Verschiedene Möglichkeiten das Hohelied zu verstehen 2/​2

Von Manuel Becker

Bibelstudium, Exegese, Hohelied
Vor 3 Monaten

Hoch­span­nend! Wel­che Bedeu­tung hat das Hohe­lied für den moder­nen Leser? Lesen Sie in 12 Min., war­um das Hohe­lied auch heu­te noch hoch­re­le­vant ist und wel­che wich­ti­ge Bot­schaft es für unse­re Gesell­schaft hat. 

Das Hohelied-was kann heute aus dem Buch gelernt werden?

Im ers­ten Teil habe ich die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten auf­ge­zeigt, wie das Hohe­lied von unter­schied­li­chen Theo­lo­gen ver­stan­den wird. Dabei wur­de klar, dass es nicht ganz so ein­fach ist, ganz genau zu sagen, wie die­ses Buch mit letz­ter Sicher­heit zu ver­ste­hen ist. Ich den­ke, das Hohe­lied hat trotz­dem eine wich­ti­ge Bot­schaft auch für unse­re Zeit. Um die theo­lo­gi­sche Bedeu­tung des Hohe­lied und den Nut­zen des Hohe­lied für den moder­nen Leser soll es in die­sem zwei­ten Teil gehen.

Stellung des Hohelied im Kanon

In der Bibel hat das Hohelied

sei­nen Platz im Abschnitt der Lehr­schrif­ten: Hiob, Psal­ter, Sprü­che, Pre­di­ger und Hohe­lied. Die Anord­nung ist chro­no­lo­gisch zu ver­ste­hen: Die Erzäh­lung über Hiob han­delt in der Zeit der Erz­vä­ter; der Psal­ter ist in der Haupt­sa­che David zuge­ord­net und die drei fol­gen­den Schrif­ten sei­nem Sohn Salo­mo (Stein­berg 2014:25).

Damit zählt das Hohe­lied zur Weis­heits­li­te­ra­tur, weil es den mit­mensch­li­chen Umgang, „eben den der Lie­be zwi­schen Mann und Frau“ zum The­ma hat (Egel­kraut 2012:771).

Im Juden­tum ist das Hohe­lied Teil der Ketu­vim und seit dem Mit­tel­al­ter auch Teil der Megil­lot (Rut, Ester, Pre­di­ger, Hohe­lied und Kla­ge­lie­der), die im Zusam­men­hang mit bestimm­ten jüdi­schen Fes­ten vor­ge­le­sen wer­den (Stein­berg 2014:26). Das Hohe­lied wird tra­di­tio­nell am ers­ten Tag des Pas­sah­fes­tes gele­sen (:26).

Stein­berg ver­steht das Hohe­lied als

den Abschluss einer weis­heit­li­chen Rei­he, die aus den vier Büchern Hiob, Sprü­che, Pre­di­ger und Hohe­lied besteht. Die Rei­he beginnt mit der Auf­ar­bei­tung von Leid und endet mit einem Höhe­punkt an Lebens­freu­de (:26).

Das Hohe­lied macht die Auf­for­de­rung des Pre­di­gers zum Genuss des Lebens (Koh 9,7–9) kon­kret. Das Hohe­lied ist die Ein­la­dung, die Lie­be zwi­schen Mann und Frau „dank­bar aus Got­tes Hand zu neh­men, sie zu genie­ßen und sie bewusst zu leben und zu gestal­ten“ (:32).

Theologische Dimension des Hohelied

Theologische Dimension der allegorisch-typologischen Auslegung

Kuhl behaup­tet, dass das Hohe­lied „von der ers­ten bis zur letz­ten Zei­le so ohne Gott und ohne jede Reli­gi­on“ ist, dass es ver­wun­der­lich ist, dass es über­haupt in den bibli­schen Kanon gekom­men ist (Egel­kraut 2012:785). Gera­de des­halb wird für eine theo­lo­gi­sche Deu­tung des Hohe­lie­des gewöhn­lich auf eine alle­go­ri­sche oder typo­lo­gi­sche Aus­le­gung zurück­ge­grif­fen, die Got­tes Lie­be zu sei­nem Volk betont. In die­sem Kon­text wird auch oft betont, dass Gott ein eifer­süch­ti­ger Gott ist, der will, dass wir ihm und sei­nem Bund mit uns treu sind (Akin 2015:Hld 1,1–4).

