott und den Nächs­ten liebt, hat das gan­ze Gesetz erfüllt. Pau­lus bestä­tigt, dass die Lie­be „die Erfül­lung (plēroō) des Geset­zes ist“ (Röm 13,10 NGÜ). Jesus hat Gott und die Men­schen um ihn her­um geliebt. Alles, was er tat, war aus Lie­be moti­viert. Gera­de indem er eini­ge AT-Gebo­te, die sei­nem Ide­al der Lie­be wider­spra­chen, auf­lös­te, brach­te er das Gesetz zur Voll­endung. Indem er limi­tier­te Rache ver­bot und unli­mi­tier­te Ver­ge­bung gebot, erfüll­te er die Gebo­te der Thora.

Paulus’ Hermeneutik

Sau­lus war ein eif­ri­ger Pha­ri­sä­er. Er gehorch­te dem Gesetz so gut, dass er sich selbst als „tadel­los“ betrach­te­te (Phil­ip­per 3,6 NGÜ).

Für die Juden des ers­ten Jahr­hun­derts war Eifer etwas, das man mit einem Mes­ser tat. Jene Juden des ers­ten Jahr­hun­derts, die sich nach einer Revo­lu­ti­on gegen Rom sehn­ten, blick­ten auf Pine­has und Elia im Alten Tes­ta­ment sowie auf die Hel­den der Mak­ka­bä­er zwei Jahr­hun­der­te vor Pau­lus als ihre Vor­bil­der zurück. Sie sahen sich selbst als „Eife­rer für JHWH“, „Eife­rer für die Tho­ra“ und als das Recht und die Pflicht, die­sen Eifer mit Gewalt in die Tat umzusetzen. 

(Wright, 1997:27)

Sau­lus, der das Alte Tes­ta­ment gründ­lich stu­diert hat­te, glaub­te fest dar­an, dass Gewalt der rich­ti­ge Weg sei, um Gott zu die­nen und sei­ne Zie­le zu errei­chen. Sein Ver­ständ­nis des AT führ­te ihn dazu, im Namen Got­tes Gewalt anzu­wen­den und die Chris­ten zu verfolgen.

Nach sei­ner Begeg­nung mit Jesus „muss­te Pau­lus völ­lig neu über­den­ken, wie er die Hei­li­ge Schrift, die er zuvor auf die­se gif­ti­ge und gewalt­tä­ti­ge Wei­se gele­sen hat­te, ver­ste­hen soll­te, was ihn zu einem völ­lig ande­ren Ver­ständ­nis des Wil­lens Got­tes und einer völ­lig ande­ren Art der Inter­pre­ta­ti­on der­sel­ben Hei­li­gen Schrift führte.” 

(Flood 2014:60)

Wäh­rend sich das Leben des Pau­lus vor sei­ner Bekeh­rung um das Gesetz dreh­te, begann er nach sei­ner Bekeh­rung das AT auf neue Wei­se zu lesen und aus­zu­le­gen. Lie­be und Barm­her­zig­keit stan­den nun im Mit­tel­punkt sei­ner Inter­pre­ta­ti­on des AT (Römer 13,8–10). Wie Jesus begann er, der Lie­be Vor­rang vor Geset­zen und Regeln zu geben. Er wand­te sich vom Mythos der „erlö­sen­den Gewalt“ ab. Pau­lus begann bewusst, Stel­len aus dem AT zu zitie­ren, die Gewalt ent­hiel­ten, nahm jedoch die ent­spre­chen­den Pas­sa­gen her­aus und kehr­te so ihre Bedeu­tung um. Dadurch konn­te er Got­tes Barm­her­zig­keit und nicht sei­ne Gewalt bzw. sei­nen Zorn ver­kün­den. Hier sind zwei Bei­spie­le für Pau­lus’ Hermeneutik.

Beispiel 1: Römer 15,9 und Psalm 18,41–49

In Römer 15,9 weist Pau­lus dar­auf hin, dass die Hei­den Gott für sei­ne Barm­her­zig­keit ver­herr­li­chen. Die Stel­le aus dem Alten Tes­ta­ment, die er zur Bestä­ti­gung sei­ner Aus­sa­ge zitiert, ist Psalm 18,49. Pau­lus kann­te deren Kon­text. In Psalm 18,41–49 geht es dar­um, dass Gott David die Macht gibt, die Hei­den zu Staub zu zer­mah­len und sie wie Lehm zu zer­mal­men (V.42). Es geht um die gewalt­sa­me Nie­der­la­ge und Unter­wer­fung der Heiden.

