Wer die Geschichte des besessenen Geraseners exegetisch bearbeiten will, stößt unweigerlich auf eine Menge Fragen, die nicht leicht eine Antwort finden. Einige Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen soll dieser Artikel liefern.
Inhalt
Position in der Überlieferung
Die Makrochronologie der synoptischen Evangelisten ist überall gleich, aber es gibt ein Problem in der Mikrochronologie, und darunter fällt der Abschnitt aus Matthäus 8,28–34, in dem die Geschichte vom besessenen Gerasener steht. Die Position bei Matthäus steht derjenigen bei Markus/Lukas gegenüber. Die Annahme, es hätte sich dabei um verschiedene Ereignisse gehandelt, ist wegen der außerordentlichen Ähnlichkeit nicht nur in der Perikopenfolge sondern auch im Detail jeder Perikope äußerst unwahrscheinlich.
Nun ist ja eine Abweichung in der Mikrochronologie nicht per se ein Fehler oder eine Verfälschung. Selbst Zeitungsartikel sind häufig nicht streng chronologisch aufgebaut. Meistens handelt es sich dann um eine sachliche Umstellung: Bei parallelen Ereignissen werden diese thematisch zusammengefasst, um den Leser nicht zu verwirren. Auch ist es denkbar, dass manche Texte aus thematischen Gründen umgeordnet werden.
Bruchkanten – Synopse der Evangelien
Wir sehen einen Übergang bei Matthäus 8,18. Dort gibt es bei Markus (von 1,34 zu 4,35) und Lukas (von 4,41 zu 9,57) einen Sprung; letztere bieten in dieser Lücke Erzählungen, die Matthäus an anderer Stelle hat. Die Perikopenreihe beginnt also bei Mt 8,18 und endet bei Vers 34. Die beiden Perikopen von der Sturmstillung und der Heilung sind also sowohl chronologisch als auch thematisch eng miteinander verbunden, wie wir noch später sehen werden.
In Logos finden Sie die synoptische Darstellung der Evangelien, wenn Sie in der Menüleiste auf ➤ Werkzeuge klicken und dann ins Suchfeld ➤ Parallele Evangelienanzeige eingeben und anklicken.
Wer hat nun die richtige Mikrochronologie, und wer hat aus welchen Gründen umgestellt? Das wird kontrovers beantwortet. Maier (HTA) z.B. spricht sich für die Matthäuschronologie aus, während Augustinus (Katena Aurea des Th. v. Aquin) davon ausgeht, dass diese Ereignisse nicht an dem Tag nach der Heilung der Schwiegermutter des Petrus stattgefunden haben. Auch Keil, der von einer Reihe von zehn Wunderwerken Christi (8,1 – 9,34) spricht, scheint davon auszugehen, dass Matthäus eher eine sachliche denn eine chronologische Anordnung hat. Meines Erachtens spricht viel dafür, dass Matthäus in seinem Evangelium die Lehrweise Jesu darstellen will; auf eine Predigt folgt immer ein “praktischer Teil”, in dem Beispiele aufgeführt werden, die die vorherige Predigt bestätigen sollen. Dabei folgt er im Großen und Ganzen der Chronologie, scheut sich aber nicht davor, die mikrochronologische Ordnung auch einmal zu durchbrechen, wenn er es für geraten hält.
Wir dürfen auf jeden Fall festhalten, dass die Stellung der Perikopen an verschiedenen mikrochronologischen Positionen in den Evangelien weder ein Fehler der Evangelisten ist, noch eine Irreführung, sondern im schriftstellerischen Rahmen eine durchaus legitime Vorgehensweise der Autoren ist. Die Autorität und Wahrheit des Wortes Gottes an sich wird dadurch in keinster Weise infrage gestellt.
Gerasener, Gadarener – wo ging Jesus hin?