Theologische Dimension des Hoheliedes als eine Sammlung von Liebesgedichten

Nur weil das Hohe­lied eine Samm­lung von Lie­bes­ge­dich­ten ist, bedeu­tet dies nicht, dass es theo­lo­gisch unbe­deu­tend ist. Egel­kraut betont, dass das Hohe­lied nichts Ande­res will, „als den Reich­tum und die Tie­fe der Lie­be zwi­schen Mann und Frau dar­stel­len, die eine Gabe der Lie­be Got­tes ist“ (2012:786). Das Hohe­lied betont die Zen­tra­li­tät der Lie­be zwi­schen Mann und Frau. Auch wenn es im Hohe­lied spe­zi­fisch um die ero­ti­sche Lie­be geht, lässt sich die Wich­tig­keit der Lie­be auf alle Bezie­hun­gen im Leben aus­wei­ten. So beto­nen auch Jesus (Matt 22,37–40) und Pau­lus (1 Kor 13,2+13) die Prio­ri­sie­rung der Lie­be. Die Zen­tra­li­tät der Lie­be im bibli­schen Kanon wie­der­um ver­weist dar­auf, dass Gott selbst Lie­be ist (1 Joh 4,8).

Praktischer Nutzen des Hohelied

Ich den­ke nicht, dass vie­le Chris­ten viel Geduld und Inter­es­se haben zu for­schen und zu rät­seln, wann das Hohe­lied von wem geschrie­ben wur­de, wie es auf­ge­baut ist und wie genau es zu ver­ste­hen ist. Aber sie wol­len wis­sen, was sie kon­kret aus dem Hohe­lied für ihr Leben in ihren All­tag ler­nen kön­nen. Die Lie­be zu einem Part­ner, Sexua­li­tät und Treue sind rele­van­te The­men in den Leben aller, die ent­we­der auf der Suche nach einem Part­ner, frisch ver­liebt oder (hof­fent­lich glück­lich) ver­hei­ra­tet sind. Sie wol­len wis­sen, was sie aus dem Hohe­lied über Lie­be und Sexua­li­tät für ihre aktu­el­le Situa­ti­on ler­nen kön­nen. Und selbst Sin­gles kön­nen von dem Hohe­lied pro­fi­tie­ren. Des­halb will ich jetzt fünf Fra­gen ans Hohe­lied nen­nen und mög­li­che Ant­wort­an­sät­ze skizzieren.

Was hat solch ein erotisches Buch im biblischen Kanon zu suchen?

Wäh­rend die­se Fra­ge nicht direkt prag­ma­tisch wirkt, ist es doch eine Fra­ge, die sich unmit­tel­bar vie­len Men­schen auf­drän­gen muss. Sex hat bis heu­te für vie­le Chris­ten einen nega­ti­ven Bei­geschmack und wird eher als dre­ckig ange­se­hen als mit Rein­heit und Hei­lig­keit in Ver­bin­dung gebracht. Ein hei­li­ges Buch, wel­ches die Sexua­li­tät fei­ert, muss so man­chem Chris­ten wie ein Oxy­mo­ron erscheinen.

Sexua­li­tät ist ein The­ma, das in vie­len christ­li­chen Krei­sen sel­ten öffent­lich dis­ku­tiert wird, außer der immer neu wie­der­hol­ten nach­drück­li­chen Auf­for­de­rung, dass Sex in die Ehe gehört und alles ande­re ver­bo­ten ist. Was wür­de der Bibel feh­len ohne das Hohe­lied? Long­man (2001:59) beschreibt die Wich­tig­keit des Hohe­lie­des trefflich:

Die Kir­che neigt dazu, das The­ma Sexua­li­tät zu einem Tabu zu machen; es wird im Rah­men der christ­li­chen Gemein­schaft sel­ten dar­über gespro­chen oder dis­ku­tiert. Das Hohe­lied jedoch bekräf­tigt die Bedeu­tung von Lie­be und Sex und bie­tet Ermu­ti­gung und eine Platt­form für ein offe­nes Gespräch über Sex unter Got­tes Volk.

