Was ist der Zweck der Bibel? Und warum ist das für die Hermeneutik wichtig? In diesem Artikel können Sie in 15 Min. Antworten auf diese Fragen finden.
Inhalt
Schlechte Hermeneutik hat Konsequenzen – ein Beispiel aus Joh 5,1–18
In Johannes 5,1–18 wird berichtet, wie Jesus einen Mann heilt, der 38 Jahre lang krank gewesen war. Dieses Wunder sollte eigentlich Anlass zu großer Freude sein, doch die religiösen Führer der Juden waren darüber erzürnt. So sehr, dass sie Jesus töten wollten (Joh 5,18). Was führte dazu, dass die Heilung eines kranken Mannes zu dem Wunsch führte, Jesus zu töten? Ich glaube, es war ihre Hermeneutik. Lassen Sie mich genauer erklären, was ich damit meine.
In Johannes 5,18 werden zwei Dinge genannt, die die religiösen Führer verärgerten. Das erste war die Tatsache, dass Jesus den Mann am Sabbat heilte (Joh 5,16). Gemäß der Auslegung des mosaischen Gesetzes kamen die religiösen Führer zu dem Schluss, dass jegliche Arbeit, inklusive Wunder und Heilungen, am Sabbat verboten sei. In ihren Augen verstieß Jesus also gegen das heilige Gesetz Gottes.
Zweitens, nannte Jesus Gott seinen Vater und erhob damit den Anspruch, selbst Gott zu sein (Joh 5,18). Dieser Anspruch war in den Augen der religiösen Führer Gotteslästerung. Denn für die Juden war klar: Es gibt nur einen Gott (Dtn 6,4)! Der Edition C‑Kommentar zum Johannesevangelium erklärt die Logik hinter diesem Vorwurf gegen Jesus:
Biblisch gab es für das Judentum nur eine einzige Möglichkeit, an der Seite des Vaters eine zweite Gestalt zu sehen, die dennoch die Einheit des einen Gottes nicht sprengen durfte: den göttlicher Ehre teilhaftigen Sohn (Ps 2,7; 110,1ff.), der zugleich der göttliche Menschensohn (Dan 7,13) ist. Aber sollte der Zimmermannssohn von Nazareth mit diesem „Sohn“ identisch sein? Undenkbar! Deshalb kann es nur Lästerung sein, wenn Jesus behauptet, er sei dieser Sohn. (Maier 2007:211)
Wenn falsche Hermeneutik blind macht
Die religiösen Führer hatten das Alte Testament (AT) gründlich studiert und ihre Hermeneutik hatte sie zu dem Schluss geführt, dass der Sohn Gottes, der verheißene Messias, die Gottesherrschaft auf Erden beginnen würde. Nach ihrem Schriftverständnis, bedeutete dies, dass der Messias die Römer bezwingen und Israel von aller Unterdrückung befreien würde. Jesu Agenda der Feindesliebe und Vergebung war mit dieser Vorstellung eines kriegerischen Messias schwer vereinbar. Hinzu kam, dass Jesus, in den Augen der religiösen Führer immer wieder das mosaische Gesetz brach, was ihn als Messias disqualifizierte und als Gotteslästerer entlarvte.
Es war ihre (falsche) Auslegung des Alten Testaments, die die religiösen Führer blind machte für Jesus als den Messias und sie dazu brachte, ihn zu hassen und zu ermorden.
Hermeneutik und der Zweck der Bibel: Auf Jesus hinweisen
Jesus ging auf die beiden Vorwürfe der religiösen Führer ein (Joh 5,19) und antwortete ihnen in einem langen Monolog (Joh 5,19–47). Eines seiner Hauptargumente war: Ihr forscht in der Schrift, aber ihr könnt sie nicht verstehen, weil ihr mir nicht glaubt” (Joh 5,38–39). Denn „die Schrift weist auf mich hin“ (Joh 5,39 NGÜ).
Für Jesus lag der Schlüssel zum Verständnis des Alten Testaments in seinem eigenen Leben und Wirken, denn alles wies auf ihn selbst hin. (Dockery 1992:26)
Die jüdischen Führer haben die biblischen Texte missverstanden, weil sie ihren Zweck nicht erkannten. Der Zweck der biblischen Texte ist es, auf Christus hinzuweisen. Oder mit den Worten Martin Luthers: die Mitte der Schrift ist „was Christum lehrt“ (Härle 2022:132).
