Historisches und biblisches Israel: Drei Überblicke zum Alten Testament

Von Manuel Becker

Altes Testament, Geschichte, Israel, Rezension
Vor 8 Monaten

Han­delt es sich bei den bibli­schen Geschich­ten im Alten Tes­ta­ment um akku­ra­te Berich­te über his­to­ri­sche Ereig­nis­se? Wie ist das Alte Tes­ta­ment über­haupt ent­stan­den? Die­se und ande­re span­nen­de Fra­gen beant­wor­tet Rein­hard Kratz in sei­nem Buch „His­to­ri­sches und bibli­sches Isra­el. In die­ser kom­pak­ten Rezen­si­on kön­nen Sie sich in 15 Min. einen Über­blick über das Buch verschaffen. 

Wie entstand eigentlich das Alte Testament?

Haben Sie sich schon ein­mal gefragt, wie die Schrif­ten des Alten Tes­ta­ments zur Hebräi­schen Bibel wur­den? Das Werk His­to­ri­sches und bibli­sches Isra­el: Drei Über­bli­cke zum Alten Tes­ta­ment ver­sucht genau die­se Fra­ge zu beant­wor­ten. Der Autor, Rein­hard Gre­gor Kratz, fasst das Ziel des Buches in sei­ner Ein­lei­tung wie folgt zusammen:

Im Zen­trum des Buches und ins­be­son­de­re des drit­ten Über­blicks steht die fun­da­men­ta­le, aber noch unge­lös­te Fra­ge, unter wel­chen his­to­ri­schen und sozio­lo­gi­schen Bedin­gun­gen und auf wel­che Wei­se das Alte Tes­ta­ment – in Gestalt der Hebräi­schen Bibel bzw. des grie­chi­schen Alten Tes­ta­ments – zur auto­ri­ta­ti­ven Leit­über­lie­fe­rung, d. h. zum Kanon der hei­li­gen Schrif­ten des Juden­tums wie des Chris­ten­tums gewor­den ist. (Sei­te xiii)

Beim Ver­such, die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, wirft Kratz jedoch eine Viel­zahl wei­te­rer span­nen­der Fra­gen auf. Wie his­to­risch sind die Berich­te in der Hebräi­schen Bibel? Was bedeu­tet die Dis­kre­panz zwi­schen bibli­schen Bericht und his­to­ri­scher Wirk­lich­keit für die Her­me­neu­tik der Bibel? Müs­sen wir den his­to­ri­schen Kon­text der bibli­schen Tex­te ken­nen, um sie rich­tig ver­ste­hen zu kön­nen? Die­se Fra­gen machen das Buch zu einer gedan­ken­an­re­gen­den Lek­tü­re, die dem Leser hilft, die Hebräi­sche Bibel aus ganz neu­en Blick­win­keln zu entdecken.

Wer ist Reinhard Gregor Kratz?

Rein­hard Gre­gor Kratz (* 25. Juli 1957 in Offen­bach am Main) ist ein deut­scher evan­ge­li­scher Theo­lo­ge und seit 1995 Pro­fes­sor für Altes Tes­ta­ment an der Georg-August-Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen. Sei­ne For­schungs­schwer­punk­te sind vor allem die Lite­ra­tur- und Redak­ti­ons­ge­schich­te des Alten Tes­ta­ments sowie die alt­tes­ta­ment­li­che Pro­phe­tie, ins­be­son­de­re Deu­tero­je­sa­ja und Daniel.

Wie ist das Buch „Historisches und biblisches Israel” aufgebaut?

Kratz ist überzeugt:

Das Isra­el der bibli­schen Tra­di­ti­on ist nicht das Isra­el der Geschich­te“ (S.141).