Ohne Fra­ge, Sexua­li­tät ist ein wich­ti­ger Bestand­teil des Mensch­seins. Sexua­li­tät hat viel Macht. Wie Men­schen mit ihrer Sexua­li­tät umge­hen, kann weit­rei­chen­de Aus­wir­kun­gen auf ihr gan­zes Leben haben. Long­man geht sogar so weit zu sagen, dass die moder­ne Gesell­schaft im all­ge­mei­nen Sex zu einem Göt­zen gemacht hat (:61). Des­halb ist es wich­tig, über den rich­ti­gen Umgang mit Sexua­li­tät zu spre­chen und das The­ma nicht zu tabui­sie­ren. Gott hat das gesam­te Leben der Men­schen und alle Aspek­te des Lebens im Blick und klam­mert auch die­sen wich­ti­gen Bereich nicht aus.

Die Exis­tenz eines ero­ti­schen Lie­bes­lieds im Alten Tes­ta­ment ist ein gro­ßes, unüber­seh­ba­res Hin­weis­schild Got­tes, wel­ches dar­an erin­nern soll, dass Sexua­li­tät ein gutes Geschenk von ihm ist, wel­ches, im rich­ti­gen Rah­men, gefei­ert und genos­sen wer­den soll. Sexua­li­tät ist ein The­ma, wel­ches wir nicht tabui­sie­ren dür­fen und damit in eine dunk­le Ecke trei­ben, in der es zu fata­len Aus­wüch­sen kom­men kann. Das Hohe­lied ermu­tigt, das The­ma mutig anzu­spre­chen und einen gesun­den Umgang mit dem The­ma zu finden.

Das Hohe­lied zeigt aber auch Gefah­ren der Sexua­li­tät auf und ver­weist sie in den Rah­men von ver­bind­li­chen Bezie­hun­gen. Damit lie­fert das Hohe­lied einen weg­wei­sen­den bibli­schen Bei­trag zu einem zen­tra­len Lebens­teil jedes Menschen.

Was hat das Hohelied zu dem Umgang mit Sexualität zu sagen?

Das Hohe­lied dient als Kri­tik jeg­li­cher sexu­el­len Aus­beu­tung! Die Sexua­li­tät im Hohe­lied ist die Frucht der Lie­be der Part­ner und somit ein Aus­druck der hin­ge­ge­be­nen Lie­be die­ses Paa­res zueinander.

Beson­ders nach der vor­ge­schla­ge­nen Aus­le­gung von Athas (sie­he Teil 1) steht die­se gegen­sei­ti­ge Lie­be und deren sexu­el­le Hin­ga­be im kras­sen Kon­trast zu Salo­mo, der sich das Mäd­chen kau­fen und sie damit, gegen ihren Wil­len, zum Sex zwin­gen will. Somit kri­ti­siert das Hohe­lied jeg­li­che sexu­el­le Aus­beu­tung, die nicht auf gegen­sei­ti­gem Ein­ver­ständ­nis beruht.

Jeg­li­che sexu­el­le Beläs­ti­gung, sei es in Form von anzüg­li­chen Bemer­kun­gen, uner­wünsch­tem Kör­per­kon­takt oder aus­beu­te­ri­schen Fotos, ist falsch, und Män­ner müs­sen davon ablas­sen und zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den. Chris­ten müs­sen nicht nur davon ablas­sen, son­dern auch dage­gen vor­ge­hen. Wie Jesus, so müs­sen auch Chris­ten, vor allem Män­ner, im ech­ten Inter­es­se ande­rer han­deln, um deren Per­sön­lich­keit und Wohl­erge­hen zu för­dern, anstatt sie aus­zu­beu­ten (Athas 2020:368–369).

Häus­li­che Gewalt ist bis heu­te ein weit ver­brei­te­tes Pro­blem welt­weit. In vie­len Län­dern ist es bis heu­te so, dass sich Frau­en den sexu­el­len Wün­schen ihren Män­nern unter­ord­nen müs­sen und jeder­zeit für die Bedürf­nis­se des Man­nes ver­füg­bar sein müs­sen. So pas­siert es oft, dass wenn eine Frau es wagt Ein­spruch zu erhe­ben, ihr Gewalt droht, die Bezie­hung vom Mann been­det wird oder sich der Mann woan­ders sexu­el­le Befrie­di­gung sucht. Wäh­rend dies sicher in Län­dern in der Drit­ten Welt mehr aus­ge­prägt ist, kommt dies doch auch noch viel zu oft in Deutsch­land vor. Das Hohe­lied gibt der Frau ein sexu­el­les Mit­spra­che­recht, was revo­lu­tio­när für die dama­li­ge Zeit war und was wir als Mensch­heit nicht geschafft haben umzu­set­zen bis heute.