Eine der wichtigsten hermeneutischen Regeln ist, dass die ganze Bibel auf Jesus Christus hinweist und auch so verstanden werden muss. Wenn wir diese Wahrheit ignorieren, laufen wir Gefahr, die Schrift so misszuverstehen wie die jüdischen Führer und damit großen Schaden anzurichten. Diese Wahrheit zieht sich durch das Neue Testament und wird heute von vielen Theologen betont.
Verse im Johannesevangelium
Bereits am Anfang des Johannesevangeliums wird Jesus als derjenige vorgestellt, der die Verheißungen des Alten Testaments erfüllt:
Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz geschrieben hat und der auch bei den Propheten angekündigt ist! (Joh 1,45 NGÜ)
Jesus macht deutlich, dass Mose über ihn geschrieben hat (Joh 5,46). Und auf dem Weg nach Emmaus hielt er die vielleicht spektakulärste Predigt aller Zeiten: Jesus legte das ganze Alte Testament aus und zeigte, wie es auf ihn hinweist (Lk 24,27).
Verse im Hebräerbrief
Dass Jesus im Mittelpunkt steht, ist die Kernaussage des gesamten Hebräerbriefes. Dieser beginnt folgendermaßen (Hebräer 1,1–3):
Alles, was Gott in den vergangenen Jahren durch die Propheten stückweise seinem Volk zur Kenntnis gegeben hat, weist auf die endgültige Offenbarung »in einem, der Sohn ist«. (Edition C‑Kommentar, Ruager 2007:18)
Der Punkt des Hebräerbriefes ist, dass das Alte Testament keine vollständige Offenbarung des Wesens Gottes enthält, sondern nur bruchstückhafte Erkenntnisse. Es ist nur ein Schatten (Hebr 10,1) des Originals. Es dient dazu, auf Jesus zu verweisen, der allein „das vollkommene Abbild von Gottes Herrlichkeit, der unverfälschte Ausdruck seines Wesens“ ist (Hebr 1,3 NGÜ). Jesus Christus ist die zentrale Offenbarung der Bibel, denn in ihm allein, können wir, erkennen, wie Gott wirklich ist.
Christus ist nicht nur das Zentrum der Schrift, sondern das Zentrum des gesamten Universums:
15 Der Sohn ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene, der über der gesamten Schöpfung steht. 16 Denn durch ihn wurde alles erschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Könige und Herrscher, Mächte und Gewalten. Das ganze Universum wurde durch ihn geschaffen und hat in ihm sein Ziel. 17 Er war vor allem anderen da, und alles besteht durch ihn. (Kol 1,15–17 NGÜ)
Der Zweck der Bibel ist es, auf Jesus zu hinzuweisen und nur wenn wir sie entsprechend interpretieren, verstehen wir sie richtig.
Drei moderne Theologen
Karl Barth differenzierte zwischen Jesus und der Bibel. Jesus ist die entscheidende Offenbarung, um die es geht und die Bibel ist „nur“ das Medium, das auf Jesus verweist (Barth 2004:463). Barth kritisiert, dass die Bibel häufig als das Wort Gottes bezeichnet wird. Er betont, dass es nur ein Wort Gottes gibt (Joh 1,14) und das ist Jesus Christus (:512). Für Barth ist die Bibel nicht das Wort Gottes, sondern sie verweist auf das wahre Wort Gottes, auf Jesus.
In seinem Buch über die Inspiration der Schrift schlägt Peter Enns vor, dass unsere Hermeneutik „christotelic“ sein sollte. Telos ist das griechische Wort für „Ende“ oder „Erfüllung“. Die Bibel, laut Enns, „findet ihr eigentliches Ziel, ihren Zweck, ihr Telos in dem Ereignis, mit dem Gott selbst beschlossen hat, seinen Bund zu bekräftigen: Christus“ (2015:143–144).
In seinem Magnum Opus über Hermeneutik argumentiert Gregory Boyd:
Wenn Christus das endgültige Ziel von allem in der Schöpfung ist, dann ist er ganz sicher auch das endgültige Ziel von allem in der Schrift. Daher muss Jesus als „hermeneutischer Schlüssel” für die gesamte Schrift und die gesamte Wirklichkeit dienen (2017:41–42).
Auf über 1600 Seiten legt er die biblischen Grundlagen für eine jesuszentrierte Hermeneutik und zeigt, wie eine solche Hermeneutik, gerade im Blick auf schwierige Texte der Bibel konkret aussehen kann.
Warum ist das überhaupt wichtig für die Hermeneutik?
Dass eine jesuszentrierte Hermeneutik wichtig ist, steht außer Frage. Bei ihrer Umsetzung kommt es jedoch häufig zu zwei „Anwendungsfehlern“ auf die ich abschließend eingehen möchte.
