Inhalt
- Johann Albrecht Bengel (1687–1752)
- 9 Regeln zur Übersetzung des Neuen Testaments nach Bengel
- 1. Eine Übersetzung muss sich auf einen genau revidierten Originaltext gründen.
- 2. Die einzige wesentliche Eigenschaft einer Übersetzung ist die Ähnlichkeit mit dem Original.
- 3. Eine Übersetzung darf nicht dunkler, aber auch nicht deutlicher; nicht schwächer, aber auch nicht heftiger; nicht härter, aber auch nicht zierlicher sein als das Original.
- 4. Eine Übersetzung muss bei uns nicht undeutsch, sie darf aber auch nicht gar zu gut deutsch sein.
- 5. Eine Übersetzung soll lauter und mit anderen Sprachen auf das sparsamste vermengt sein.
- 6. Wo an einer Stelle ein einzelnes Wort, oder solche Wörter, die einerlei Stammwort haben, im Original öfters wiederholt werden; und zwar so, dass die Wiederholung sich auf das Vorhergehende, auch nach einer guten Weile, bezieht, so muss die Übersetzung so viel wie möglich auch mit einerlei Wort bestritten werden. Hingegen, wo in dem Original unterschiedliche Worte sind, da soll die Übersetzung auch unterschiedliche Worte führen.
- 7. Eine Übersetzung muss der Rede keine andere Emphase oder Nachdruck geben, als es im Original ist; hingegen aber auch wahre Emphasen nicht unterschlagen.
- 8. Eine Übersetzung muss bei der Ordnung der Worte bleiben, soviel es die Muttersprache verträgt.
- 9. Eine Übersetzung soll die Artikel, Pronome, Partikel, Tempora, Verben in der Medialform und anderes bald mit einer verständigen Freiheit, bald auf das genaueste auflegen.
- Fazit
Johann Albrecht Bengel (1687–1752)
“Wende dich ganz dem Text zu – die ganze Sache wende auf dich an” (Te totum applica ad textum – rem totam applica ad te) – das ist einer der markantesten Aussprüche des schwäbischen Theologen Johann Albrecht Bengel, der einer der Mitbegründer der Textkritik war und als einer der wichtigsten Theologen des württembergischen Pietismus gilt. Er veröffentlichte 1734 eine textkritische Ausgabe des Neuen Testaments, 1742 sein wichtigstes Werk, den “Zeiger” (Gnomon), der, wie der Zeiger der Sonnenuhr, auf die Heilsgeschichte und ihr derzeitiges Stadium hinweisen sollte. In seiner Schrift “Erklärte Offenbarung Johannis” machte er seine weltbewegende Berechnung für das Datum der Wiederkunft Christi, von der wir seit dem 18. Juni 1836 wissen, dass es nicht gestimmt hat. Das schmälert aber Bengels Lebensleistungen keineswegs.
Bengel hat sich lebenslang mit der Übersetzung des Neuen Testaments beschäftigt. Im Jahr 1753 erschien seine Übersetzung des Neuen Testaments mit “dienlichen Anmerkungen”, die Kurzfassungen seiner Werke in kurzen Anmerkungen enthält. Diese Ausgabe ist seit langem vergriffen und kaum mehr erhältlich, obwohl sie 1974 noch einmal vom Hänssler Verlag (damals noch Neuhausen-Stuttgart) aufgelegt wurde. In dieser Ausgabe schreibt Bengel in der Vorrede eine große Abhandlung über die Übersetzung des Neuen Testaments. Seine “neun Regeln”, die er unter dem Punkt X anführt, will ich im Folgenden zusammenfassen und behutsam kommentieren.
9 Regeln zur Übersetzung des Neuen Testaments nach Bengel
Bengel schreibt zur Einleitung dieses zehnten Abschnitts seiner Vorrede:
“Diesorts läßt sich nicht die ganze Lehre von der rechten Manier zu übersetzen mit allen ihren Regeln ausführen; doch will ich deren etliche, die ich insonderheit zu beobachten für nötig gehalten habe, anzeigen und auf gehörige Weise erläutern.”
Darauf folgt die erste Regel:
1. Eine Übersetzung muss sich auf einen genau revidierten Originaltext gründen.
Das bedeutet in Kürze: Ein Text, der nach den Regeln der Textkritik zusammengestellt wurde. Hierzu zählen heute vor allem der Nestle/Aland (NA) und das Greek New Testament (GNT). Die neutestamentliche Textkritik wird von den Forschungsergebnissen des von Kurt und Barbara Aland begründeten Instituts für neutestamentliche Textforschung, welches den alexandrinischen Text bevorzugt. Allerdings wird die Gewichtung der verschiedenen Handschriftentraditionen in der neutestamentlichen Wissenschaft durchaus kontrovers diskutiert.