Gera­de in die­sem Kon­text ist es wich­tig zu erken­nen, dass das Hohe­lied „als Gan­zes als ein Lied der Frau ange­legt ist, die das ers­te und letz­te Wort hat und auch im übri­gen die beherr­schen­de Rol­le spielt“ (Egel­kraut 2012:782). Die Frau ist weder pas­siv im Hohe­lied noch ein Spiel­ball der männ­li­chen Bedürf­nis­se, viel­mehr hat sie eine eige­ne Stim­me und bestimmt über ihren eige­nen Kör­per. Die­se Aner­ken­nung der weib­li­chen Selbst­be­stim­mung ist ent­schei­dend für eine gesun­de Sexua­li­tät in der Partnerbeziehung.

Ist das Hohelied ein Freischein für die Sexualität außerhalb der Ehe?

Vie­le jun­ge, christ­li­che Paa­re fra­gen sich, wie das mit dem Sex vor der Ehe ist. Viel­leicht hat das Paar die fes­te Inten­ti­on zu hei­ra­ten, kann es aber aus finan­zi­el­len oder ande­ren Grün­den nicht. Heu­te muss oft lan­ge stu­diert wer­den, bevor gear­bei­tet und genug Geld ver­dient wer­den kann. Aber die sexu­el­len Bedürf­nis­se erwa­chen gewöhn­lich früh in unse­rer hyper­se­xua­li­sier­ten Zeit. Wie soll­te ein jun­ges Paar mit die­ser Rea­li­tät umge­hen? Muss das Paar in einem sol­chen Fall mit dem Sex bis zur Ehe warten?

Ein gro­ßer Teil der Aus­le­ger sind über­zeugt davon, dass das Paar im Hohe­lied erst nach ihrer Hoch­zeit Sex hat (Cur­tis 2013:132; Duguid 2015:37; Fruch­ten­baum 1983:3; Gar­rett 2004:103). Hld 3,6–11 wird dabei häu­fig als Zeit­punkt der Hoch­zeit ange­führt (Gar­rett 2004:103).

Aber es gibt drei Grün­de, wes­halb man­che Theo­lo­gen behaup­ten, dass das jun­ge Paar im Hohe­lied unehe­li­chen Sex hat: das Mäd­chen scheint noch im Hau­se der Mut­ter zu leben (Hld 3,4; 5,2–8), die Brü­der des Mäd­chens haben noch Auto­ri­tät über sie (Hld 8,8–9) und die sexu­el­le Begeg­nung fin­det nicht im gemein­sa­men Heim statt, son­dern heim­lich und ver­steckt in der Natur (Hld 7,11–13). Die­se drei Fak­to­ren spre­chen stark dage­gen, dass das Mäd­chen ver­hei­ra­tet ist.

LaCoc­que geht so weit zu sagen: „das gesam­te Hohe­lied han­delt von frei­er Lie­be, die weder aner­kannt noch insti­tu­tio­na­li­siert ist“ (1998:8). Aber dem sei ent­ge­gen­ge­stellt, dass das Hohe­lied kei­nes­wegs Sexua­li­tät ohne jeg­li­chen ver­pflich­ten­den Rah­men bewirbt. Das jun­ge Paar hat sich ein­an­der ver­pflich­tet, sie gehö­ren ein­an­der (Hld 6,3).

Das Hohe­lied befür­wor­tet stark (hete­ro-) sexu­el­le Treue, Ganz­heit­lich­keit, Ver­bind­lich­keit, Dau­er­haf­tig­keit und Exklu­si­vi­tät, und wen­det sich so impli­zit gegen Pro­mis­kui­tät. Die Lie­be, die gefei­ert wird, ist eine Lie­be zwi­schen einer Frau und einem Mann (Stad­ler 1998:75).

So kann man sagen, dass selbst wenn das Paar nicht ver­hei­ra­tet ist, das Hohe­lied doch dem „Wesen nach die Wer­te der christ­li­chen Ehe“ (:77) ver­mit­telt. Auf die­ser Grund­la­ge ist unehe­li­cher Sex even­tu­ell denk­bar, solan­ge er im Rah­men einer Bezie­hung ist, in der bei­de Part­ner sich ein­an­der ver­pflich­tet haben und bei­de damit ein­ver­stan­den sind. Dies ist sicher nicht als Ide­al zu ver­ste­hen, aber viel­leicht als akzep­ta­bler Kom­pro­miss doch denkbar.