Pau­lus “igno­riert” die­se gewalt­tä­ti­gen Beschrei­bun­gen jedoch und gibt die­sen Ver­sen mit gro­ßer Frei­heit eine neue Bedeu­tung. Er nimmt ihnen die gewalt­tä­ti­gen Tei­le und inter­pre­tiert sie neu.

Beispiel 2: 1. Korinther 15,55 und Hosea 13,14

In 1. Korin­ther 15,55 fei­ert Pau­lus den Sieg Got­tes über den Tod: „Wo ist, o Tod, dein Sieg? Wo, oh Tod, ist dein Sta­chel?“ Eigent­lich zitiert er hier jedoch Hosea 13:14, das in einem völ­lig ande­ren Kon­text steht. Gott sagt an die­ser Stel­le eigent­lich, dass er Isra­el nicht vom Tod erlö­sen wird und dass er kein Mit­leid mit ihnen haben wird. Er wird sein Todes­ur­teil über Isra­el nicht aufheben.

Soll ich sie vor dem Tod ret­ten? Soll ich sie aus der Gewalt des Toten­reichs erlö­sen? Nein! Der Tod soll sie dahin­raf­fen, das Toten­reich sie gefan­gen neh­men! Ich wer­de kein Mit­leid mehr mit ihnen haben. (Hosea 13,14 HfA)

Pau­lus nahm die­se gewalt­tä­ti­ge und rach­süch­ti­ge Dar­stel­lung Got­tes, ent­fern­te den gewalt­sa­men Teil und ver­wan­del­te sie in eine Erklä­rung des Sie­ges Got­tes über den Tod, der zum Leben führt (1. Korin­ther 15,22).

Was bedeutet dies alles für unsere Hermeneutik?

Immer dann, wenn unse­re Aus­le­gung der Bibel dazu führt, dass Men­schen ver­ur­teilt, gede­mü­tigt, ver­letzt oder aus­ge­grenzt wer­den oder wenn wir damit ein Got­tes­bild ver­tre­ten, das nicht chris­tus­ge­mäß ist, müs­sen wir sehr vor­sich­tig sein. Dann könn­ten wir die Bibel wie die Pha­ri­sä­er aus­le­gen. Unse­re Aus­le­gung der Bibel soll­te chris­tus­ge­mäß sein und zur Lie­be füh­ren, denn

das Ziel aller Wei­sung ist die Liebe. 

(1. Timo­theus 1,5 ZB 2007)

Eine sol­che Her­me­neu­tik ver­langt, dass wir manch­mal dem wört­li­chen Sinn eines Tex­tes wider­spre­chen oder ihn krea­tiv aus­le­gen, so wie Jesus und Pau­lus es taten. Ich schlie­ße mit den Wor­ten von Augustinus:

Wer meint, die gött­li­chen Schrif­ten ver­stan­den zu haben, aber sein Ver­ständ­nis nicht zur Got­tes- und Nächs­ten­lie­be führt, der hat es noch nicht geschafft, sie zu verstehen.“

(Boyd 2017:147)

Oder anders formuliert:

Alle Aus­le­gun­gen der Hei­li­gen Schrift müs­sen von der Lie­be moti­viert sein, mit ihr über­ein­stim­men und in ihr resultieren. 

(:148)

Bibliografie

Bau­er, W. (1988) Grie­chisch-Deut­sches Wör­ter­buch zu den Schrif­ten des Neu­en Tes­ta­ments und der früh­christ­li­chen Lite­ra­tur. 6., völ­lig neu bear­bei­te­te Auf­la­ge. Edi­ted by K. Aland and B. Aland. Ber­lin; New York: Wal­ter de Gruyter.

Boyd, G.A. (2017) The Cru­ci­fi­xi­on of the War­ri­or God: Inter­pre­ting the Old Testament’s Vio­lent Por­traits of God in Light of the Cross. Min­nea­po­lis, MN: Fort­ress Press, S. 147.

Flood, D. (2014) Dis­ar­ming scrip­tu­re : cher­ry-picking libe­rals, vio­lence-loving con­ser­va­ti­ves, and why we all need to learn to read the Bible like Jesus did San Fran­cis­co, Met­a­noia Books.

Lon­gen­ecker, R.N. (1999) Bibli­cal exege­sis in the apos­to­lic peri­od. 2nd ed. Grand Rapids, MI; Van­cou­ver: W.B. Eerd­mans; Regent Col­lege Pub., p. xxvi.

Mar­shall, I. H. (1978). The Gos­pel of Luke: a com­men­ta­ry on the Greek text. Pater­nos­ter


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Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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