Ein Gastbeitrag von Jimmy Jinkyou Nam.
Als gebürtiger Südkoreaner werde ich immer wieder gefragt, warum ich für mein Theologiestudium ausgerechnet nach Deutschland kam. Meine Antwort lautet nach wie vor: „Ich wollte zunächst theologische Bücher in der Originalsprache lesen können.“ Im deutschsprachigen theologischen Fachbereich gibt es immer noch eine ganze Menge von Werken, die noch nicht in eine andere Sprache (z.B. ins Englische) übersetzt worden sind.
Die deutsche Sprache ist nicht länger die „lingua franca“ der Theologie, aber Deutsch zu können, ist in mancher Hinsicht ein großer Vorteil beim „Theologieren“. Insofern ist es verständlich, dass viele Theologen weiterhin diese „schwierige“ Sprache als eine Zusatzqualifikation der Theologie sehen. Ein Schatz der deutschen Theologie ist zweifelsohne der sog. „Strack-Billerbeck“: Der Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch.
Inhalt
1. Wer waren Hermann Strack und Paul Billerbeck?
Hermann Leberecht Strack (1848–1922) war Alttestamentler und Orientalist an der Universität Berlin. Doch sein Name ist nur deswegen als einer der Verfasser gelistet, weil er es war, der Paul Billerbeck ermutigte, dieses Werk zu schreiben, und es bis zu seiner Veröffentlichung begleitete. Das führt uns zu der Frage, wer dieser Paul Billerbeck war, der alleine dieses monumentale Werk verfasste. Allerdings ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten.
Über Billerbecks Leben ist recht wenig bekannt: Geboren war er 1853 in Neumark im heutigem Polen, wo er ganz in der Nähe 1880–1914 als Landpfarrer wirkte. Er besaß weder einen akademischen Doktorgrad (doch erhielt er die Ehrendoktorwürde von der Universität Greifswald), noch hatte er einen Lehrstuhl inne. Bekannt wurde er überhaupt nur durch seinen Kommentar, den er neben dem Pfarrdienst zwischen 1922 und 1928 veröffentlichte (die Vorarbeiten begann bereits 1906); ein umfangreiches Werk mit mehr als 4,000 Seiten!
Hier müssen wir uns klar machen, was für eine Leistung dies war. Billerbeck lebte ja in einer Zeit lange vor der Erfindung des Computers (d.h. ohne elektronische Suchfunktion). Ihm stand noch nicht einmal ein Katalog oder Themenindex jüdischer Schriften zur Verfügung. Wie war es ihm da überhaupt möglich, solche enormen Kenntnisse zum rabbinischen Schrifttum zu erhalten? Sicher wissen wir es nicht, aber es wird eine von zwei Möglichkeiten gewesen sein: Entweder durch Unterricht, oder aber durch selbstständiges Studium. Letztlich bleibt die Geschichte uns die Antwort schuldig.
2. Aufbau und Gattung des Werkes
Der gesamte „Strack-Billerbeck“ besteht aus insgesamt 6 Bänden in 7 Teilen. Der erste Band mit 1055 Seiten befasst sich nur mit dem Matthäus-Evangelium, der dritte Band mit 867 Seiten behandelt den Stoff vom Markusevangelium bis zur Apostelgeschichte. Im dritten Band handelte Billerbeck den Rest der neutestamentlichen Bücher auf 857 Seiten ab. Nicht in der Logos-Edition enthalten sind die übrigen Bände: der anschließende vierte Band in zwei Teilbänden ergänzt 33 Exkurse auf 1323 Seiten. Die letzten beiden Bände, später von Joachim Jeremias herausgegeben, beinhalten mehrere Register zu den Rabbinen und zu den erwähnten Ortsangaben, die in einer digitalen Ausgabe jedoch entbehrlich sind.
Streng genommen ist der Billerbeck´sche Kommentar kein Kommentar im üblichen Sinn. Er legt die neutestamentlichen Schriften nicht aus, sondern bietet zu den relevanten Wörtern, Wendungen und Stellen – dem eigenen theologischen Gespür folgend – relevante Texte aus rabbinischen Schriften an. Darüber hinaus werden gelegentlich auch alttestamentliche Apokryphen, Pseudepigraphen oder antike jüdische Schriftsteller wie Flavius Josephus und Philo von Alexandria zitiert. Das heißt, der „Strack-Billerbeck“ ist eher eine enzyklopädische Quellensammlung.