Dem­entspre­chend unter­schei­det Kratz zwi­schen der bibli­schen Tra­di­ti­on und der his­to­ri­schen Geschich­te Isra­els und Judas. Sein Ziel mit „His­to­ri­sches und bibli­sches Isra­el” ist es, sach­lich die Unter­schie­de her­aus­zu­ar­bei­ten und zu fra­gen, was die­se für die Ent­ste­hung der Hebräi­schen Bibel bedeu­ten. Wäh­rend die­se bei­den Aspek­te bereits in vie­len Büchern dis­ku­tiert und unter­sucht wur­den, ergänzt Kratz einen drit­ten Aspekt: die jüdi­schen Archi­ve. Die­ser detail­lier­te Über­blick über die Fund­or­te jüdi­scher Schrif­ten macht das Buch einzigartig.

Kratz fasst das Allein­stel­lungs­merk­mal sei­nes Buches wie folgt zusammen:

Das Beson­de­re die­ses Buches liegt zum einen in dem metho­di­schen Zugriff zu den drei Berei­chen, der in man­chem von den gän­gi­gen Dar­stel­lun­gen abweicht, zum ande­ren in der Ver­bin­dung der bei­den ers­ten Berei­che mit dem drit­ten, der bewußt ans Ende gesetzt wur­de. (S. xii)

Dar­aus ergibt sich die drei­tei­li­ge Glie­de­rung des Buches. In der kom­pak­ten Ein­füh­rung (S. xi-xliii) wer­den das The­ma des Buches, die Ter­mi­no­lo­gie und der metho­di­sche Ansatz vor­ge­stellt. Da es sich bei der Logos-Ver­si­on um die zwei­te, über­ar­bei­te­te und erwei­ter­te Auf­la­ge des Buches han­delt, geht der Autor auch auf die Kri­tik­punk­te ein, die an dem Buch geäu­ßert wur­den, und erläu­tert, war­um die­se nicht stich­hal­tig sind, bzw. wie sie in der zwei­ten Auf­la­ge berück­sich­tigt wurden.

Im ers­ten Teil des Buches (S. 1–78) ent­wi­ckelt Kratz sei­ne Rekon­struk­ti­on der his­to­ri­schen Geschich­te Isra­els und Judas.

Der zwei­te Teil (S. 79–180) ist der Ent­ste­hung der Tex­te der Hebräi­schen Bibel gewid­met und umfasst vie­le Aspek­te, die in jeder Ein­lei­tung in das Alte Tes­ta­ment adres­siert wer­den. Hier wer­den die erstaun­li­chen Vor­aus­set­zun­gen erläu­tert, unter denen die Israe­li­ten eine so pro­fi­lier­te Schrift­kul­tur ent­wi­ckeln konn­ten. Kratz skiz­ziert die Über­gän­ge in die bibli­sche Tra­di­ti­on, die durch ver­schie­de­ne his­to­ri­sche Ereig­nis­se und theo­lo­gi­sche Refle­xio­nen aus­ge­löst wurden.

Zudem stellt er die Text­sor­ten vor, die in der Hebräi­schen Bibel zu fin­den sind. Nach der jüdi­schen Ein­tei­lung wer­den die­se in drei Tei­le geglie­dert: das Gesetz (Tora), die Pro­phe­ten (Nebi­im) und die Schrif­ten (Ketu­bim). Kratz erwähnt auch die Apo­kry­phen und Pseu­d­epi­gra­phien, zusätz­li­che Tex­te, die nicht in den Kanon des Alten Tes­ta­ments auf­ge­nom­men wur­den, aber den­noch wich­ti­ge Zeug­nis­se der bibli­schen Tra­di­ti­on sind.