Die grundsätzliche Entscheidung für den alexandrinischen Texttypus und gegen den byzantinischen Reichstext, der auch Mehrheitstext genannt wird, bei den vorherrschenden Textausgaben ist nicht unumstritten; einige Theologen meinen, der alexandrinische Text sei das Ergebnis einer theologisch motivierten Kürzungsarbeit. In der Praxis werden wir selten die Zeit finden, eine ausführliche textkritische Vorarbeit bei der Predigtvorbereitung zu leisten. Bei umstrittenen Stellen sollten wir uns aber wirklich die Mühe machen, zu untersuchen, welche der Varianten am Wahrscheinlichsten ist, insbesondere dann, wenn NA oder GNT gegen den kirchlich etablierten Text (heutzutage überwiegend der alexandrinische Text, Aland folgend) entscheiden, wie z.B. beim Markusschluss.
2. Die einzige wesentliche Eigenschaft einer Übersetzung ist die Ähnlichkeit mit dem Original.
Ausführlich schreibt Bengel hier: “Eine Übersetzung muss dem Leser in seiner Seele und deren innersten Kräften eben den Eindruck in der Hauptsache und, soviel möglich, in allen, auch kleinsten Nebensachen geben, wie das Original selbst; […] Man muss nichts dazusetzen, nichts zurücksetzen, nichts anders setzen, sondern übersetzen. ”
Dazu gehören für Bengel “die eigentliche Bedeutung und Kraft der Worte, die das Original dem Übersetzer in den Mund legt.” Es geht also um das sorgfältigste Studium der Bedeutung der griechischen Begriffe, “in Betrachtung, dass so viel der Himmel höher ist als die Erde, so viel ist Gottes Sprache höher als der Menschen Sprachkünste.” Weil Bengel von einem “hebräisch-griechisch” im NT ausgeht, also einem durch das Hebräische gefärbten Griechisch mit vielen Hebraismen, sind auch die hebräischen Begriffe hinter den griechischen wichtig. Die Zusammenhänge kann man bspw. dadurch erkennen, wenn man die Septuaginta (LXX) mit der hebräischen Bibel (BH) vergleicht.
Wenn Bengel, der noch kein Logos hatte, sich dieser Mühe unterzog, um wie viel mehr sollten wir das auch tun, die wir in Logos einen Schatz an Ressourcen zum Wortstudium haben. Die Worte sollen in ihrer Eigenart nach dem Hebräischen beurteilt werden, wie z.B. biblos geneseos in Mt 1,1 als Geschlechtsregister gemäß dem hebräischen toldot. Dennoch lehnt Bengel eine strikte konkordante Übersetzung ab, weil das auch die Apostel nicht strikt getan haben.
3. Eine Übersetzung darf nicht dunkler, aber auch nicht deutlicher; nicht schwächer, aber auch nicht heftiger; nicht härter, aber auch nicht zierlicher sein als das Original.
Damit meint Bengel: Wenn eine Aussage im Originaltext mehrdeutig ist, darf sie in der Übersetzung nicht eindeutig werden, indem die anderen möglichen Deutungen der Stelle durch die Übersetzung nicht mehr erkennbar sind. Es darf aber auch nicht umgekehrt geschehen, dass eine eindeutige Aussage in der Übersetzung plötzlich mehrdeutig wird.
Bengel führt hier als Beispiel das “aus Glauben” in Rö 1,17; Gal 3,11 und Heb 10,38 an, das sich im Griechischen sowohl mit dem Vorhergehenden als auch mit dem Nachfolgenden verbinden lässt. Hier darf der Übersetzer “dem Leser nicht vorgreifen, sondern die Wahl frei lassen; wiewohl er hernach auch seine eigentliche Meinung durch Anmerkungen an den Tag legen” kann.
4. Eine Übersetzung muss bei uns nicht undeutsch, sie darf aber auch nicht gar zu gut deutsch sein.
Bengel erklärt dies mit diesem Beispiel: “In der Übersetzung Luthers sind viele hebräisch-griechische Redensarten, die uns wegen langwährender Gewohnheit nicht mehr befremden; und diese sollen wir nicht ändern, sondern uns vielmehr auch an die übrigen gewöhnen”, wie man das mit der Zeit auch getan hat. Neben der Nähe zum Text fordert Bengel also auch eine Nähe zur Übersetzungstradition, vor allem im kirchlichen Gebrauch.
