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Wer Augen hat, der analysiere
Routinierte Verkündiger haben ihre Routine bei der Vorbereitung einer Predigt oft über Jahre erarbeitet und optimiert. Im letzten Beitrag habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass ein systematischer und zeitlich begrenzter Ablauf die Effizienz steigert. Es lohnt sich immer wieder zu fragen, was mache ich genau und warum mache ich es auf diese Weise. Nach vier einführenden Beiträgen
- Rettet die Predigt
- Prediger, bleib bei der Bibel
- So finden Sie den richtigen Predigttext für den nächsten Sonntag
- Im Anlauf zur Auslegung – so gehen Sie die Predigtvorbereitung richtig an
tauchen wir jetzt in die konkrete Predigtvorbereitung ein.
Die Predigtvorbereitung hat zwei Phasen
Eine Predigtvorbereitung besteht aus zwei großen Phasen. Zuerst versucht man so viele Fakten wie möglich über den Bibeltext zu sammeln, über den man predigt. Erst in einer weiteren Phase beschäftigt man sich intensiver mit den Zuhörern. Der Prediger hat also immer das Wort und die Zuhörer im Blick. Deshalb muss er das, was er als Verkündiger in der ersten Phase über den Text erfahren hat, so aufbereiten, dass die Botschaft in den Alltag der Zuhörer sprechen kann.
Gottes Wort will den Zuhörern helfen, ihr Leben zu verändern. Dabei ist klar: Wenn Gott die Worte des Verkündigers nicht durch seinen Geist ins Leben der Zuhörer reden lässt, ist alles Predigen umsonst. Der Unterschied zwischen einer Predigt, die berührt und einer, die es nicht tut, liegt vor allem am Wirken des Heiligen Geistes.1
Phase 1 – Exegese
In diesem Blogbeitrag beschäftigen wir uns zunächst mit der ersten Phase der Predigtvorbereitung. Diese Phase heißt Exegese. Das erklärte Ziel einer Exegese ist, die ursprüngliche Absicht des Autors wiederzugeben. Man könnte auch sagen: In der Exegese bemüht sich der Verkündiger, Gottes Gedanken nach zu denken. Dazu beschäftigt er sich mit den Fakten, mit den Argumenten oder Begebenheiten, die im Text selbst stehen.
Bibeltexte sind vergleichbar mit Gesetzestexten. Diese können auch nicht irgendwie ausgelegt werden. Verschiedene Juristen werden eine große Schnittmenge haben, wenn es um die Frage geht, was die ursprüngliche Absicht des Textes ist. Zum Beispiel gibt § 1312 BGB vor:
Der Standesbeamte soll bei der Eheschließung die Eheschließenden einzeln befragen, ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen, und, nachdem die Eheschließenden diese Frage bejaht haben, aussprechen, dass sie nunmehr kraft Gesetzes rechtmäßig verbundene Eheleute sind. Die Eheschließung kann in Gegenwart von einem oder zwei Zeugen erfolgen, sofern die Eheschließenden dies wünschen.
Jeder Jurist erkennt sofort: Beide Eheleute müssen öffentlich gefragt werden, ob sie einander heiraten wollen. Wenn sie wollen, können sie Trauzeugen zu diesem Versprechen einladen. Aber es gibt in diesem Text auch Dinge, die man verschieden handhaben kann. Die Worte, mit denen man das Paar um ein Eheversprechen bittet und der atmosphärische Rahmen werden im Gesetz nicht festgelegt. Die kann jeder Standesbeamte selbst bestimmen.
Auch Bibeltexte kann man nicht beliebig auslegen. Verschiedene Verkündiger werden bei demselben Text zu ähnlichen Ergebnissen kommen wenn es um die ursprüngliche Absicht des Textes und die grundsätzliche Anwendung geht. Aber abhängig von der speziellen Zuhörergruppe können weitere Anwendungen des Textes teilweise verschieden sein. Ein Bibeltext hat also eine Absicht und Bedeutung, kann aber auf verschiedenste Situationen angewendet werden.
Die Gefahr, nur zu sehen und nicht zu beobachten
Für jeden, der schon länger predigt, ist das eine Binsenweisheit, dass der Text eine Absicht und Bedeutung hat, aber verschieden angewendet werden kann. Doch es bleibt eine Herausforderung, so lange wie möglich beim Text selbst zu bleiben und sich nicht zu schnell mit den eigenen Schlussfolgerungen und Interpretationen zu beschäftigen. Mir gefällt ein Vergleich von David Helm2. Er nennt das „Hineinlesen“ (auch Eisegese genannt) der eigenen Gedanken in den Text „Impressionistisches Predigen“.