Im drit­ten Teil (S. 181–300)

...wer­den schließ­lich die uns bekann­ten, archäo­lo­gisch nach­ge­wie­se­nen oder lite­ra­risch bezeug­ten Orte betrach­tet und his­to­risch ein­ge­ord­net, an denen bibli­sche und nicht­bi­bli­sche jüdi­sche Tex­te auf­be­wahrt, abge­schrie­ben, bear­bei­tet, kom­men­tiert, fort­ge­schrie­ben oder über­setzt wur­den. Die frag­li­chen Text­de­po­si­ta – Ele­phan­ti­ne, Al-Jahu­da, Qum­ran, Gari­zim, Jeru­sa­lem, Alex­an­dria – datie­ren (fast) alle aus der zwei­ten Hälf­te des ers­ten Jahr­tau­sends v. Chr. und reprä­sen­tie­ren damit die Geschich­te des wer­den­den Juden­tums. (S. xii–xiii)

Im Anhang des Buches fin­den sich hilf­rei­che Kar­ten, eine Zeit­ta­fel, ein Glos­sar, die Biblio­gra­fie und ein Stel­len­re­gis­ter.

Arbeitsmethodik des Autors

Wie bereits erwähnt ist Kratz davon über­zeugt, dass das

Isra­el der bibli­schen Tra­di­ti­on nicht mit dem Isra­el der Geschich­te gleich­ge­setzt wer­den kann. (S. xiii)

Wäh­rend bei­de in enger Ver­bin­dung zuein­an­der ste­hen und sich gegen­sei­tig beein­flus­sen, wer­den sie in dem Buch getrennt von­ein­an­der dargestellt.

Die Rekon­struk­ti­on der Geschich­te Isra­els und Judas folgt nicht,

wie viel­fach üblich, dem bibli­schen Nar­ra­tiv, son­dern basiert im wesent­li­chen auf den archäo­lo­gi­schen und epi­gra­phi­schen Befun­den sowie zusätz­li­chen Infor­ma­tio­nen, die auf dem Wege der kri­ti­schen Ana­ly­se der bibli­schen Quel­len und der his­to­ri­schen Ana­lo­gie gewon­nen wer­den kön­nen. (S. xiv)

Die Rekon­struk­ti­on der bibli­schen Tradition

hin­ge­gen folgt nicht ein­fach dem tat­säch­li­chen oder ver­meint­li­chen Ver­lauf der Geschich­te Isra­els und Judas, son­dern beruht auf der kri­ti­schen Ana­ly­se der lite­ra­ri­schen Quel­len, aus der eine rela­ti­ve Chro­no­lo­gie der Tra­di­ti­on resul­tiert. (S. xiv)

Im drit­ten Teil

kom­men die bei­den ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven der his­to­ri­schen und lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Betrach­tungs­wei­se gewis­ser­ma­ßen zusam­men. In den Archi­ven begeg­nen wir sowohl archäo­lo­gi­schen und epi­gra­phi­schen als auch lite­ra­ri­schen Zeug­nis­sen für die Geschich­te Isra­els und Judas, die ein­mal mehr die Geschich­te, das ande­re Mal mehr die Tra­di­ti­on und gele­gent­lich bei­des bezeu­gen. (S. xv)

Differenzierung der Quellen

Die Dif­fe­ren­zie­rung der Quel­len gestal­tet sich zum Teil schwie­rig. Kratz unter­schei­det zwi­schen archäo­lo­gi­schen (epi­gra­phi­schen) und lite­ra­ri­schen (bibli­schen) Quel­len. Bei den lite­ra­ri­schen Quel­len unter­schei­det er wei­ter zwi­schen Quel­len aus dem „alten Isra­el“ (vor­exi­li­sche Zeit) und Quel­len aus dem „Juden­tum“ (nach­ex­i­li­sche Zeit). Damit folgt Kratz dem Bei­spiel von Juli­us Well­hau­sen (S. xv), wohl­wis­send, dass auch die­se bei­den Kate­go­rien nicht immer so ein­deu­tig sind, wie es wün­schens­wert wäre.