Rechts vom Pferd gefallen: zu sehr übertrieben
Graeme Goldsworthy betont:
Jesus ist der einzige Vermittler zwischen Gott und Mensch. Er ist somit der hermeneutische Schlüssel für jedes Wort Gottes.… Die wichtigste Frage, die man jedem Text stellen muss, ist die, wie er von Jesus zeugt (2006:252).
Während ich Goldsworthy in der Betonung einer jesuszentrierten Hermeneutik uneingeschränkt zustimme, so möchte ich doch auch davor warnen, „Jesus“ in jeden Vers hineinzupressen und dadurch in der Exegese oder Predigt sehr einseitig zu werden.
Ein Beispiel: Das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen (Lukas 15,11–32). Wenn ich über diesen Text predige, möchte ich mehr sagen, als dass Jesus verlorene Söhne und Töchter zu Gott zurückbringt. Ich möchte auch etwas über Gott als Vater sagen und davor warnen, der verbitterte ältere Bruder zu sein.
Bird sagt es treffend:
Ja, „jede Geschichte flüstert seinen Namen”, aber Jesu Name ist nicht der einzige Name in jeder Geschichte, nicht die einzige Figur in jeder Geschichte, nicht die einzige Nebenhandlung in jeder Geschichte und nicht der einzige Punkt in jeder Geschichte (2021:183).
Links vom Pferd gefallen: nicht konsequent genug angewendet
Ich glaube, dass viele Christen von diesem Prinzip überzeugt sind, sich aber oft nicht trauen, es wirklich konsequent umzusetzen. Ich möchte das etwas näher erläutern.
Mini-Exkurs: Nicht alle Verse sind gleichwertig
Eine wichtige hermeneutische Regel ist, dass nicht alle Verse der Bibel die gleiche Autorität haben. In der Bibel findet sich eine zunehmende Offenbarung der Wahrheit. Viele Beispiele könnten hier angeführt werden, aber ich werde mich auf eines beschränken: Ex 21,24 und Mt 5,39; 18,22.
Gottes Gebot „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ war zur Zeit des Alten Testaments ein wichtiges Mittel, um grenzenlose Rache („Du hast mich verletzt, ich räche mich an deiner ganzen Familie.“) auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen. Gottes Plan für uns war immer Vergebung und nicht Rache, aber die Zeit des Alten Testaments war eine brutale Zeit und die Israeliten waren aufgrund ihrer kulturellen Prägung noch nicht bereit für die volle Offenbarung der Feindesliebe Gottes.
Deshalb hat sich Gott auf dieselbe Ebene wie die Israeliten begeben und sie so weit zu seiner Wahrheit geführt, wie es ihm zur damaligen Zeit möglich war. Aber sein wahrer Wille wird durch die Lehre Jesu deutlich: Gott will gar nicht, dass wir uns rächen! Wir können uns jetzt nicht einfach auf Ex 21,24 berufen und uns an unseren Feinden rächen. Damit würden wir einen AT-Bibelvers für unsere egoistischen Neigungen benutzen, um die höhere Offenbarung Jesu zu umgehen und für uns aufzuheben.
Unwürdige Gottesbilder
Diese wachsende Offenbarung der Bibel ist auch zu beachten, wenn es um Gottesbilder im Alten Testament geht. Viele Männer Gottes in der Kirchengeschichte (z. B. Origenes, Justin der Märtyrer, Irenäus, Gregor von Nyssa, Johannes Calvin) haben gepredigt, dass das AT Texte enthält, sogenannte „Akkommodationen Gottes“, die Gott in einer Weise beschreiben, die seiner nicht würdig ist und seinen wahren Charakter verzerren.
Im Laufe der Kirchengeschichte haben Theologen irritierende oder problematische Aspekte der Darstellung Gottes in der Heiligen Schrift damit erklärt, dass diese Darstellungen nicht die Art und Weise widerspiegeln, wie Gott tatsächlich ist; sie spiegeln vielmehr die Art und Weise wider, wie Gott seine Erscheinung anpassen musste, um den Beschränkungen und dem gefallenen Zustand der Menschen gerecht zu werden. (Boyd 2017:399)
Eine Stelle im AT, in der Gottes Handeln mit dem Leben und der Lehre Jesu schwer vereinbar ist, ist der Auftrag, alle Kanaaniter ohne Gnade abzuschlachten (Dtn 7,2). Ein Gott, der Erbarmen verbietet und Völkermord befiehlt, ist schwer in Einklang zu bringen mit dem Gott der Vergebung und der Feindesliebe, den Jesus offenbart hat.