Der Impressionismus ist eine Kunstrichtung, die Bilder hervorbringt, in der die Eindrücke von der Wirklichkeit entscheidender sind, als die Wirklichkeit selbst. Die Bilder mögen gut aussehen, doch wo der realistische Maler zehnmal hingeschaut und einen Strich gemalt hat, schaut der impressionistische Maler einmal hin und malt zehn Striche, die aber die Wirklichkeit verzerren.
Monet nannte den Sonnenaufgang von Le Havres „Impression“. Dieses Wort haben Kritiker benutzt, um diese Art von Bilder impressionistische Bilder zu nennen.
Hier sind vor allem Eindrücke wiedergegeben, auch wenn sie nicht ganz der Realität entsprechen. Deshalb durften die Werke von Monet auch nicht im „Salle de Paris” ausgestellt werden, da sie die Wirklichkeit nicht so getreu wiedergaben wie die Werke des Realismus
Exegese statt Eisegese
Im Blick auf den Bibeltext müssen wir Realisten und keine Impressionisten sein. Als Prediger sind wir dazu berufen, Gottes Wort zu predigen, und nicht nur unsere Eindrücke über den Text wiederzugeben.
Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Wie Kriminalbeamte ihren Tatort beobachten, so müssen wir als Verkündiger unseren Text genau beobachten. Das können wir nur durch intensives Lesen. Treffend hat Howard Hendricks gezeigt, dass Sehen nicht das Gleiche ist, wie Beobachten.
Um das deutlich zu machen stellt Hendricks Fragen wie:
- Wie viele Treppenstufen hat das Gebäude, dass du regelmäßig betrittst?
- Wie viele Verkehrsampeln gibt es auf dem Weg zu deiner Arbeit?
- Beschreibe alle Merkmale auf der Rückseite eines 10 Euro Scheines.
Man könnte hinzufügen: Welche Socken hat dein(e) Freund(in) getragen, als du ihn oder sie das letzte Mal gesehen hast?3 Das sind Dinge, die wir schon oft gesehen haben, aber genau beobachtet haben wir sie nicht.
Lesen ist der Schlüssel, um genau zu beobachten
Für einen Verkündiger reicht es nicht aus, den Bibeltext nur oberflächlich zu erfassen. Es geht darum, ihn intensiv zu beobachten, um die Frage zu beantworten: Was steht tatsächlich da? Und um herauszufinden: Was wollte der Autor den ursprünglichen Empfängern sagen?
Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, sollte man sich den Predigttext wieder und wieder aus einer wortgetreuen Übersetzung laut vorlesen. Was man zusätzlich noch hört, prägt sich einfach besser ein. Mit diesem ersten Schritt der Vorbereitung macht man sich auf die Suche nach wichtigen Details, die die Tür zur Predigt öffnen können. Dabei ist es wichtig, Gott darum zu bitten, dass ER die Augen für diese Details im Text öffnet. Ein hilfreiches Gebet ist Ps 119,18: „Öffne meine Augen, damit ich schaue die Wunder in deinem Gesetz“.
Das intensive Lesen eines Textes kann gar nicht oft genug betont werden. Der Herr Jesus selbst fordert seine Zuhörer heraus, biblische Texte genau zu lesen (Lk 10,26). Paulus gibt Timotheus den Rat, die Schrift vorzulesen (1Tim4,13). Von Adolf Schlatter, dem bekannten Bibellehrer weiß man, dass er seine Antwort auf theologische Fragen seiner Studenten oft mit dem Satz einleitete: „Meine Herren, sie können nicht lesen …“.
Ich las von Bibelschullehrern, die ihren Schülern den Auftrag gaben, auf der Grundlage von ein paar Bibelversen möglichst viele Fragen zu stellen. Das kann eine hilfreiche Übung sein, aufgrund von zehn Versen aus dem Römerbrief fünfzig Fragen über diesen Textabschnitt zu formulieren. Dabei reicht es völlig aus, zunächst einfach nur zu beobachten und Fragen zu stellen ohne zu versuchen, sofort Antworten zu finden.