Thesen mit weitreichenden Konsequenzen

Nie­mand liest die Bibel mit einem voll­kom­men neu­tra­len Blick. Wir alle lesen und inter­pre­tie­ren die Bibel durch die Bril­le unse­rer Welt­an­schau­ung und mit­hil­fe der her­me­neu­ti­schen Grund­sät­ze, die uns unse­re geist­li­che Tra­di­ti­on gelehrt hat. Einer die­ser Grund­sät­ze lau­tet im evan­ge­li­ka­len Chris­ten­tum gewöhn­lich, dass alle Geschich­ten der Bibel sich his­to­risch so zuge­tra­gen haben, wie sie beschrie­ben werden.

Das Buch von Kratz macht mit sei­ner Fül­le an his­to­ri­schen Fak­ten klar, dass die­se The­se mit den vor­han­de­nen Fak­ten nur sehr schwer in Ein­klang zu brin­gen ist. Mit unzäh­li­gen Bei­spie­len schafft er bei sei­nen Lesern ein gesun­des Bewusst­sein dafür, dass wir es im Umgang mit bibli­schen Tex­ten mit drei Ebe­nen zu tun haben:

Die Kon­struk­ti­on bewegt sich auf drei Ebe­nen, die fort­wäh­rend bedacht und auf­ein­an­der bezo­gen wer­den müs­sen. Die drei Ebe­nen sind: ers­tens die Geschich­te selbst, also das, was war; zwei­tens das Bild von Geschich­te, das die uns ver­füg­ba­ren zeit­ge­nös­si­schen oder spä­te­ren Quel­len von dem, was war, ver­mit­teln; drit­tens das Bild der Geschich­te, das sich der moder­ne His­to­ri­ker von dem macht, was war und wie es uns die erhal­te­nen Quel­len ver­mit­teln. (S. 5)

Ich glau­be, dass ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­ständ­nis die­ser Rea­li­tät zu einem dif­fe­ren­zier­ten Umgang mit den bibli­schen Tex­ten führt unf für eine fun­dier­te Exege­se uner­läss­lich ist. Die Tat­sa­che, dass die vor­lie­gen­den archäo­lo­gi­schen Erkennt­nis­se manch­mal nur schwer mit den bibli­schen Berich­ten in Ein­klang zu brin­gen sind, for­dert uns her­aus, unse­re her­me­neu­ti­schen Grund­sät­ze zu über­den­ken. Dies ist aber auch eine Chan­ce, neue Ant­wor­ten auf theo­lo­gi­sche Pro­ble­me zu finden.

Die Gewalt im Alten Testament

Ein in der Gegen­wart viel dis­ku­tier­tes The­ma ist das Pro­blem der Gewalt im Alten Tes­ta­ment. Vie­le Chris­ten hal­ten bei­spiels­wei­se die Auf­for­de­rung Got­tes in 5. Mose 7,2, alle Kanaa­ni­ter gna­den­los zu töten, für unver­ein­bar mit dem Got­tes­bild, das Jesus uns offen­bart hat. Kratz stellt die The­se auf, dass die­ser kanaa­ni­ti­scher Völ­ker­mord, von dem im Buch Josua berich­tet wird, nie wirk­lich his­to­risch so gesche­hen ist:

Im Lich­te neue­rer archäo­lo­gi­scher Erkennt­nis­se und der kri­ti­schen Ana­ly­se der bibli­schen Über­lie­fe­rung bie­tet sich eine ande­re Erklä­rung an: die Annah­me einer fried­li­chen Infil­tra­ti­on des Berg­lan­des, und zwar mehr­heit­lich nicht von außen, son­dern von innen.19 Die »Land­nah­me« der Israe­li­ten war dem­nach Teil eines inter­nen bevöl­ke­rungs­ge­schicht­li­chen Umschich­tungs­pro­zes­ses, der im Zuge des Umbruchs an der Wen­de von der Spät­bron­ze- zur Eisen­zeit statt­fand und bei dem der Gegen­satz von Stadt und Land eine wesent­li­che Rol­le spiel­te. (S. 13)

Wenn dies tat­säch­lich das his­to­ri­sche Gesche­hen dar­stellt, muss man sich fra­gen, wel­che Absicht der Ver­fas­ser des Josuabu­ches hat­te, als er aus einer fried­li­chen Land­nah­me eine gewalt­sa­me Erobe­rungs­ge­schich­te mach­te. Es ist anzu­neh­men, dass er eine bestimm­te Bot­schaft ver­mit­teln woll­te. Die­se ver­pack­te er in eine Geschich­te, die er mit viel Bedacht und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen so gestal­te­te, dass sei­ne Leser die theo­lo­gi­sche Bot­schaft leicht ver­ste­hen konnten.