Man kann darüber uneins sein, ob dieser Satz heute noch gültig ist, weil eben viele Menschen gar keine Bibelübersetzung mehr im Ohr haben. Für mich ist jedoch die Lutherbibel nach wie vor die beste Wahl für den kirchlichen Gebrauch, und jede Kirche sollte schauen, welche Bibelübersetzung bei ihr traditionell ist (Elberfelder, Schlachter). Es empfiehlt sich aber diese Regel im Kleinen: Jede kirchliche Einheit, mindestens jede Gemeinde, sollte eine Bibelübersetzung haben, die im Gottesdienst die Grundlage ist. Abweichungen von diesem Text sollten dann, falls es relevant ist, in der Predigt erwähnt werden. Aber unsere Gemeinden sollten die Gelegenheit haben, sich an einen bestimmten Textstil zu gewöhnen, sonst verlieren wir die Bibel auch aus unseren Herzen.
5. Eine Übersetzung soll lauter und mit anderen Sprachen auf das sparsamste vermengt sein.
Hier meint Bengel nicht eine “reine, deutsche Übersetzung” ohne Fremdwörter, besonders Anglizismen, sondern das unnötige Einfügen von griechischen oder hebräischen Begriffen. Die Sprache soll so weit dem Sprachgebrauch angepasst werden, dass sie vom Hörer ohne Probleme verstanden wird. Gegen Worte wie “Christus”, “Rabbi” oder auch “Maranatha” hat er nichts einzuwenden.
6. Wo an einer Stelle ein einzelnes Wort, oder solche Wörter, die einerlei Stammwort haben, im Original öfters wiederholt werden; und zwar so, dass die Wiederholung sich auf das Vorhergehende, auch nach einer guten Weile, bezieht, so muss die Übersetzung so viel wie möglich auch mit einerlei Wort bestritten werden. Hingegen, wo in dem Original unterschiedliche Worte sind, da soll die Übersetzung auch unterschiedliche Worte führen.
Es lohnt sich, diese sechste Regel in ihrer vollen Länge wiederzugeben. Bengel stellt hier den Grundsatz auf: Gleiche Worte im Griechischen sollen auch mit den gleichen Worten im Deutschen übersetzt werden. Er führt einige Beispiele an, wie z.B. agathos (Bengel: gut) und kalos (Bengel: fein) oder ethnikoi (Heiden), ethnos (Nation) und laos (Volk). Hierzu auch mein Beispiel aus dem Beitrag über die Lutherbibel: Das peripateo (wandeln) in Eph 2,2 und 2,10 bildet als Inclusio einen Rahmen um den Abschnitt. Hier sollte nicht mit zwei verschiedenen deutschen Wörtern übersetzt werden (LU84: V. 2 gelebt habt, V. 10 wandeln), sondern, wie das in LU2017 wieder richtig gemacht wird auch in V. 2 mit “wandeln”.
Meiner Meinung nach sollte versucht werden, in einem möglichst großen Sinnzusammenhang gleiche Worte mit gleichen zu übersetzen. Wer sich allerdings mit dem Verhältnis zwischen LXX und BH beschäftigt, wird merken, dass die LXX zwar einige, zentrale Worte mit denselben griechischen Worten übersetzt, aber bei anderen wichtigen Worten verschiedene griechische Worte verwendet. Aber die Übersetzungsgenauigkeit sollte, wenigstens zur Vorbereitung zur Exegese, möglichst 1:1 sein, auch wenn diese erste Arbeitsübersetzung nicht zum Vorlesen im Gottesdienst geeignet sein wird.
7. Eine Übersetzung muss der Rede keine andere Emphase oder Nachdruck geben, als es im Original ist; hingegen aber auch wahre Emphasen nicht unterschlagen.
“Dies ist schon in der dritten Regel, wie die dritte in der zweiten begriffen”, schreibt Bengel hierzu und weist auf den Zusammenhang der verschiedenen Regeln hin. Er lehnt hier wörtliche Übersetzungen ab, die in der deutschen Version eine Sache übermäßig betonen, die im Original gar nicht so hervorgehoben sind. Wörtliche Übersetzung heißt eben nicht nur Wort-für-Wort-Übersetzung. Man muss auch den Zusammenhang berücksichtigen, um eine möglichst genaue Übersetzung zu bekommen.
8. Eine Übersetzung muss bei der Ordnung der Worte bleiben, soviel es die Muttersprache verträgt.
Bengel führt hier als Beispiel unter anderen die Formulierung “Himmel und Erde” an, welche die übliche ist und auch in dieser Ordnung in unsere Sprachgewohnheit übergegangen ist. Wenn allerdings die Formulierung im Original “Erde und Himmel” lautet, so muss man in der Übersetzung auch diese Ordnung beibehalten. Ein anderes Beispiel ist Joh 14,1, wo der Originaltext lautet: πιστεύετε εἰς τὸν θεὸν καὶ εἰς ἐμὲ πιστεύετε. Das übersetzt die Lutherbibel: “Glaubt an Gott und glaubt an mich!”