Es ist problematisch, solche Gottesbeschreibungen des AT wortwörtlich zu verstehen und damit über die Offenbarung des Vaters durch Jesus zu stellen. Solche wörtlichen Interpretationen verwenden biblische Texte, die auf Jesus hinweisen sollen, und spielen sie gegen das Wort Gottes (=Jesus) selbst aus. Ich denke, hier brauchen wir den Mut, neu darüber nachzudenken, wie wir solche Texte im Licht Jesu verstehen können. Und hier gibt es wohl keine schnellen und einfachen Antworten.
Fazit
Natürlich ist es wahr, dass die Bibel vielerlei Zwecke erfüllt.
Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen. (2 Tim 3,16 NGÜ)
Aber ultimativ verweist sie auf Jesus, der das Zentrum von allem ist (Kol 1,15–17).
Um der christlichen Lehre, wie sie von den Aposteln überliefert wurde, treu zu folgen, muss man die gesamte Heilige Schrift auf den Erlöser ausrichten (Payton 2019:63–64).
Nur wenn wir die Bibel so lesen, dass sie uns hilft, Jesus besser kennenzulernen, seiner Lehre zu gehorchen und ihm ähnlicher zu werden, dann lesen wir sie richtig. Wo immer wir biblische Texte benutzen, um das Leben und die Lehre Jesu zu untergraben oder zu umgehen, ähneln wir den jüdischen Führern zur Zeit Jesu: Wir mögen Kenner der Schrift sein, aber wir sind blind, das Wort Gottes (=Jesus) wirklich zu erkennen.
Bibliografie zur Hermeneutik
Barth, K., Bromiley, G.W. and Torrance, T.F. (2004) Church dogmatics: The doctrine of the Word of God, Part 2. London; New York: T&T Clark, p. 463.
Bird, M.F. (2021) Seven Things I Wish Christians Knew about the Bible. Grand Rapids, MI: Zondervan Reflective, p. 183.
Boyd, G.A. (2017) The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross. Minneapolis, MN: Fortress Press, pp. 41–42.
Dockery, D.S. (1992) Biblical Interpretation Then and Now: Contemporary Hermeneutics in the Light of the Early Church (Grand Rapids: Baker), 26.
Boyd, G.A. (2017) The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross. Minneapolis, MN: Fortress Press.
Enns, P. (2015) Inspiration and Incarnation: Evangelicals and the Problem of the Old Testament. Second Edition. Grand Rapids, MI: Baker Academic, p. 143.
Goldsworthy, G. (2006) Gospel-Centered Hermeneutics: Foundations and Principles of Evangelical Biblical Interpretation (Downers Grove, IL: IVP Academic), 252.
Boyd, G.A. (2017) The Crucifixion of the Warrior God: Interpreting the Old Testament’s Violent Portraits of God in Light of the Cross. Minneapolis, MN: Fortress Press.
Härle, W. (2022) Dogmatik. 6., durchgesehene, überarbeitete und bibliographisch ergänzte Auflage. Berlin; Boston: De Gruyter (De Gruyter Studium), p. 132.
Maier, G. (2007) Johannes-Evangelium. Edited by G. Maier. Holzgerlingen: Hänssler (Edition C Bibelkommentar Neues Testament), p. 211.
Payton, J.R., Jr. (2019) The Victory of the Cross: Salvation in Eastern Orthodoxy. Downers Grove, IL: IVP Academic: An Imprint of InterVarsity Press, pp. 63–64.
Ruager, S. (2007) “Hebräerbrief,” in Maier, G. (ed.) 1. & 2. Petrusbrief, 1., 2. & 3. Johannesbrief, Hebräerbrief, Jakobusbrief und Judasbrief. Holzgerlingen: Hänssler (Edition C Bibelkommentar Neues Testament), p. 18.
Vielen Dank für diese wertvollen Ausführungen. lg Jürgen
Danke für das ermutigende Feedback.
Zuerst mal danke für diesen Beitrag.
Die Pharisäer hatten noch ein weiteres Problem. Jesus ist zwar in Judäa geboren, aber in Galiläa aufgewachsen. So dachten sie, dass er es gar nicht sein kann.
Deshalb kommt noch hinzu, dass man jemanden kennenlernen muss, bevor man ihn beurteilen kann. Denn anhand der Zeichen hätten sie erkennen müssen, was ja beispielsweise Nikodemus tat, der ja einer von ihnen war. Aber anstatt ihn genau zu prüfen wurden sie eifersüchtig.
Danke für die wertvolle Ergänzung!