Wahre Mythen

C.S. Lewis nann­te sol­che „hand­ge­fer­tig­ten“ Geschich­ten, die eine tie­fe Wahr­heit ver­mit­teln sol­len, aber nicht hun­dert­pro­zen­tig his­to­risch sind, „true myth“ also „wah­re Mythen.“ Eini­ge die­ser Mythen basie­ren auf his­to­ri­schen Ereig­nis­sen, wäh­rend ande­re Mythen frei erfun­den sind. In der Zeit der bibli­schen Autoren war es durch­aus üblich, das„ was his­to­risch gesche­hen war, anzu­pas­sen und zu ver­än­dern, um durch die­se neu erfun­de­ne Geschich­te eine tie­fe­re Wahr­heit ver­mit­teln zu kön­nen. Das Kom­mu­ni­zie­ren von his­to­ri­schen Tat­sa­chen war nicht das Ziel die­ser Geschich­ten und wur­de daher auch nicht erwartet.

Ein Bei­spiel hier­für wäre, dass die Schöp­fungs­ge­schich­te nicht in ers­ter Linie erklä­ren will, wie die Welt ent­stan­den ist, son­dern viel­mehr die Fra­ge beant­wor­ten will, wozu wir Men­schen geschaf­fen sind und dass Gott der Schöp­fer ist, der alles Leben ins Dasein geru­fen hat. Die Exis­tenz sol­cher wah­ren Mythen in der Bibel macht alles etwas kom­pli­zier­ter, weil das Nach­den­ken über die­se Din­ge eine Viel­zahl an Fra­gen aufwirft.

Historische Fakten und wahre Mythen auseinanderhalten

Wie kön­nen wir erken­nen, wel­che bibli­schen Geschich­ten his­to­risch sind und wel­che eher sol­chen wah­ren Mythen ent­spre­chen, die eine bestim­me Bot­schaft ver­mit­teln wol­len? Gefähr­den sol­che wah­ren Mythen die Auto­ri­tät und Glaub­wür­dig­keit der Bibel? Sind die archäo­lo­gi­schen Erkennt­nis­se zuver­läs­sig oder las­sen sie Spiel­raum für ver­schie­de­ne Inter­pre­ta­tio­nen des­sen, was his­to­risch gesche­hen ist? Woher wis­sen wir, wie Gott wirk­lich ist?

Was ich an dem Werk „His­to­ri­sches und bibli­sches Isra­el“ sehr schät­ze, ist, dass Kratz sehr sach­lich die aktu­el­len archäo­lo­gi­schen Erkennt­nis­se rekon­stru­iert und ver­sucht, sie mit der bibli­schen Über­lie­fe­rung in Ein­klang zu brin­gen. Er ver­sucht her­aus­zu­ar­bei­ten, wie sich bei­des gegen­sei­tig beein­flusst hat, ohne unter dem Druck zu ste­hen, die his­to­ri­schen Fak­ten beschö­ni­gen zu müs­sen, um die bibli­sche Tra­di­ti­on „ver­tei­di­gen“ zu kön­nen. Eine sinn­vol­le Rekon­struk­ti­on zu erschaf­fen ist nicht immer ein­fach und das gibt Kratz auch offen zu:

Wenn man ehr­lich ist, wird man zuge­ben müs­sen, daß wir über all die­se Fra­gen – so oder so – nur mehr oder weni­ger gut begrün­de­te Mut­ma­ßun­gen anstel­len kön­nen. (S. xxii)

Die­ser Hin­weis dar­auf, dass vie­les im Buch „gut begrün­de­te Mut­ma­ßun­gen“ sind, die auf dem der­zei­ti­gen Stand unse­res Wis­sens basie­ren, soll­te bei der Lek­tü­re im Hin­ter­kopf behal­ten werden.