Dabei soll­te nicht ver­ges­sen wer­den, dass das Hohe­lied einen wich­ti­gen Auf­ruf zur Treue zu einem Part­ner ver­mit­telt. Die­se Ver­bind­lich­keit gegen­über einem Part­ner ist eine Grund­la­ge, ohne die Part­ner­schaft und erfüll­te Sexua­li­tät nicht gelin­gen kann.

Wo ist die erotische Sprache in dem Hohelied?

Viel­leicht wun­dert sich der eine oder ande­re Leser über die Aus­sa­ge, dass das Hohe­lied ein Buch ist gefüllt mit ero­ti­schen Aus­sa­gen. Für den moder­nen Leser ist es gar nicht so ein­fach, die­se ero­ti­sche Spra­che zu ent­de­cken. So wie auch oft heu­te in der Lite­ra­tur sexu­el­le Akte nur ange­deu­tet oder Bil­der dafür gebraucht wer­den, so hiel­ten auch die bibli­schen Autoren sich mit der Ver­wen­dung ein­deu­ti­ger Begrif­fe für sexu­el­le Hand­lun­gen und Orga­ne zurück.

Die Bil­der, die im Hohe­lied ver­wen­det wer­den, sind fest ver­an­kert in der Zeit der Ent­ste­hung des Buches und somit blei­ben vie­le ero­ti­sche Anspie­lun­gen dem moder­nen Leser, der mit der dama­li­gen Meta­pho­rik nicht ver­traut ist, ver­bor­gen. Die­se Tat­sa­che ist eine gute Erin­ne­rung, dass bibli­sche Tex­te in ihrem his­to­risch-kul­tu­rel­len Hin­ter­grund ver­stan­den wer­den müssen.

Ein Bei­spiel hier ist Hohe­lied 4,16 (Elber­fel­der):

»Wach auf, Nord­wind, und komm, Süd­wind! Lass duf­ten mei­nen Gar­ten, lass strö­men sei­ne Bal­sam­öle! Mein Gelieb­ter kom­me in sei­nen Gar­ten und esse sei­ne köst­li­chen Früchte!«

In dem Vers lädt die Gelieb­te ihren Gelieb­ten in ihren Gar­ten ein, um von den Früch­ten des Gar­tens zu essen. Hohe­lied 4,12 macht klar, dass die Gelieb­te selbst die­ser Gar­ten vol­ler edler Früch­te und Gewür­ze ist (Hld 4,13–14). „Was mag er in sei­nem „Gar­ten” essen und trin­ken, das nach Myr­rhe und Gewür­zen, Honig­wa­ben und Honig, Wein und Milch schmeckt? Wir kön­nen nur raten und errö­ten“ (Weems 1997:406).

Ein wei­te­res Bei­spiel ist Hohe­lied 7,2–4 (Elber­fel­der):

2 Die Bie­gun­gen dei­ner Hüf­ten sind wie Hals­ge­schmei­de, ein Werk von Künst­ler­hand. Dein Schoß ist eine run­de Scha­le. Nie mang­le es ihr an Misch­wein! Dein Leib ist ein Wei­zen­hau­fen, umzäunt mit Lili­en. Dei­ne bei­den Brüs­te sind wie zwei Kit­ze, Zwil­lin­ge der Gazelle.

In die­sen Ver­sen wird ganz klar die Schön­heit des Kör­pers der Gelieb­ten gefei­ert. Die­ses Lob ihres Kör­pers geschieht durch Bil­der, die oft viel­schich­tig zu ver­ste­hen sind und dadurch beson­ders bedeu­tungs­reich sind.

Gar­rett (2004:239) ver­weist dar­auf, dass vie­le Aus­le­ger davon aus­ge­hen, dass die Vul­va der Frau gemeint sind, wenn von dem „Schoß” die Rede ist. Dies legt nahe „dass sich die Aus­sa­ge, dass es »nie an gemisch­tem Wein man­gelt« auf die Feuch­tig­keit einer erreg­ten Frau bezieht.”