Über den Ort, an dem Jesus nach der Überfahrt ankam, gibt es in den Manuskripten eine große Varietät: Gadarener, Gergasener, Gergesener, Gazarener, bei Mk auch noch Gergustener. Der deutsch-israelische Benediktinerpater und Archäologe Bargil Pixner (1921–2002) kannte eine alte jüdische Tradition, die auch bei Origenes Spuren hinterließ: “Danach wäre dieses Gebiet von Gergesitern bewohnt worden, die bei der Landnahme durch Josua aus erez Jisra’el vertrieben worden waren. Sie gehörten zu den sieben Völkern der Ureinwohner des Landes, von denen wir im Buch Josua lesen”1 (Jos 3,10). Der hebräische Begriff lautet geruschim oder geraschim.
Der Begriff “Gadarener” wird durch diese Annahme zwar annähernd miterklärt – es handelt sich um eine Übersetzungsvariante der geruschim – aber es legt sich noch eine andere Interpretation nahe. Eine der Zehn Städte der heidnischen Dekapolis am Ostufer des Sees Genezareth hieß Gadara – und diese Stadt lag nur wenige Kilometer südöstlich des Sees. Ihr Gebiet reichte bis zum See. Das Problem dabei ist aber, dass die mutmaßliche Landungsstelle Jesu weiter nördlich war, an der Grenze zwischen der Dekapolis und dem jüdischen Gebiet des Herodes Philippus. Und dieses Gebiet gehört zu einer anderen der zehn Städte, nämlich zu Hippos, das nördlich von Gadara direkt am Ufer des Meeres auf einem Berg liegt. Es ist möglich, dass Jesus woanders, in der Gegend des heutigen Ha’on gelandet ist – aber dort gibt es keine Grabhöhlen.
Beim Bau einer neuen Verbindungsstraße an der Ostseite des Sees stießen Bulldozer zufällig auf die Ruinen eines alten Klosters. Das war nicht die eigentliche Sensation, sondern die Tatsache, dass zum Klosterkomplex noch eine Bergkapelle gehörte. Diese wies zwei übereinanderliegende Mosaikfußböden auf, in denen auch Kreuze abgebildet waren. Daher stammt selbst der obere Fußboden aus der Zeit von vor 427 n.Chr., als Kaiser Theodosius II. die Benutzung von Kreuzen als Bodenverzierung verbot, um so ihre Entweihung durch das Betreten zu verhindern.2 Nach Pixner ist es wahrscheinlich, dass die Kapelle den Ort der Höhlenwohnung des ehemals Besessenen markierte.
Wie viele Besessene waren es?
Während Matthäus als einziger der drei Synoptiker von zwei Besessenen berichtet, finden wir bei Markus und Lukas jeweils nur einen. Diese Angaben lassen sich insofern harmonisieren, als dass Markus und Lukas nur von dem Wortführer berichten, während Matthäus den für ihn als Evangelisten der Juden wichtigen Umstand festhält, dass es zwei Besessene waren, denn vor Gericht, wenn es um die Wahrheit geht, vor allem dann, wenn es um Leben und Tod geht, müssen immer zwei oder drei Zeugen übereinstimmende Auskunft geben (Dt 17,6), damit die Wahrheit bezeugt wird.
Wir wollen uns der Einfachheit halber im Fortgang nur auf den Wortführer beziehen.
Die Beschreibung des Besessenen
Die Beschreibung des Matthäus ist nur rudimentär; die Besessenen kommen aus den Grabhöhlen und waren so gefährlich, dass ihre Anwesenheit die Straße unpassierbar machte. Lukas erwähnt den Umstand, dass sein Besessener nackt war, in keinem Haus blieb und in den Grabhöhlen wohnte. Darüber hinaus berichtet Markus, der die ausführlichste Beschreibung hat: “Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit Ketten; denn er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen.” (Mk 5,3–4) Außerdem schrie er und schlug sich mit Steinen (Pixner erwähnt hier, dass in der Nähe der oben erwähnten Kapelle scharfe Feuersteine zu finden sind).