Von lokaler Gottheit zum einzigen Gott

Eine span­nen­de The­se von Kratz fand ich sei­ne Rekon­struk­ti­on, wie sich das Got­tes­bild Isra­els von einer loka­len Gott­heit zum ein­zi­gen Gott der gan­zen Welt entwickelte:

Mit dem poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Auf­stieg [Isra­els] ging der Auf­stieg des Got­tes Jhwh als Gott des Rei­ches Isra­el ein­her. Jhwh war eine Wet­ter- und Berg­gott­heit vom Typ des syri­schen Baal und ara­mäi­schen Hadad, der mit der Zeit auch Züge des höchs­ten Got­tes El und der Son­nen­gott­heit (Scha­masch, weib­lich Schap­su) annahm. Auf der Ebe­ne der loka­len Kul­te in den Fami­li­en und an den regio­na­len Höhen­hei­lig­tü­mern wur­de Jhwh zusam­men mit sei­ner Gemah­lin Asche­ra und neben ande­ren Göt­tern oder gött­li­chen Wesen ver­ehrt, die nach dem Zeug­nis der Inschrif­ten (Kun­til­let ‘Ajrud, Mescha, Deir ‘Alla) von dem nord­west­se­mi­ti­schen Pan­the­on des 2. Jahr­tau­sends v. Chr. in die­ser Regi­on noch übrig geblie­ben und in der kanaa­näi­schen Misch­be­völ­ke­rung behei­ma­tet waren. Ver­mut­lich auf dem Wege der israe­li­ti­schen Dynas­tien stieg die­ser Jhwh in Gestalt des »Jhwh von Sama­ria« auch zur Reichs­gott­heit auf, so wie in Ammon der Gott Mil­kom oder in Moab der Gott Kamosch. (…) Erst nach dem Unter­gang der bei­den Rei­che wan­del­te sich Jhwh zu dem einen und ein­zi­gen Gott, der kei­ne ande­ren Göt­ter neben sich dul­det und außer dem es kei­nen ande­ren gibt. (S. 27–28)

Soll­te Kratz mit sei­ner The­se Recht haben, so wür­de dies auf eine ste­tig wach­sen­de Erkennt­nis Got­tes durch die Zeit und die Bibel hin­durch hin­wei­sen. Dem­nach könn­ten älte­re Got­tes­bil­der nur Akkom­mo­da­tio­nen Got­tes sein und nicht Got­tes wah­ren Cha­rak­ter wider­spie­geln. Wie Gott wirk­lich ist, kön­nen wir dem­nach nur dar­an erken­nen, wie Jesu uns Gott offen­bart hat.

Schreiberschulen

Für mein Ver­ständ­nis, wie die bibli­schen Tex­te ent­stan­den sind, war es beson­ders hilf­reich zu ler­nen, dass es damals Schrei­ber­schu­len und Schrei­ber­fa­mi­li­en gab:

Vie­les spricht dafür, daß zur Aus­bil­dung der Schrei­ber Schu­len ein­ge­rich­tet wur­den. Die Aus­bil­dung fand aber auch in dar­auf spe­zia­li­sier­ten Schrei­ber­fa­mi­li­en statt, die ihr Wis­sen von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ga­ben. Hier wie dort wur­de nicht nur das Lesen und Schrei­ben bei­gebracht, son­dern eine mög­lichst umfas­sen­de Bil­dung ver­mit­telt, die die Absol­ven­ten befä­hig­te, den Dienst bei Hof oder am Tem­pel zu ver­se­hen. Die ange­hen­den Schrei­ber wur­den mit den Tra­di­tio­nen und Lite­ra­tu­ren ihrer Kul­tur ver­traut gemacht und zum rich­ti­gen Ver­hal­ten im Umgang mit sich selbst und ande­ren Men­schen erzo­gen. Die Bil­dungs­ge­hal­te wur­den im Rah­men der soge­nann­ten Weis­heit gesam­melt und tra­diert. (S. 81–82)