3. Eine Erfolgsgeschichte
Mittlerweile ist das Werk über 90 Jahre alt. Dennoch ist der Name „Strack-Billerbeck” noch als Referenz in vielen international renommierten Kommentaren zu finden. Er gilt quasi als ein echter Klassiker! Diese lange Erfolgsgeschichte ist v.a. darauf zurückzuführen, dass der Kommentar es dem Leser ermöglicht, diese „jüdische Fremdwelt“ „bequem“ kennen zu lernen (vgl. Vorwort).
In den letzten Jahrzehnten ist es für Theologen (und nicht nur für sie) immer wichtiger geworden, über Kenntnisse aus der Umwelt des Neuen Testaments zu verfügen. Um die neutestamentlichen Schriften besser zu verstehen, werden heutzutage gerne Fakten aus der Lebens‑, Sprach- und Gedankenwelt der Zeit Jesu und der Apostel in Betrachtung gezogen. Bei derartigen Nachforschungen war und ist der Strack-Billerbeck immer wieder „ein Balsam für die durstige Seele“.
Nach wie vor bleibt der Strack-Billerbeck als eine Fundgrube:
In Lk 15,11ff. geht es um den verlorenen Sohn. In v.17 steht: „Da ging er in sich…“. Was bedeutet das? Dazu bietet Billerbeck vier relevante Texte an, in denen es überwiegend um Buße oder Umkehr geht. Sicher ist es noch zu klären, ob der Text mit diesem Ausdruck auf seine bußfertige Haltung hinweisen wollte, aber die Tatsache ist die, dass dieser Ausdruck „da ging er in sich“ der Wendepunkt dieser Erzählung ist. Auch moderne Ausleger wie Marshall oder Nolland nehmen hier auf den Strack-Billerbeck Bezug.
Zu Mt 4,13 erwähnt der Strack-Billerbeck in Bezug auf „Kapernaum“ eine sehr interessante zeitgenössische Anekdote aus dieser Stadt:
Ein Brudersohn (d.h. der Neffe) von Rabban Jehoschuas (um 110) soll an einem Sabbat auf einem Esel geritten sein. Durch den Einfluss von Judenchristen im Ort (im Text: “Häretiker”) war er offensichtlich zum Christentum übergetreten (im Text heißt es, “sie taten ihm etwas an”. Billerbeck meint, es sei hier die Taufe gemeint). Deswegen schickte R. Jehoschuas ihn nach Babylonien. Dort wurde er ein angesehener Gesetzeslehrer.
Aufgrund diese Anekdote dürfen wir vermuten, dass es in Kapernaum, von wo aus Jesus gewirkt hatte und wo sich auch das Haus des Petrus befand, am Ende des 1. Jahrhunderts und Anfang des 2. Jahrhunderts scheinbar mehrere Judenchristen bzw. judenchristliche Familien gegeben haben muss, die andere Juden christlich prägten bzw. missionierten.
Der Strack-Billerbeck ist nicht nur einzeln, sondern auch als Teil des Logos-Basispakets Logos 7 Gold erhältlich. Logos 7 Gold ist ein marktführendes Bibelprogramm, das neben exegetischen Werkzeugen und Datenbanken auch eine große theologische Bibliothek enthält. Für Liebhaber des Frühjudentums sind unter anderem auch Texte von Philo, Josephus sowie Targume und Qumran-Handschriften enthalten.
4. Schwächen des Strack-Billerbeck
Solche Interessante Stellen findet man aber nicht immer. Obwohl Paul Billerbeck die jüdischen Schriften „bequem“ zugänglich machen wollte (vgl. Vorwort), ist sein Werk manchmal lesestofflastig. Manchmal weiß man nicht recht, was man mit den angebotenen Texten anfangen soll. So kann die Menge an Lesestoff eine gewisse Überforderung bewirken. Hier ist teils ein bewusstes „selektives Lesen“ vonnöten.
Nicht nur hinsichtlich der Menge an Informationen, sondern auch inhaltlich fallen gelegentliche Schwächen auf. Billerbeck war ein „Jäger und Sammler“ der jüdischen Schriften. So trägt das Werk mitunter Züge, die typisch für Arbeiten sind, wo umfangreiche redaktionelle Arbeit von einer einzigen Person vorgenommen wird.