Besessen mit einem unreinen Geist
Die Erwähnung von Menschen, die von Dämonen besessen sind, kommen mehrfach in den Evangelien vor. Man kann aufgrund dieser Berichte nicht einfach davon ausgehen, dass es sich hier um eine primitive Anschauung bestimmter Krankheiten wie z.B. Epilepsie handelt. Jesus unterhält sich mit den Dämonen – nicht mit den Besessenen – was tatsächlich auf die Inbesitznahme durch Dritte hinweist. Wodurch eine solche Besessenheit zustande kommt, sagt die Schrift nicht, wohl aber, dass es eine Möglichkeit gibt, sie zu beenden – allerdings in der Schrift nur mit der Hilfe Jesu, resp. Gottes. Es gibt Mächte, die den Menschen in seinen Besitz nehmen können, und es gibt Rettung durch Jesus Christus. Viel mehr sagt uns die Bibel nicht. Wichtig erscheint mir aber in diesem Zusammenhang, dass Jesus auch seinen Jüngern zutraut, solche Dämonen auszutreiben, wenn sie im Namen Jesu beten. Der Besessene ist in jedem Fall nicht Herr seiner selbst, er wird von den Dämonen “besessen”, die mit ihm gegen seinen Willen handeln können.
Im 19. Jahrhundert sorgte eine Schrift des Pfarrers Blumhardt aus Möttlingen in Württemberg für Aufsehen, in der er ausführlich von einer mehrjährigen Dämonenaustreibung aus einem Gemeindeglied mit Namen Gottliebin Dittus.3 Dabei hat er auch mit den Geistern gesprochen, und sie gaben ihm Auskünfte über ihre Welt. Während der Bericht Blumhardts höchstwahrscheinlich der Wahrheit entspricht, müssen es die Aussagen der Dämonen nicht unbedingt – kommen sie doch vom Vater der Lüge. Auf Aussagen von Dämonen bei Dämonenaustreibungen kann man keine Dämonologie gründen, sie sind wegen ihrer Quelle absolut wertlos, ja vielleicht sogar schädlich und gefährlich. Nicht über das hinaus, was geschrieben steht.
Wohnung in den Grabhöhlen4
Das Wohnen in Grabhöhlen ist nach Jes 65,4 ein besonderes Kennzeichen des endzeitlichen Abfalls von Gott. Entweder betrachten sich solche Menschen bereits als tot, oder er ist in den Grabhöhlen, weil es sich bei den Dämonen um Totengeister handeln, die um ihren geistigen Zustand wissen und sich in den Höhlen am Wohlsten fühlen.
Schlagen mit Steinen
Das sich Schlagen mit Steinen ist ebenfalls eine Praxis der kanaanitischen Priester (1Kön 18,28). Dadurch wollen sie entweder das Erbarmen ihrer Götter erwecken oder ihre Hingabe bis zum Tod. Das Tanzen und Ritzen führt sie in die Extase. Der Besessene zeigt also das Verhalten der kanaanitischen Priester; mit der Vermutung, dass es sich bei den Bewohnern um die vertriebenen Kanaaniter handelt, also ein Ausdruck des heidnischen Verhaltens.
Die Dämonen
Kommst du, uns zu quälen, ehe es Zeit ist?
Die Dämonen wissen, dass der Messias kommen, sie richten und sie dann in den Abgrund werfen wird, zur Strafe und zur ewigen Qual. Sie dachten aber, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Sie bitten Jesus flehentlich darum, sie nicht sofort in den Abgrund zu schicken.
Legion
Aus zwei Gründen heißt dieser Geist Legion: Erstens, weil es sich um viele Geister handelt, die in dem Besessenen hausen. Eine Legion besteht aus mehreren tausend Soldaten und Tross. Der zweite Grund aber könnte sein, dass die Legion, die in Judäa stationiert war, das Wildschwein im Wappen führte – eine ungeheuerliche Provokation für die Juden. Die Legion der Dämonen, an der Grenze zum jüdischen Gebiet postiert, soll den Austausch zwischen Juden und Heiden unmöglich machen.