Bengel will dagegen an der Reihenfolge im Original festhalten: “Glaubet an Gott, und an mich glaubet.” Auch hier sagt er: Wir sollen es dann dem Leser der Übersetzung überlassen, ob er “in solcher Ordnung” etwas suchen will oder nicht. “Auf diesen Punkt wird wohl das meiste ankommen, was dem Leser an meiner Übersetzung fremd vorkommen möchte.”
9. Eine Übersetzung soll die Artikel, Pronome, Partikel, Tempora, Verben in der Medialform und anderes bald mit einer verständigen Freiheit, bald auf das genaueste auflegen.
Weil das Setzen des Artikels im Originaltext (wie z.B. Mt 1,23; 5,35; 6,6, usw. gegen Joh 5,27; 13,2 u.ö., wo er nicht verwendet wird) oft einen Unterschied macht, sollte man dem auch in der Übersetzung folgen. Anders ist es beim Setzen des Personalpronomens, das im Griechischen meist eine Hervorhebung bedeutet, während es bei uns unerlässlich ist. Bengel sagt, er habe die Verhältniswörter “nicht nach dem Wörterverzeichnis, sondern nach ihrer eigentlichen Kraft” verdeutschen wollen, also nach dem Gewicht, das sie in der jeweiligen Aussage haben.
Ich habe hier nur die Regeln Bengels angeführt, ohne die zahlreichen Beispiele, die er noch dazu setzt. Diese Beispiele sind äußerst wertvoll, aber sie würden den eigentlichen Rahmen dieses Artikels sprengen. Wer aber den ganzen Text lesen will, möge versuchen, die ganze Vorrede zu bekommen. Der Titel des Werkes, aus dem ich diese Ausführungen exzerpiert und kommentiert habe, heißt: “Das Neue Testament übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Johann Albrecht Bengel”, Hänssler-Verlag Neuhausen-Stuttgart 1974. Das Original heißt: “Das Neue Testament, zum Wachstum in der Gnade und der Erkänntniß des Herrn Jesu Christi nach dem revidirten Grundtext übersetzt und mit dienlichen Anmerkungen begleitet von D. Johann Albrecht Bengel.” Stutgart, bey Johann Benedict Metzler. 1753.
Fazit
Bengel ermutigt uns dazu, aufmerksam und genau aus dem Originaltext zu übersetzen. Er grenzt sich dabei einerseits von einer wortwörtlichen, konkordanten Übersetzung ab als auch von einer freien, möglichst leicht lesbaren Übertragung. Bengel ermahnt seine Leser, wortgetreu zu übersetzen, unterschiedliche Worte unterschiedlich zu übersetzen, aber auch den Kontext zu berücksichtigen und die Worte nicht blind zu übersetzen, sondern abzuwägen, wie der Sinn des Textes mit all seinen Nuancen am genauesten und besten in die Übersetzung einfließen kann. Man muss nicht mit allem einig sein, was der große Meister uns vorgemacht hat, aber auf dem Weg zu einer seriösen Übersetzung kommt man auch heute nicht an dem großen Kirchenvater des 18. Jahrhunderts vorbei.
Vielen Dank für diesen sehr guten Beitrag.
Mich interessiert, welche Regeln eingesetzt wberden zum Beispiel für die Psalmen, wo es neben der Predigbarkeit auch um die Singbarkeit geht. In den hebräisierenden Textausgaben von Naphtali Herz Tur Sinai für den Neuen Bund, als auch von Stern im Alten Bund geht es auch darum, dieses Sprachgefühl in´s Deutsche zu dislozieren.
Eine weitere Frage habe ich zur Stuttgarter Jubiläumsbibel mit erläuternden Kommentaren. Inwieweit färben die Bengel´sche Textkritik und die später entwickelte hohe deutsche Textkritik auf diese auch regional durch den Pietismus geprägte Überlieferung in der Übersetzung wie Auslegung ab?
Dritte Frage bzw Anmerkung, ‑weil ich bisher nur mit der alten Libronix Logos Gold edition plus Hänssler´s Kommentaren gearbeitet habe‑, wie lassen sich solche Unterschiede und aber auch Freiheiten in online Lehre auch für englischsprachiges Auditorium am Besten darstellen und präsentieren?
Hallo Uwe,
mein Blogbeitrag fasst wirklich nur das zusammen, was Bengel über die Übersetzung des Neuen Testaments sagt. Über die Wirkungsgeschichte kann ich leider keine Auskunft geben, das wäre ein ganz eigenes Thema. Entschuldige bitte, dass die Antwort von mir erst so spät kommt, ich war längere Zeit krank und hatte danach viel aufzuarbeiten. Herzliche Segenswünsche. Martin