Fragen stellen, um den Bibeltext zu beobachten
Um konkrete Fragen an den Text zu stellen, braucht man nur eine vertraute Übersetzung in LOGOS aufzurufen, und mit einem Rechtsklick das Kontextmenü öffnen.
Dort wählt man aus „Eine Notiz in … anlegen“. So kann man alle Fragen die man hat, übersichtlich erfassen.
Wer lieber noch mit Papier arbeitet, kann den Bibeltext kopieren und seine Fragen direkt neben den Text schreiben. Wichtig ist nur, dass man die aufkommenden Fragen dokumentiert, um sie später bearbeiten zu können.
Fragen, die weiterhelfen können
Hendricks gibt seinen Lesern sechs Fragen an die Hand, die helfen, einen Text gut zu beobachten.4 Diese Fragen sind:
- WER sind die Menschen im Text? Wie handelt diese Person? Was wird über sie gesagt?
- WAS passiert im Text? Was versucht der Schreiber seinen Lesern mitzuteilen?
- WO geschieht die Handlung und wo kommen die Menschen her, um die es geht?
- WANN findet die Handlung statt oder in welcher Reihenfolge – welches Ereignis war vorher, welches wird noch kommen?
- WARUM steht diese Aussage im Text? Diese Frage untersucht den Text mehr als jede andere und gibt die Möglichkeit, neue Einsichten zu bekommen.
- WOZU steht diese Aussage im Text? Welche Absicht verfolgt Gott damit in meinem Leben? Diese Frage fordert mich heraus, zu handeln.
Um seinen Blick für Auffälligkeiten zu schärfen, kann man im Text nach folgenden Dingen Ausschau halten:
- Was wird betont? (z.B. wenn diesem Gedanken oder Ereignis viel Platz in dem Text eingeräumt wird)
- Was wird wiederholt? (z.B. wenn ein Wort immer wieder gebraucht oder ein Ort ständig genannt wird)
- Was ist verbunden? (Wenn Dinge in einem Zusammenhang oder in einer Wechselbeziehung stehen)
- Was ist ähnlich oder verschieden? (Diese Dinge sind an Signalwörtern wie „wie“ oder „aber“ zu erkennen)
- Was ist lebensnah? (Wo sind Situationen sehr vergleichbar mit unserem Alltag?)
Den Bibeltext erleben
Letztlich ist das Ziel dieser Fragen, sich die geschilderte Situation besser vorstellen zu können und sie gedanklich mitzuerleben. Mit dem inneren Auge zum Beispiel zu sehen, wie die Jünger, von der Angst gepackt, glaubten, sie gehen mit ihrem Boot unter. Oder, das verbrannte Opferfleisch auf dem Altar in der eigenen Vorstellung zu riechen. Oder, die höhnischen Worte des Goliath zu hören.
Um es zu üben, sich in Situationen hineinzudenken, kann es auch hilfreich sein, den Text mit der “großen Hörbibel” zu hören. Dort sind dramaturgische Elemente eingebaut, die den Hörer sehr gut in manche Situationen hineinnehmen und sie so dem Verkündiger selbst verständlicher machen.
Wer gut Englisch kann, könnte auch auf die dramaturgische ESV Übersetzung bei www.bible.is zurückgreifen.
Wer den Text gedanklich miterlebt hat, wird einen Blick für die Details bekommen, die oft übersehen werden und darüber predigen können. Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie das in der Praxis aussehen kann, empfehle ich Predigen über Texte aus den Evangelien von Theo Lehmann anzuhören.
Dieser Pfarrer kann seine Zuhörer mit in die Situationen hineinnehmen, weil er sie zuvor gedanklich selbst erlebt hat. Das ist das Ergebnis davon, wenn man Bibeltexte beobachtend liest und sich in die geschilderte Situation oder Argumentation hinein denkt. Predigten von Theo Lehmann gibt es z.B. hier.
1. Timothey Keller, Preaching, Viking, New York, 2015, S. 11. ↩
2. David Helm, Die Auslegungspredigt, Betanien Verlag, Waldems, 2018, S. 16ff. ↩
3. Howard G. Hendricks, Bibellesen mit Gewinn, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg, 2017 (7.Auflage), S. 56. ↩
4. Howard G. Hendricks, Bibellesen mit Gewinn, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg, 2017 (7.Auflage), S. 153ff. ↩