Die Schweine
Eine wesentliche Rolle in der Geschichte spielen die Schweine. Schweine sind im Judentum, wie sattsam bekannt, die unreinen Tiere par excellence; das ist dort so tief verankert, dass auch der Islam diese Beurteilung übernommen hat. Archäologen haben in Israel Altäre gefunden, auf denen die Kanaaniter Schweine als Dämonenopfer dargebracht haben. Schweine sind in diesem Kontext also mit Dämonen aufs Engste verbunden. Wie das Wohnen in Gräbern ist auch das Essen von Schweinefleisch nach Jes 65,4 typisch für den endzeitlichen Abfall.5
In die Säue fahren
Der Zusammenhang zwischen Schweinen und Dämonen wurde oben schon kurz angedeutet. Wenn Jesus die Dämonen in die Schweine fahren lässt, schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens befreit er den Besessenen auf einen Schlag von seiner Besessenheit, und zweitens sorgt er dafür, dass sich die Unreinheit der Gegend durch die Vernichtung von 2000 Säuen reduziert.
Warum aber die Dämonen darum bitten, in die Säue zu fahren, bleibt ein Rätsel. Wollen sie bei Jesus gut Wetter machen, indem sie die unreinen Tiere töten? Liegt der Wunsch in der natürlichen Veranlagung der Dämonen, die Schöpfung zu zerstören? Keil6 schreibt: “Durch die Erlaubnis, in die Schweine zu fahren, verbannt Jesus die Dämonen aus dem Gebiete des menschlichen Organismus und treibt sie in das Gebiet der unvernünftigen Creatur zurück, womit er sich als Erlöser der vom Satan gebundenen Menschheit und als Zerstörer des Reichs des Satans innerhalb dieser offenbart.” Es scheint so, dass die Dämonen eine gewisse Erfüllung dadurch erfahren, dass sie in ein lebendiges Wesen fahren, um es zu töten – was bei Tieren leichter ist als bei Menschen. Doch dies ist Spekulation.
Fazit
Die Perikope über die besessenen Gerasener wirft einige grundlegende Fragen auf. Meiner Meinung nach kann man diese Fragen zufriedenstellend lösen, ohne dabei der Bibel Widersprüche oder Fehler zu unterstellen. Entscheidend bei der Behandlung der Unterschiede ist dabei nicht, herauszufinden, was richtig oder was falsch ist, sondern welche – geistgeleitete – Absicht der jeweilige Autor mit der Anordnung seines Evangeliums hatte.
Die Kommentare von Gerhard Maier (Rezension zur HTA) und Carl Friedrich Keil (Rezension zum Kommentar von Keil) sind digital für Logos erhältlich.
1 Bargil Pixner, Wege des Messias und Stätten der Urkirche, Gießen 1991, S. 144.
2 a.a.O. S, 146.148.
3 Blumhardts Kampf. Zuverlässiger Abdruck seines eigenen Berichts über die Krankheits- und Heilungsgeschichte der Gottliebin Dittus in Möttlingen. Stuttgart Sillenbuch, o.J.
4 Angaben hier und im folgenden Unterabschnitt aus Pixner, a.a.O., S. 143.
5 a.a.O.
6 Carl Friedrich Keil, Commentar über das Evangelium des Matthäus, Leipzig 1877, S. 233.
Über den Autor: Martin Schröder, Jahrgang 1961, ist evangelischer Diplomtheologe, Religionslehrer an öffentlichen Schulen und beschäftigt sich intensiv mit den biblischen Ursprachen. Außerdem ist er in der Gemeindeleitung des Württ. Christusbundes in der Nähe seines Wohnortes und als Laienprediger unterwegs.