Die­se pro­fes­sio­nel­len Schrei­ber tru­gen dazu bei, dass aus den münd­li­chen Tra­di­tio­nen bibli­sche Tex­te wurden.

Sachlich. Akademisch. Gut strukturiert.

Das gan­ze Buch ist sehr sach­lich geschrie­ben. Kratz prä­sen­tiert die aktu­el­len archäo­lo­gi­schen Fak­ten, die wir haben, und ich den­ke, er tut dies in einer sehr ange­mes­se­nen und fai­ren Art und Wei­se. Kratz ver­wen­det Wör­ter und Aus­drü­cke wie wie „vie­les spricht dafür“, „wenn man ehr­lich ist“ oder „ver­mut­lich“, um zu signa­li­sie­ren, wie sei­ne Aus­sa­gen­zu bewer­ten sind. Das zeugt von Demut und Integrität.

Das Buch ist auf aka­de­mi­schem Niveau ver­fasst, um die nöti­ge Genau­ig­keit zu gewähr­leis­ten. Dem­entspre­chend han­delt es sich nicht um eine leich­te Lek­tü­re. Kratz nutzt ent­spre­chen­des Fach­vo­ka­bu­lar, bie­tet auch ein hilf­rei­ches Glos­sar am Ende des Buches (sie­he Screen­shot), in dem alle schwie­ri­gen Begrif­fe erklärt werden.

Hilf­reich ist auch die Zeit­ta­fel im Anhang. Sie hät­te mei­nes Erach­tens sogar noch etwas aus­führ­li­cher sein kön­nen, bie­tet aber alle wich­ti­gen Eck­da­ten, damit man sich als Leser des Alten Tes­ta­ments auch zeit­lich ori­en­tie­ren kann.

Das Buch ist sehr klar struk­tu­riert und das Inhalts­ver­zeich­nis und das Stel­len­re­gis­ter hel­fen dem Leser, schnell die Infor­ma­tio­nen zu fin­den, die ihn interessieren.

Vorteile der Nutzung in Logos

Zwei Vor­tei­le der Logos-Ver­si­on fand ich bei die­sem Buch beson­ders hilfreich:

  1. Im gan­zen Buch ver­weist Kratz auf vie­le unter­schied­li­che Quel­len, wie z.B. 4QMMT oder Bar 6. Logos hat die­se Refe­ren­zen getaggt, so, dass sie mir ange­zeigt wer­den, sobald ich mit der Maus dar­über fah­re. So kann man schnell Infor­ma­tio­nen nach­schla­gen, ohne lan­ge suchen zu müssen.
  2. Kratz ver­wen­det Fuß­no­ten, um Gedan­ken­gän­ge zu ver­tie­fen oder zusätz­li­che Infor­ma­tio­nen zur Ver­fü­gung zu stel­len. Auch die­se Fuß­no­ten sind in der Logos-Ver­si­on ohne läs­ti­ges Blät­tern leicht zugänglich.

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Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine vier Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, liest er gern theologische Bücher oder nutzt Logos, um sich in die Bibel zu vertiefen. Jetzt, wo sein MA-Studium an der Akademie für Weltmission abgeschlossen ist, plant er bald einen PhD in Theologie dranzuhängen. Er ist der Autor des beliebten Kinderbuchs „Der große Sieg“, welches das Evangelium in einer packenden Bildergeschichte für Jung und Alt illustriert.

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