Athas (2020:344–345) sieht es auch so wie Gar­rett und kom­men­tiert den Schoß der Frau (der oft auch mit Nabel über­setzt wird) wie folgt:

Die Rei­hen­fol­ge der Lob­prei­sun­gen des Man­nes deu­tet auch dar­auf hin, dass er an die­ser Stel­le noch nicht den eigent­li­chen Nabel der Frau erreicht hat, denn in 7:2b lobt er ihren „Bauch”, der „von Lili­en gesäumt” ist – eine kla­re Anspie­lung auf die Scham­be­haa­rung an der Basis des Bau­ches. Der „Nabel” ist also eher eine Anspie­lung auf die Vul­va. Das Bild des Kel­ches erin­nert an Cun­ni­lin­gus, wäh­rend „gemisch­ter Wein” ent­we­der an vagi­na­le Feuch­tig­keit, ins­be­son­de­re bei sexu­el­ler Erre­gung, oder sogar an Sper­ma erin­nert. Von dort aus bewun­dert er ihre Scham­ge­gend (7:2b), ihre Brüs­te (7:3), ihren Hals (7:4a) und schließ­lich ihr Gesicht und ihren Kopf (7:4b‑5).

Gar­ret (2004:240) ver­weist dar­auf, dass die­se bild­li­che Spra­che bewusst auf meh­re­ren Ebe­nen ver­stan­den wer­den soll:

Auf der einen Ebe­ne spricht der Vers von der ein­fa­chen Schön­heit ihres Nabels und ihrer geschwun­ge­nen Tail­le, wie eine gebun­de­ne Wei­zen­gar­be. Auf einer ande­ren Ebe­ne ver­weist er auf ihren Geni­tal­be­reich und auf sexu­el­le Erre­gung. Auf einer drit­ten Ebe­ne spricht er von ihr als einer, die die Kraft der Frucht­bar­keit in ihrem „Bauch” hat. Mit ande­ren Wor­ten: Die Bedeu­tung des Ver­ses soll­te sich weder auf den Nabel und die Tail­le der Frau noch auf ihre Vagi­na und die sexu­el­le Erre­gung beschrän­ken, son­dern ihren gan­zen „Bauch” mit all sei­ner Schön­heit, Sexua­li­tät und frucht­ba­ren Kraft umfassen.

Unzäh­li­ge wei­te­re Ver­se im Hohe­lied haben die­se mehr­schich­ti­ge Bedeu­tung. Ein guter Bibel­kom­men­tar hilft die­se Anspie­lun­gen zu erken­nen und bes­ser ver­ste­hen zu kön­nen, indem es die dama­li­ge Kul­tur und Spra­che erklärt und ver­ständ­lich macht.

Was können Singles aus dem Hohelied lernen?

Das Hohe­lied fei­ert die Lie­be zwi­schen zwei Part­nern, die gegen­sei­tig, exklu­siv, voll­kom­men und schön ist (Long­man 2001:62) und sich in der sexu­el­len Ver­ei­ni­gung aus­drückt. Aber was kön­nen die Sin­gles in der Ziel­grup­pe aus dem Hohe­lied ler­nen, was für ihre aktu­el­le Situa­ti­on rele­vant ist?

Die Gelieb­ten im Hohe­lied müs­sen aller­hand Hin­der­nis­se über­win­den und ste­hen aller­lei Her­aus­for­de­run­gen gegen­über. Auch wenn ihre Lie­be wun­der­schön ist, ist doch ihr Leben noch nicht per­fekt und pro­blem­los. Man­che Sin­gles glau­ben, dass eine Ehe und eine erfüll­te Sexua­li­tät alle ihre Pro­ble­me lösen und ihr Leben glück­lich machen wird. Aber so ein Den­ken erhöht Ehe und Sexua­li­tät zu einem Göt­zen, der frü­her oder spä­ter Ent­täu­schung brin­gen wird.

So wie das Hohe­lied sei­ne rich­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on nur im Kon­text des gesam­ten Kanons fin­det, so fin­det auch unser Sexu­al­le­ben sei­nen Platz nur im brei­te­ren Kon­text unse­rer Hin­ga­be an Gott. Lie­be und Sex sind nicht die end­gül­ti­ge Ant­wort auf die Pro­ble­me oder die Fra­ge nach dem Sinn des Lebens (Long­man 2001:61); wah­re Erfül­lung kann Gott allein schen­ken und die­se Erfül­lung ist auch Sin­gles zugänglich.