Billerbeck wählte seine Texte nach eigenen Vorlieben aus, wobei er naturgemäß seine eigenen theologischen Vorstellungen zugrunde legte. Der Strack-Billerbeck als enzyklopädische Quellensammlung ist durch die subjektive Brille Paul Billerbecks entstanden, eines fähigen Gelehrten, der aber auch ein Kind des vorletzten Jahrhunderts war. Manche zitierten Stellen werden von ihrem Kontext losgelöst verwendet. Es ist also hilfreich, wenn man beim Lesen selbst auf den Zusammenhang des jüdischen Textes achtet.
Auch die Standards des wissenschaftlichen Arbeitens hält Billerbeck nicht immer perfekt aufrecht: Jede angeführte Aussage oder Anekdote aus den rabbinischen Schriften wird im Strack-Billerbeck in der Regel einer Person namentlich zugeordnet. Doch letztendlich gibt es keine Sicherheit, dass die Aussage auch tatsächlich auf diese Person zurückgeht. Das hätte man vielleicht klarer betonen können.
Neben den Personennamen wird darüber hinaus in der Regel auch eine Datierung bzw. ein Todesjahr angegeben. Aber es gibt keine sicheren Anhaltspunkte, die diese Datierung historisch belegen können. D.h. diese Datierung des rabbinischen Textmaterials sollte immer nur als Orientierungshilfe herangezogen werden!
Wir wollen durch die Erkenntnisse aus der Umwelt des Frühjudentums das NT besser verstehen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit wir eine Kontinuität zwischen dem Judentum aus der Zeit des NT und dem rabbinischen Schrifttum (v.a. der Quellendarbietung bei Billerbeck) sehen dürfen und wo eine Diskontinuität. Inwieweit spiegelt sich das neutestamentliche Judentum noch im rabbinischen Schrifttum wider? Dabei müssen wir uns bewusst machen, dass der Rabbinismus auf alle Fälle aus der pharisäischen Prägung stammte (!).
Aus solchen Gründen hat die Darstellung jüdischer Glaubensvorstellungen im Strack-Billerbeck in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder harte Kritik erfahren, z.B. durch E.P. Sanders (Paul and Palestinian Judaism, 42ff.). Aber letztendlich haben solche Kritiken uns weitergebracht und zu einem besseren und ausgewogeneren Verständnis der Schrift geführt. So versuchte z.B. der früh verstorbene Marburger Theologe Friedrich Avemarie, eine Balance zwischen Billerbeck und Sanders zu finden (Erwählung und Vergeltung, NTS, 45, 108–126).
5. Fazit
So stellen wir fest: Der Strack-Billerbeck ist ein absoluter Klassiker, weist dabei jedoch auch einige Schwächen und methodische Probleme auf. Sollten wir diesen Schatz also aus dem Bücherregal verbannen? Nein, keineswegs! Denn es gibt (noch) kein besseres Werk! Verwendet man dieses Kommentar also in einer Weise, dass man sich auch seiner Schwächen bewusst ist, dann ist der Strack-Billerbeck weiterhin ein Schatz und eine Fundgrube.
Billerbecks magnum opus, an das sich in den letzten 90 Jahren nicht ein Übersetzer gewagt hat, wird nun endlich von Faithlife ins Englische übersetzt (die englische Version lässt sich hier vorbestellen). Jeder Interessierte, der des Deutschen nicht mächtig ist, darf auf den englischen Strack-Billerbeck gespannt sein.
Wünschenswert wäre es, dass diese Logos-Ausgabe des Billerbeckschen Kommentars eine positive Echo findet, so dass auch der vierte Band mit 33 Exkursen in baldiger Zukunft elektronisch veröffentlicht werden kann.
Über den Autor: Jimmy Jinkyou Nam ist Pastor der Liebenzeller Gemeinde Stuttgart.
Der Strack-Billerbeck findet sich unter anderem in Logos 7 Gold (deutsch). Jetzt vorbestellbar ist zudem ein weiteres deutsches Werk zu Paulusforschung und jüdischer Theologie:
Der Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch (Strack-Billerbeck, 3 Bde.) |
Rechtfertigung bei Paulus: Eine Kritik alter und neuer Paulusperspektiven |
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Rudolf Johannes Josef Paul Billerbeck
Urenkel von Paul Billerbeck