Wei­ter­hin betont das Hohe­lied mehr­fach, dass die Lie­be nicht zu früh geweckt wer­den soll­te, „bevor es ihr gefällt“ (Hld 2,7; 3,5; 8,4). In der moder­nen Zeit erin­nern unzäh­li­ge Lie­bes­fil­me und Lie­bes­lie­der kon­ti­nu­ier­lich an die Schön­heit der roman­ti­schen Lie­be und sexua­li­sier­te Wer­bung und Inhal­te sind leicht zugäng­lich und all­ge­gen­wär­tig. Dies führt häu­fig zu einem zu frü­hen Erwa­chen der Lie­be, bzw. der sexu­el­len Bedürf­nis­se. Statt das Sin­gle­da­sein zu genie­ßen und zu nut­zen, wird die gesam­te Zeit dar­auf ver­wen­det, den per­fek­ten Part­ner zu fin­den. Im Sin­ne von Pre­di­ger 3 ist es sicher ange­mes­sen zu sagen „Alles hat sei­ne Zeit: Sin­gle sein hat sei­ne Zeit, ver­hei­ra­tet sein hat sei­ne Zeit“. Somit ist das Hohe­lied eine wert­vol­le Erin­ne­rung, dass man sich auf die Zeit als Paar freu­en darf, aber bis dahin auch das Sing­le­se­in (die Zeit, in der die Lie­be noch nicht geweckt ist) aus­kos­ten sollte.

Fazit

Das Hohe­lied ist ein fas­zi­nie­ren­des poe­ti­sches Buch, was viel zu sehr über­se­hen und ver­ges­sen wird. Dabei hat es eine sol­che wich­ti­ge Bot­schaft für die heu­ti­ge Zeit, in der Sexua­li­tät oft mehr Scha­den anrich­tet als Freu­de berei­tet. Ich hof­fe, die­ser kur­ze Arti­kel hat in Ihnen Inter­es­se geweckt, das Hohe­lied selbst zu studieren.

Auch wenn vie­le Details in der Aus­le­gung des Hohe­lie­des nicht ganz klar und ein­deu­tig zu ver­ste­hen sind, ist das Hohe­lied doch Teil der Bibel und Gott will durch die­ses Buch zu sei­nem Volk spre­chen. Möge die­ses bibli­sche Buch wie­der neu ent­deckt wer­den und vie­len hel­fen, die Lie­be und Sexua­li­tät zwi­schen Mann und Frau als Geschenk Got­tes im rich­ti­gen Rah­men zu fei­ern und zu genießen.

Bibliografie

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Cur­tis, Edward M. (2013). Eccle­si­as­tes and Song of Songs. Grand Rapids: Bak­er Books.

Duguid, Iain M. (2015). The Song of Songs: An Intro­duc­tion and Com­men­ta­ry. Dow­ners Gro­ve: IVP Academic.

Egel­kraut, Hel­muth u. a. (2012). Das Alte Tes­ta­ment: Ent­ste­hung, Geschich­te, Bot­schaft. 5. Aufl. Gie­ßen: Brun­nen Verlag.

Fruch­ten­baum, Arnold G. (1983). Bibli­cal Love­ma­king: a stu­dy of the Song of Solo­mon. Tus­tin: Ari­el Minis­tries Press.

Gar­rett, Dua­ne (2004). Song of Songs, Lamen­ta­ti­ons. Nash­ville: Tho­mas Nelson.

LaCoc­que, André (1998). Romance, she wro­te. Har­ris­burg: Tri­ni­ty Press International

Long­man, Trem­per (2001). Song of Songs. Grand Rapids: Wm. B. Eerd­mans Publi­shing Co.

Stad­ler, Micha­el (1998). Erlö­sen­de Ero­tik: Ethi­sche Aspek­te im Hohen­lied. Zeit­schrift für Theo­lo­gie und Gemein­de 3, 53–82.

Stein­berg, Juli­us (2014). Das Hohe­lied. Wit­ten: SCM R.Brockhaus.

Weems, Reni­ta J. (1997). Song of Songs, in Keck, Lean­der E. u. a. (Hg.): New Interpreter’s Bible. Bd. 5, Nash­ville: Abing­don Press, 361–434.

Manuel Becker

Über den Autor

Manuel arbeitet als Gemeindegründer unter einer der 25 größten unerreichten Völkergruppen weltweit. Wenn seine 4 Kinder ihn nicht gerade auf Trab halten, dann liebt er es theologische Bücher in seiner freien Zeit zu lesen, zu fotografieren oder seine Logos-Bücherei zu erweitern. Aktuell studiert er nebenher an der Akademie für Weltmission in Korntal und hofft 2023 sein MA-Studium zu beenden. Er ist der Autor von dem beliebten Kinderbuch „Der große Sieg“.

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